Die Menschen im Osten haben nie richtig gelernt zu kämpfen.

Ein Gespräch mit Inge Viett
(Aus telegraph #1 _ 1998)

Inge Viett war Protagonistin des bewaffneten Kampfes gegen die BRD. Nachdem sie sich 1968 in der APO politisierte, entschied sie sich, die kapitalistischen Verhältnisse und die postfaschistischen Strukturen der BRD, zuerst in der Bewegung 2. Juni und später in der RAF, bewaffnet zu bekämpfen. Sie emigrierte Anfang der 80er Jahre in die DDR, weil sie in ihrem bisherigen Kampf keine Perspektive mehr sah. Hier stellte sie, gerade vor den Erfahrungen des realen Kapitalismus fest, wie selbstbewußt und angstfrei sich die Menschen in der Produktion und im Alltag bewegten. Trotz vielfältiger Kritik an den verkrusteten Strukturen in der DDR hat sie praktisch erfahren, wie die Aufhebung von Privateigentum und die Gewährleistung von Existenzsicherheit sich positiv auf die Beziehungen zwischen den Menschen auswirkte. Sie lernte auch, daß den größten Teil ihrer Kollegen und Mitbürger eine Haß-Liebe mit der DDR verband und sich viele nicht unmittelbar über die Vorteile des Systems im Klaren waren, sie aber selbstverständlich nutzen.

Der telegraph hat mit ihr – als Westdeutsche und als Linke – über Alltagserfahrungen in der DDR und die Rückkehr nach Magdeburg gesprochen, sich über linke Positionen zu Geheimdiensten gestritten und Perspektiven für eine soziale Bewegung im Osten erfragt.

telegraph: Warum bist Du als Einzige der RAF-„DDR-Aussteiger“ nach der Haft in den Osten zurückgekehrt?

Inge Viett:  Mich interessierte wie es heute hier aussieht und auch aus persönlichen Gründen. Die Anderen hielten wohl sowieso nie viel von der DDR.

telegraph: Was für ein DDR-Bild hattet Ihr denn bevor Ihr selbst dort gelebt habt?

Inge Viett: Während meiner Zeit im Untergrund war die Auseinandersetzung mit der DDR kein Thema. Darüber hat es keine Diskussionen gegeben.

telegraph: Hatte zum Beispiel der Prager Frühling ’68 oder Leute, die aus dem Osten kamen, wie Rudi Dutschke, Bommie Baumann, Jan Raspe oder Ulrike Meinhof keinen Einfluß auf Euer DDR-Bild?

Inge Viett: Rudi Dutschke ist für die Bewegung nicht deshalb wichtig gewesen, weil er aus der DDR gekommen ist, sondern weil er gerade aus den Verhältnissen, in denen wir alle gesteckt haben, heraus militant geworden ist. Die Tatsache, daß er das, was im Osten lief nicht für Sozialismus hielt, war für uns nicht der Punkt, es war nicht wichtig für uns, auch wenn Euch das merkwürdig erscheint. Für mich hat die DDR immer dann eine Rolle gespielt, wenn es konkrete Berührungspunkte gab. Das ich da keine ideologische Prägung hatte, empfinde ich als sehr positiv. Dadurch konnte ich frei an alles herangehen. Das hat mir dann die Sache ziemlich erleichtert. In der ersten Zeit, als ich selber noch aktiv war und offizielle Kontakte zur DDR hatte, war mein Blick viel stäker auf die staatliche Politik gerichtet. Denn das war meine konkrete Berührung mit der DDR. Als ich dann aber selbst drüben war, da war diese Seite gar nicht mehr wichtig für mich, dort sind ganz andere Dinge auf mich zugekommen und mein Blick und mein Interesse veränderte sich. Da hatte ich es mit den Leuten und den täglichen Strukturen zu tun.

telegraph: Welches Verhältnis hattet Ihr zu den traditionellen kommunistischen Bewegungen, zum Beispiel zur DKP? Die war doch die „Vertreterin“ des Realsozialismus im Westen.

Inge Viett: Das war etwas ganz anderes, als das was wir wollten. Der DKP ging es darum, als die netten Kommunisten angesehen zu werden und von den Herrschenden akzeptiert zu werden. Aus dieser Haltung heraus haben sie uns ideologisch bekämpft und denunziert. Sie bezeichneten uns als „wildgewordene Kleinbürger“. Wir haben unsererseits ihre Linie immer und immer wieder in Frage gestellt, ihren Legalismus und ihre Partizipation an dem Koexistenzprinzip der sozialistischen Länder. Als wir uns entschieden hatten, den bewaffneten Kampf zu führen, ging es darum, ihn zu organisieren und zu praktizieren – die Diskussionen und Auseinandersetzungen mit den anderen Teilen der Linken waren vorher gelaufen. Wir haben uns für die Sache entschieden, wie auch immer die DKP dazu gestanden hat. An der Stelle haben wir keine theoretischen Auseinandersetzungen mehr geführt.

Den klassischen, kommunistischen Weg der Organisierung – über eine Avantgardepartei – hielten wir für gescheitert. Außerdem war die Arbeiterbewegung, die niemals stärker war als vor ’33, nicht in der Lage gewesen, den Faschismus aufzuhalten. Wir haben uns gefragt, warum eine Partei, die Hunderttausende hinter sich hatte, viele davon unter Waffen, nicht fähig war, eine Partisanenbewegung gegen den Faschismus aufzubauen. Für uns war das natürlich ein Ergebnis der legalistischen Strategie der kommunistischen Partei.

Wir lehnten die Linken, die ’68 wieder anfingen, nach dem selben Muster Parteien aufzubauen – deren Strategien gescheitert waren – einfach ab. Wir dachten: in der Bundesrepublik, wo die Arbeiterklasse so eine große Erfahrung – im wesentlichen eine Erfahrung der Niederlagen – hat, muß eine völlig neue Methode und ein völlig neuer Ausdruck von Klassenkampf entstehen. Und das waren wir.

telegraph: Habt Ihr in den 70ern, im Untergrund, wahrgenommen, wie man Kommunisten in der DDR behandelt hat? Etwa Havemann, Bahro oder Biermann, der zum Zeitpunkt seiner Ausbürgerung noch Kommunist war. Und wie hat das auf Euch gewirkt?

Inge Viett: Ich glaub nicht, daß Biermann damals Kommunist war. Deshalb nicht, weil das keine Sache ist, wo man sagt, man ist Kommunist und irgendwann ist man’s halt nicht mehr. Das gibt es nicht.

Wir haben natürlich das ganze Dissidentenproblem gesehen. Daß da was nicht läuft, war uns klar. Aber wir sahen auch: was läuft bei uns, wie geht die Bundesrepublik mit ihren Oppositionellen und Gegnern um. Dieses war für uns entscheidend. Wir lebten doch immer im Gegenstück zur DDR, deshalb relativierte sich für uns, was dort passierte. Daß sie die Leute aus der DDR rausgeschmissen haben, konnten wir nicht schlimm oder verwerflich finden. Es hat für uns damals keine so große Bedeutung gehabt.

telegraph: Der Ostblock hatte ja ein sehr ambivalentes Verhältnis zum bewaffneten Kampf. So hält sich etwa das Gerücht, daß das DDR-Außenministerium dafür gesorgt haben soll, daß sich die „Landshut“ nicht in Aden aufhalten, das palästinensische Entführungskomando nicht aufgefrischt werden durfte und dadurch die Landung in Mogadischu erst notwendig wurde. Oder aber auch, die Episode, wie man mit Euch in Bulgarien umgegangen ist. Das BKA durfte damals vier Leute aus Eurer Gruppe auf bulgarischem Territorium verhaften und in die BRD „ausführen“. Kamen da nicht manchmal Zweifel bei Euch auf, was z.B. die Zusammenarbeit mit den „sozialitischen“ Geheimdiensten betraf?

Inge Viett: Doch sicher. Für uns war immer klar, daß das sozialistische Lager – auch die DDR – die Antiterrorismuskonvention unterschrieben hatte und daß sie in diesem Punkt eine bestimmte Politik verfolgte, um den Westen zu befriedigen. Aber wir machten auch ganz andere Erfahrungen. Wir reisten ständig durch die DDR, sie wußten davon und ließen uns gewähren. Es gab also die offizielle Politik und den konkreten Umgang mit uns, der völlig anders lief.

Darüber hinaus wußten wir, daß es verschiedene Linien und Widersprüche im sozialistischen Lager gab. Bulgarien hat das ganz besonders gezeigt. Deren Entscheidung war sehr umstritten und wurde von den anderen sozialistischen Staaten abgelehnt. Trotz dieser Widersprüche, war unsere Einschätzung der DDR-Politik in Beziehung auf uns positiv. Das heißt, wir fürchteten keinen Verrat.

telegraph: Könntest Du mal Dein Verhältnis zum MfS schildern. War es eher taktisch oder durch Überzeugung bestimmt? Wie kommst Du als Linke dazu, mit einem Geheimdienst zusammen zu arbeiten, auch wenn es ein „sozialistischer“ war?

Inge Viett: Zur ersten Frage: Wir haben ja auf dem Boden der Realität gekämpft, in politischen Verhältnissen, in denen die Geheimdienste immer ein Teil waren, auf jeder Seite. Das gehörte doch zu den Kräfteverhältnissen, mit denen wir es zu tun hatten. In unserem bewaffneten Kampf sind wir von allen Geheimdiensten der Welt bekämpft worden. Das war keine Tabuzone für uns.

Wir haben jahrelang ihre Strategien studiert und wußten natürlich, wie Politik gemacht wird, darum war doch der DDR-Geheimdienst für uns nichts Unbekanntes und schon gar kein Tabu. Er war für uns erstmal der Geheimdienst des sozialistischen Lagers, von dem grundsätzlich erstmal keine Gefahr ausging. Von daher war er bis zu meinen ersten Kontakten zwar unberechenbar, aber nicht gefährlich für uns. Wir machten mit dem MfS Erfahrungen, die uns klar machten, das uns von deren Seite nichts passieren würde. Das war schon mal positiv. Wir haben nicht grundsätzlich ihre Rolle moralisiert oder in Frage gestellt, dazu hatten wir doch überhaupt gar keinen Grund. Die Möglichkeit der Instrumentalisierung sahen wir natürlich, jedoch nicht als Gefahr. Darüber
diskutierten wir auch. Aber wir sahen es als legitimes Interesse der anderen Seite an, zu versuchen, uns zu kontrollieren und ihre Finger reinzukriegen in unsere Arbeit. Das wollten wir natürlich nicht. Wir haben das auch gesagt. Daß sie es trotzdem versuchten, war auch klar. Wir hatten gar kein Interesse daran, mit dem DDR-Geheimdienst so eng zusammen zu arbeiten, daß sie uns bestimmen konnten. Wir haben unsere Interessen und Ziele abgesteckt und wir wußten, sie stecken ihre Interessen ab. Es war ein ganz pragmatisches, nutzbringendes Verhältnis. Darüber hinaus gab es auch noch eine andere Sicherheit, nämlich daß es ein sozialistischer Geheimdienst war und das ist schon etwas Anderes. Es gab ein Grundverständnis vom gemeinsamen Gegner, es gab ein Grundverständnis von der Notwendigkeit, den Imperialismus zu bekämpfen.

telegraph: Harry Dahl, der damalige Chef der Terrorabwehr des MfS, hat im Februar `97 vor Gericht zu seiner Verteidigung gesagt, daß er nicht dafür verurteilt werden kann, daß er als Verantwortlicher für die Aufnahme von 10 RAF-Leuten in der DDR quasi, dafür gesorgt hat, daß „die
Bundesrepublik von terroristischen Handlungen verschont“ blieb. Seid Ihr davon ausgegangen, daß diese Aktion „Heldenklau“ in Absprache zwischen den beiden deutschen Regierungen gelaufen ist?

Inge Viett: Davon sind wir sowieso nicht ausgegangen, daß es Zusammenarbeit oder Absprachen auf höchster Ebene gab. Davon gehe ich auch heute nicht aus. Soweit ist unsere Einschätzung nicht gegangen. Wir gingen immer davon aus, daß sie uns gerne kontrollieren und vielleicht auch für bestimmte Sachen instrumentalisieren wollten. Das haben wir aber nie zugelassen, was sie dann auch akzeptiert haben. Was Harry Dahl in diesem Prozeß ausgesagt hat, war meines Erachtens ein `Sich-dem-Gegner-andienen‘, wenn man besiegt ist. Alle haben da einen Kotau gemacht, weil sie aus dem Prozeß raus wollten, und das haben sie dann über uns gemacht.

telegraph: Von Westlinken wird Dir vorgeworfen, Du hättest die MfSler verraten, um früher raus zu kommen. Wie denkst Du über eine solche Kritik? Und meinst Du, man kann einen Geheimdienst verraten?

Inge Viett: So stellt sich die Frage nicht für mich, erstens habe ich sie nicht verraten und zum zweiten hätte ich es auch nicht gemacht. Für mich sind es eben nicht nur Geheimdienste, denn so abstrakt kann ich da nicht rangehen, dahinter haben auch Menschen gesteckt, die ich kannte, mit denen ich auch bestimmte Beziehungen eingegangen bin über die Jahre. Abstrakt kann man nur über etwas reden, wenn man nicht selber an der Sache dran ist.

Als der sozialistische Geheimdienst besiegt war, haben sich viele dem Gegner sofort ergeben und angedient, auch die Leute, mit denen ich zu tun hatte, mit
denen wir damals die Ausbildung gemacht hatten und denen später. Sie haben die Akten gefüllt. Sie haben praktisch alles dargelegt, jeder ein bißchen in seiner Version, um besser raus zu kommen. Aber o.k.. Mit diesen ganzen Akten ist dann das BKA zu mir gekommen. Für sie ging es nur darum, wann die Ausbildung war. Ich war erstmal total sauer, ich dachte: das kann doch wohl nicht wahr sein, sie haben die Akten vollgeredet, über alles. Aber es war ein Widerspruch entstanden: wann war die Ausbildung in der DDR? Ich war total sauer und habe gesagt: natürlich haben wir die Ausbildung gemacht, das steht ja schon alles in den Akten drin. Nach meiner Erinnerung `81. Ich war die Einzige, die als Beteiligte von der RAF, was ausgesagt hat. Daher war es so gravierend, daß ich gesagt habe, ja wir haben die Ausbildung 1981 da gemacht, obwohl das schon alles bis ins Detail bekannt war. Auf meine Aussage hin hat das BKA Haftbefehle für die vier Offiziere ausgestellt. Aber es ist niemand verurteilt worden.

Später habe ich mir gesagt, egal was die ehemaligen Offiziere jetzt selber für eine Haltung eingenommen haben, du hättest da nicht mit aufsteigen sollen und gar nichts dazu sagen sollen. Ich konnte aber keinen Rückzieher mehr machen, denn dann wäre ich unglaubwürdig für meinen ganzen Prozeß geworden. Und mein Prozeß war ein Mordprozeß. Den habe ich juristisch geführt, und es kam darauf an, daß meine Darstellung der Angelegenheit in Paris glaubwürdig bleibt. Also bin ich bei meiner Aussage geblieben, daß die Ausbildung, nach meiner Erinnerung, `81 war. Und diesen Punkt, werfen mir diese political correctnes-Linken vor, was ganz lächerlich ist. Es ist auch infam, weil diese Kritik sich überhaupt nicht mit meiner Situation, in der ich gesteckt habe, auseinandergesetzt hat. Sie gingen nur davon aus, daß man als Politische nichts sagt. Das ist aber Quatsch, weil ich in einer Situation war, da konnte ich nur den juristischen Prozeß führen. Politisch konnte ich ihn nicht führen. Dazu war ich nicht in der Lage. Es war 1990. In dieser Situation, mit nichts im Rücken, weder der DDR noch irgendwen, schon verkauft von der Stasi, von den Linken abgestoßen, konnte ich mich nur auf das, was ich jetzt mache beziehen. Deshalb habe ich den Prozeß so durchgezogen, und dafür kann ich stehen. Ihr kennt ja sicher das Viehmannpapier, dies und die ganze Diskussion in diese Richtung ist einfach eine Politik, die meine Integrität untergraben soll. Diese Angriffe kommen aus einer politischen Ecke, die einfach nicht aufhören kann mit der Machtpolitik, von Selektion und Ausgrenzung, wie wir sie früher betrieben haben. Ich geh da nicht mehr mit. Ich kann mit diesen Strukturen nichts mehr anfangen, die sich nur noch halten, weil sie auf sich selbst bezogen sind.

Zum zweiten, was ist das für eine Frage, kann man einen Geheimdienst verraten?

telegraph: Weil ein Geheimdienst aus Verrat besteht und davon lebt. Der Geheimdienst ist eine Bürokratie, immer im Dienste der jeweils Herrschenden, selbst wenn dort ein Offizier besonders in Ordnung ist oder besonders menschlich erscheint, sagt es noch lange nichts darüber, was mit Deinen Informationen, die schriftlich abgelegt werden, letztendlich passiert. Ich meine das vor allem vor dem Hintergrund der Geschichte des Stalinismus, der bekanntlich viele Revolutionäre verraten hat. Das hätte Euch auch passieren können.

Inge Viett:Vielleicht hätte es sein können, aber die Geschichte kennt kein „hätte“, zum einen, zum anderen kann man seine Entscheidungen immer nur aus der Einschätzung, die man hat, treffen. Da kann man nicht noch ganz theoretisch abstrakte Eventualitäten, die auch passieren könnten, mit einbeziehen, weil man dann nie eine Entscheidung treffen kann. Meine Einschätzung war damals nicht so, und das es so ein `89 gibt, „war nicht geplant“.

telegraph: Du hast Dich freiwillig für die DDR entschieden, warum? Es gab sicher auch eine Alternative, etwa den arabischen Raum.

Inge Viett: Was heißt freiwillig? Natürlich hab ich mich irgendwann entschieden. In diesem Sinne ist das dann auch freiwillig. Aber an Alternativen gab es so viel nicht für mich. Ich hab es mir natürlich überlegt, ob ich in den Nahen Osten gehe und bei den Palästinensern bleibe. Das hab ich auch probiert, aber es hat sich für mich als nicht möglich erwiesen. Zum einen weil die Strukturen dort viel zu patriarchalisch sind und weil ich zum anderen in diesen Strukturen nicht wieder selbständig geworden wäre. Solch ein Leben konnte ich mir nicht wieder vorstellen. Und einfach irgendwohin in ein Land ins Exil gehen, um nichts mehr zu machen, daß konnte ich mir auch nicht vorstellen. Daher war die DDR für mich die letzte Alternative und auch die Beste. Da war zumindest denkbar, daß ich gesellschaftlich wieder tätig werden kann. Außerdem würde ich auch die ganzen Probleme mit der Sprache nicht haben.

telegraph: Du sagtest, in Deiner aktiven Zeit hattest Du mit der Staatlichkeit der DDR zu tun, und erst als Du dort warst, konntest Du die Alltäglichkeiten und die Gesellschaft erleben. War das eine „Erlösung“ von Deiner Isoliertheit im Untergrund?

Inge Viett: Ich sah das erstmal nicht als Gegensatz. Aber angesichts dieser Gesellschaft, in der ich jetzt lebte und deren politischer und sozialer Probleme, sah ich allmählich meinen Kampf, den ich vorher innerhalb der internen Strukturen und der illegalen Politik geführt hatte, als sehr isoliert und reduziert an. Durch diese Einsicht hat sich die Ausschließlichkeit, die ich dem bewaffneten Kampf als revolutionäre Methode zugedacht hatte, enorm relativiert. Das was dort in der DDR lief, hatte – wie bei uns – den selben Anspruch: die alten Strukturen, den Kapitalismus niederzuringen und etwas Neues aufzubauen. Diesen Anspruch, der dort proklamiert wurde, zu verwirklichen, war ein ständiger Kampf, selbst wenn sich die Menschen dessen nicht bewußt waren. Dieses tägliche Ringen innerhalb der DDR-Gesellschaft, habe ich natürlich verglichen mit dem, was wir gemacht haben und kam zu dem Schluß, daß wir sehr verkürzt und borniert auf das sahen, was wir machten.

telegraph: Setzt Deiner Meinung nach das Ringen um eine gesellschaftliche Alternative eine sozialistische Staatlichkeit voraus?

Inge Viett: Die soziale Frage haben wir in unserem bewaffneten Kampf völlig außen vor gelassen. Wenn die ökonomischen Grundlagen einer Gesellschaft in einem radikalen Kampf, wie wir ihn geführt haben, nicht aufgebrochen werden, kann daraus nichts werden. Von daher war unser Kampf nicht die richtige Antwort, weil es keine gleichzeitige Infragestellung der ökonomischen Basisstrukturen, der kapitalistischen Produktionsweise durch die Arbeiterklasse in den Betrieben gab. Denn ohne das Ziel der Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln ist ein solcher Kampf aussichtslos. Diese Frage ist von uns objektiv nicht berührt worden, auch wenn wir theoretisch darüber geredet haben. Die Arbeiter hätten einen solchen Prozeß vorantreiben müssen. Aber ihre Position oder das System grundsätzlich in Frage zu stellen, davon konnte bei ihnen gar keine Rede sein. Wenn die Produktionsverhältnisse von den Arbeitern nicht in Frage gestellt werden, können wir uns in der Guerilla abrackern wie wir wollen und das haben wir gemacht. Dagegen war die ökonomische Basis in der DDR verändert und stellte eine entschiedene Position gegen den Kapitalismus dar. Ebenso wie in Kuba, wo die Guerilla nur deshalb erfolgreich sein konnte, weil sie den Umsturz der ökonomischen Verhältnisse sofort in Angriff genommen und immer auf der Tagesordnung hatte.

telegraph: Haben die Menschen in der DDR diese Tatsache auch so empfunden?

Inge Viett: Ja natürlich. Aber sie haben das Bewußtsein dazu überhaupt nicht gehabt.

telegraph: Heißt das, diese historische Dimension, die Du beschreibst, konntest Du nur vor dem Hintergrund Deiner realen BRD-Erfahrung machen?

Inge Viett: Ja, ich hatte eine ganz andere Politisierung. Ich hatte mich viel mehr als die meisten DDR-Bürger mit dem Imperialismus und überhaupt mit dem ganzen kapitalistischen System beschäftigt. In der DDR hat das niemand mehr getan. Die Menschen hier haben nicht mehr gewußt, wogegen sie wirklich kämpfen, auch nicht die Politiker. Das hatte ich ihnen natürlich voraus. Die meisten Leute in der DDR, haben ihre historisch neue Qualität, im wesentlichen politisch unbewußt gelebt. Ihr politisches oder gesellschaftliches Bewußtsein beschränkte sich auf die Erfüllung des Planes, auf ihre gesellschaftliche oder ihre Parteiarbeit. Diese nahmen sie teilweise intensiv wahr, aber darüber ging ihr politisches Bewußtsein oft nicht hinaus, deshalb ist natürlich auch vieles so schnell „den Bach runter gegangen“.

 

telegraph: Hat Ralf Friedrich, auch ein RAF-Aussteiger, der nach Schwedt kam, Recht wenn er seinen Alltag dort als „Spießertum pur“ beschreibt?

Inge Viett: Ich kann solche Begriffe wie Spießertum überhaupt nicht benutzen. Ich hab das schon mal definiert, aber es ist genauso abstrakt, wenn ich sage, die ganze Ästhetik, die Art zu Leben und die Formen in der DDR waren irgendwo bei der Arbeiterbewegung 1925/30 hängengeblieben. Aber was heißt das: „Spießertum“? Es ist überhaupt nicht bedeutsam, wenn ich in eine Schrankwandwohnung komme und dort auf GenossInnen treffe, die wirklich was drauf haben und ich merke da läuft noch was. Dann ist es vollkommen unwichtig, in welcher Wohnung sie sitzen. Selbst wenn dieser enge Geist noch dazu kommt und eine absolute Lustlosigkeit gegenüber dem Leben, dem Alltag oder dem Gestalten des eigenen Lebens herrscht, dann würde ich es auch nicht als Spießigkeit betrachten. Wenn ich zum Beispiel in so’ne Müslikommune komme, das ist dort auch eine unglaubliche „Spießigkeit“. Das ist nur `ne andere „Spießigkeit“. Das was da in der DDR sehr verbreitet war, ist ein konservatives Denken gewesen, das Schiß hatte vor jeder neuen Sache.

telegraph: Das ist doch der Tod...

Inge Viett: Das ist natürlich der Tod. Eins der schlimmsten Dinge, die die DDR getan hat, war, daß sie ihrer Jugend überhaupt keine Chance zum Aufbruch gegeben hat. Sie hat alle Innovationen und Kreativität, die im Sozialismus hätte erarbeitet werden können, abgewürgt. Die alten Leute in der Regierung und die erste Generation, die die DDR aufgebaut haben, lebten alle noch von ihrem eigenen, Aufbruch. Es ging ihnen darum, etwas ganz neues zu schaffen. Das muß schon gut gewesen sein für die Alten, die damals jung waren und neu angefangen haben. Aber sie haben daran festgehalten, bis zum Untergang und haben der nächsten Generation überhaupt gar keine Chance gelassen, etwas neues daraus zu entwickeln, daran ist die DDR auch krepiert.

telegraph: Warum beschreibst Du in Deinem Buch trotzdem vor allem positive Alltagserfahrungen?

Inge Viett: Ich habe damals fühlbar wahrgenommen, daß die Leute streßfrei miteinander umgegangen sind, viel gelassener miteinander gearbeitet haben und vielmehr aufeinander bezogen waren, als ich es aus den früheren Arbeitsverhältnissen im Westen kannte. Diesen angstfreien und offenen Umgang miteinander habe ich als eine Folge der Ausschaltung der Konkurrenz angesehen. Denn keiner mußte sich abgrenzen oder gegen jemand anderen kämpfen, um seine Existenz zu sichern oder um seinen Arbeitsplatz zu behalten. Der andere war nicht der Gegner oder Konkurrent, an den ich vielleicht meinen Arbeitsplatz abgeben mußte oder dem ich gegenüber eine bessere Leistung beweisen mußte, wie dies im Kapitalismus üblich ist.

Ich kannte das vorher nicht, wie die Leute miteinander umgegangen sind, miteinander geredet oder ihre Arbeit gemeinsam organisiert haben. Die Leute wußten fast alles voneinander, sie kannten deren Familien und sie hatten Zugang zu deren Lebenskreisen. Die Leute waren sich nah, denn Lebens- und Arbeitssphären waren
miteinander verbunden.

Dort, wo ich gearbeitet habe, sah ich so etwas wie Konkurrenz oder Karrierestreben nicht. Um eine Karriere mußte niemand kämpfen. Wenn man seine Schule, seinen Meister oder sein Studium gemacht hat, dann lief die Karriere. Selbst das Karrieredenken Einzelner, was es natürlich gab, hat dieses sich gegen niemand gewendet.

telegraph: Du sprichst von zwei wesentlichen Alltagserfahrungen, einerseits von der „tendenziellen Aufhebung gesellschaftlicher Hierarchien“ und andererseits vom „Schlendrian auf der untersten Produktionsebene“. Könntest Du das näher erklären?

Inge Viett: „Schlendrian“ kann man natürlich sagen, wenn man in Begriffen von Effektivität und Effizienz denkt, auch wenn man die Auswirkung auf die gesamte Produktion sieht, das ist aber eine andere Diskussion. Diese Freiheit, wie sie unter den Leuten geherrscht hat, dieses Miteinander und dieses Aufgehobensein im Kollektiv, hat natürlich auch sehr viel an Verantwortungslosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Verpflichtungen mit sich gebracht. Es war eben egal, wie sie ihre Arbeit geschafft haben. Es gab niemals existentielle Konsequenzen. Obwohl, ich habe in Dresden auch etwas sehr interessantes festgestellt, daß nämlich die Arbeit für die Leute doch einen gewissen moralischen Wert hatte. Wenn man z.B. jemandem eine schlechte Arbeit nachsagte, jedenfalls war das bei uns so, dann war der auch unten durch. Andererseits konnte jemand wochenlang jeden Tag zu spät kommen, wenn er dennoch seine Arbeit gut gemacht hat und die Leute sonst nicht hängen gelassen hat, dann haben eigentlich alle darüber hinweggesehen. Darüber hinaus lief über die Arbeit eine Art moralische Beurteilung des Individuums. So habe ich es jedenfalls in Dresden empfunden. Was wir zusammen gemacht haben, wurde von allen als kollektive Aufgabe gesehen. Es ging darum, daß nicht einer sein Ding alleine machte und der Rest ihm egal war, wenn er es geschafft hatte. Es war vielmehr erst gelaufen, wenn wir alle sozusagen unseren „Plan erfüllt“ hatten.

telegraph: Du hast auch geschrieben: wenn die Leute in der DDR die erste Welle der kapitalistischen Realität erfahren haben, dann werden sich die Erinnerungen wieder regen, und sie werden die Dinge als „Sozialismus“ identifizieren, die dort besser gewesen sind. Hat dieser Prozeß schon begonnen?

Inge Viett: Das weiß ich nicht genau, die Faschos heute im Osten z.B. sind alle so um die 14 bis 20. Sie haben ihre Kindheit in der DDR verbracht. Die meisten kennen demzufolge die DDR gar nicht mehr. Sie kennen nur den Rotz der darüber verbreitet wird. Dagegen die Generation der 25- bis 35jährigen sehen die DDR-Geschichte sehr differenziert, was ich auch bei meinen Lesungen oft erfahre. Ansonsten haben sie ab `89/`90 nur Entwertung erlebt. Also kann die Verteidigung bestimmter Aspekte und Momente in der DDR nur aus ihrer eigenen Erfahrung kommen. Dann gibt es da die Generation der 40- bis 55jährigen, die während der Wende vollkommen schockiert und desillusioniert waren. Die sind völlig verstummt und haben sich gar nicht mehr äußern können und mögen, weil all ihre Erfahrungen, die positiven, die sie gemacht haben nichts mehr wert waren. Sie durften nicht mehr genannt werden, da durfte man nicht mehr drüber reden. Diese Generation hat an ihrer eigenen Biographie die völlige Niederlage er
fahren, da sie nicht mehr wußte, was richtig und was falsch war. Diese Generation und die der vielleicht ab 30 meine ich eigentlich, die sich nach einigen Jahren auf ihre eigenen Erfahrungen wiederbesinnen wird, die für sie wieder Bedeutung und Wahrheit kriegen werden. Dann wird sie auch wieder Souveränität gewinnen, die sie mit dem Zusammenbruch der DDR verloren hat.

telegraph: Hat es eine historische Notwendigkeit für den Zusammenbruch des Ostens gegeben? Oder anders, ist es erst jetzt möglich das Ziel einer gerechten Gesellschaft nicht nur mit Gleichheit sondern auch mit Freiheit zu verbinden?

Inge Viett: Ich denke schon, daß es eine gewisse historische Notwendigkeit gegeben hat, aber daß es so schnell vonstatten ging, war sicher nicht historisch notwendig. Ich bezweifle auch, daß wir jetzt bessere Aussichten haben. Wir wissen zwar, was versucht worden ist und was war falsch daran. Aber allein mit dem Wissen kann man nicht viel anfangen. Denn die Machtverhältnisse sind wieder in einer Weise gegen uns zementiert und gefestigt, daß es ziemlich offen ist, wann die mal wieder aufzubrechen sind.

Die Aufbruchsstimmung `89 verstand ich zum Teil, aber andererseits war mir klar: wenn man sich die Geschichte nach `45 anschaut, dann weiß ich nicht, wie man auf die Idee kommen konnte, daß vom Westen einem Aufbruch im sozialistische Lager Raum gegeben würde, für eigene, vielleicht für bessere Sachen. Egal wie offen oder laut der Kampf zwischen den Systemen gewesen ist, er ist doch immer und jeden Tag dagewesen.

telegraph: Hattest Du in der DDR mal Kontakt zu Oppositionellen oder hast Du Dich mit deren Problemen beschäftigt?

Inge Viett: Natürlich weiß und wußte ich, daß es eine linke Oppositionsbewegung im Osten gab. Aber das was für mich während der Wende davon rüber gekommen ist, waren Figuren der „Bürgerbewegung“, wie die Bohley, die Wollenberger und diese ganzen unklaren selbstbezogenen Typen. Für mich war das keine Bürgerbewegung sondern eine Dissidentenbewegung, die ganz klar dem Westen in die Hände spielte. Daher vollzog sich die Wende `89 auch als Anschluß an den Westen und der kleine Haufen aufrechter Linker ist in den Wendewogen einfach untergegangen. Der Widerstand der „Bürgerbewegung“ war unheimlich schwach. Von deren Forderungen ist letztendlich nichts durchgesetzt worden.

Ich bin weit davon entfernt, die Linken in der DDR moralisch zu verurteilen,
sie hatten objektiv keine Chance. Daß viele `89 nicht sehen wollten, daß sie keine Chance hatten, ist zum Teil ihrer Eitelkeit aber auch ihrer Unbedarftheit gegenüber den westlichen Verhältnissen geschuldet.

Daß die gesamte Linke in Ost und in West nicht in der Lage war, dem westlichen Modell etwas Eigenständiges entgegenzusetzen, ist ein klarer Ausdruck für historische Unreife, das meine ich mit „historischer Notwendigkeit“ der Niederlage.

telegraph: Triffst Du diese Leute auch auf Deinen Lesungen?

Inge Viett: Ja, aber ich treffe auch auf die Leute, die ganz andere Erfahrungen gemacht haben in der DDR – auf Traumatisierte – die nur Scheißerfahrungen machten, dort ist es ganz schwer. Da diskutiere ich eigentlich gar nicht, weil man ein völlig unterschiedliches Verständnis hat und es überhaupt keine gemeinsame Ebene gibt. Das sag ich den Menschen dann auch: `das ist nicht meine Erfahrung und aus ihrer Erfahrung, die ich respektiere, kann ich die DDR nicht angucken‘. Das wird dann akzeptiert.

telegraph: Hast Du mal mit Leuten gesprochen, die in der DDR im Knast gesessen haben?

Inge Viett: Nein, hab ich nicht.

telegraph: Du bist in Magdeburg ohne all zu große Distanz wieder aufgenommen worden. Ist das auch so bei öffentlichen Veranstaltungen? Die Lesung in Magdeburg z.B. wurde viel diskutiert und wäre von Einigen gern verhindert worden.

Inge Viett: Sie ist deshalb so viel diskutiert worden, weil mir die Leute eine unheimliche Sympathie entgegenbringen und das hat die reaktionäre Presse überhaupt nicht gut gefunden. Dies ist mir ständig begegnet, daß das Bild der staatlichen Propaganda: Terroristin und Verbrecherin in den Köpfen nicht mehr faßt, weder im Westen noch im Osten. Das ist etwas, was mich sehr erstaunt hat. Die Leute sind offen und aufmerksam, viele natürliche auch aus voyeristischen Gründen, aber das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, daß die Leute wirklich interessiert sind und machen sich eigene Gedanken. Im Osten kommt dann noch das Phänomen hinzu, daß ich öffentlich über die DDR rede, wie die Leute es sich nicht mehr getraut haben. Deswegen wird mir hier auch so viel Wärme und Herzlichkeit entgegen gebracht.

telegraph: Wer kommt hier zu den Lesungen?

Inge Viett: Das Publikum war ganz verschieden. Es ist oftmals für mich gar nicht einortbar. Es sind viele Alte, aber auch viele Junge, die zu den Lesungen kommen, von denen viele in keinerlei Struktu
ren organisiert sind. Sie kommen deshalb, weil sie das hören wollen, was ich gegen die Niederträchtigkeiten, denen sie im Kapitalismus ausgesetzt sind, sage. Es ist irgendwie so eine Art Balsam. Die Diskussionen nach den Lesungen sind im wesentlichen von zwei Linien geprägt, einmal geht es um die Verteidigung der DDR und zum anderen um deren kritische Betrachtung.

Im Westen kann ich das Publikum dagegen ziemlich gut bestimmen, es sind entweder Linke, die aus politischen Zusammenhängen zu den Lesungen kommen oder es sind Bildungsbürger, Philosophen bzw. Literaten. Auf diesen Lesungen fällt es mir ziemlich schwer meine Erfahrungen, die ich in der DDR gemacht habe, den Leute nahe zu bringen. Sie sind vollkommen zu mit ihren eigenen Vorstellungen über die DDR. So sehr interessiert sie es auch gar nicht. Sie kommen einfach immer nur mit den Klischees. Selbst von den Linken kommen in der Regel nur Abstraktionen. Sie sind in ihrem intellektuellen Hochmut, in solchen Fragen und ihren Theorien darüber, völlig intransigent.

Mit den Frauen ist es anders. Wenn ich bei Frauen lese, treffe ich auf offenes Interesse, auf einen größeren Respekt vor den Erfahrungen anderer.

telegraph: Welche Perspektive würdest Du für heute sehen?

Inge Viett: Die Menschen im Osten kämpfen nicht richtig, das haben sie nie gelernt, sich wirklich durchzusetzen. Sie haben nicht diese bestimmte Aggressivität, die man in diesem System auch für sich selber braucht, um sich zu behaupten, auch um seine Erfahrungen zu behaupten. Es fehlt hier so ganz, daß sich die Leute selbst trauen, darum sind diese ganzen sieben, acht Jahre so „abgewickelt“ worden, weil die Leute keine progressive Aggressivität entwickeln können.

telegraph: Diese Aggressivität ist ja auf das Individuum bezogen, die auf eine individualisierte Gesellschaft abzielt, wie sie die kapitalistische Gesellschaft darstellt. Die Beziehungen, die es in der DDR gab, waren dagegen Kollektivbeziehungen, die als gesellschaftliche Beziehungen funktioniert haben. Was machen diese kollektiven Erfahrungen heute aus, und wo könnte so etwas wie Kollektivität heute stattfinden?

Inge Viett: Ich weiß es nicht, wie unter diesen Verhältnissen Kollektivität wieder lebbar wird. Kollektivität, das Wort sagt es ja schon, muß etwas Gemeinsames, Konkrete haben, nicht nur die Tatsache, daß eine bestimmte Anzahl von Individuen zusammenhockt, wie z.B. auf dem Arbeitsamt. So etwas funktioniert nur, wenn wirklich auch verbindliche Strukturen dafür vorhanden sind. Und ein Kollektivbewußtsein kann sich auch nur solange halten, wie es das Kollektiv gibt. Was soll die Leute jetzt noch zusammenhalten? Das Problem heute ist, das es kein gemeinsames Verständnis darüber gibt, worüber sich Kollektivität wieder herstellen kann. Denn über negative Erfahrungen können sich keine Strukturen entwickeln. Du brauchst ein Ziel. Wir haben das in der Illegalität erfahren – wirklich zum Kollektiv zu werden, das braucht eine gemeinsame Übereinstimmung darüber, was man will. Es aus idealistischen, abstrakten oder Bewußtseinsgründen zu schaffen, geht nicht.

Die Leute erfahren jetzt ihre Situation hier sehr individualisiert. Sie wissen zwar, es geht unheimlich vielen so. Aber sie haben sich ganz allein mit der neuen Situation ausseinanderzusetzen, jeder für sich. Von dem Punkt wieder zusammen zu kommen, geht nur über Projekte, die man
zusammen macht. Ich glaube aber, daß die meisten Leute in der DDR noch nicht wieder so weit sind. Ich meine dabei nicht, daß sie organisiert werden, sondern daß sie sich selber zusammen finden.

telegraph: Welchen Wert hat dann dieses individuelle Durchsetzungsvermögen?

Inge Viett: Ich meinte nicht das Durchsetzungsvermögen gegeneinander, sondern dem System und den Strukturen gegenüber, sich also selber zu entfalten. Wenn es im Moment keine andere Möglichkeit gibt, dann muß man es schon alleine, um überhaupt wieder zusammen zu kommen. Das ist auch ein Problem gewesen, daß die Subjekthaftigkeit der einzelnen Menschen in der DDR nicht entwickelt worden ist, sondern alles war vom Kollektiv getragen, man war darin aufgehoben. Eine Entfaltung der subjektiven Kreativität war schwach, jetzt ist sie aber gefordert. So etwas vollzieht sich nur an Widersprüchen. Man sollte meinen, die Voraussetzungen dafür sollten hier besser sein als im Westen, aber das sehe ich nicht, weil die Kollektivität, nur in bestimmten Strukturen funktioniert hat und die sind jetzt nicht mehr da.

telegraph: Heißt das, Erinnerungen an die positiven Alltagserfahrungen in der DDR können gar nicht produktiv werden, weil es die Strukturen ihrer Praxis nicht mehr gibt?

Inge Viett: Die Menschen hier verteidigen natürlich das, was hier lief zum Teil gegenüber dem Westen, aber über diese Verteidigung kommt es nicht hinaus. Inwieweit die Erfahrungen mal wieder konstruktiv werden können, weiß ich noch nicht.

Die westdeutsche Kritik an der Gesellschaft, selbst die von vielen Linken, ist oftmals systemimmanent, dagegen sind im Osten ganz konkrete Erfahrungen z.B. mit der Abwesenheit von Privateigentum an Produktionsmitteln, Grund und Boden und „erfolgreichen“ Regierungsstürtzen gemacht worden.

Es ist kein zwangsläufiger Prozeß: etwas zu erkennen bzw. sich zu erinnern, es wieder mit positiven Dingen zusammen zu bringen und dann aus dieser Erkenntnis etwas konstruktiv zu machen. Soweit sind die meisten Leute noch gar nicht. Im Moment kommen sie mal gerade wieder drauf, darüber nachzudenken, warum war es in der DDR anders, was war da gut und woran lag das. Viel weiter sind sie noch nicht. Da muß man natürlich überlegen, was sie die letzten 8 Jahre durchgemacht haben: die vollkommene Entwertung und Zerstörung aller Grundlagen, auf der das, was sie eigentlich verteidigen wollen, aufgebaut wurde.

Ich denke, man kann keine Prognosen machen, denn wenn Du Theorien für die Zukunft entwirfst, mußt Du dabei immer den Prozeß, den die Leute dahin machen, mitdenken und einkalkulieren, und der ist unberechenbar. Der ist gerade unter diesen Verhältnissen, in denen sie jetzt stecken, unberechenbar. Denn sie sind einerseits im Schraubstock, andererseits ist ihnen auch dies und jenes ermöglicht worden. Sie haben in diesen neun Jahren auch Möglichkeiten für sich in diesem System erfahren, und das fängt auch an, sie zu packen. Dieser Erkenntnisprozeß verläuft nicht so geradlinig bis hin zur tatsächlichen Organisierung. Mir ist es vollkommen unklar, wie eine neue Organisierung der progressiven und emanzipativen Kräfte laufen kann. Weil das System unheimlich wendig ist und Ventile schafft, dort wo Konflikte, die was kosten könnten, sich bilden. Wenn z.B. ein progressives Konfliktpotential anfängt sich zu organisieren, dann gibt es plötzlich Angebote, begrenzte Öffnungen etc..

Ich weiß nicht, ob von den Leuten, mit 40 Jahren Sozialismuserfahrung, ein neuer Aufbruch kommen kann. Ich denke eher, daß ihnen ihre Erfahrungen, und das ist schon viel, helfen werden, hier zurecht zu kommen, indem sie sich suchen, um zusammen zu überleben.

telegraph: Führen nicht gerade die Erfahrungen sozialer Gleichheit, sozialer Standards oder vom angstfreien und selbstbewußteren Umgang mit der Arbeit, zum tiefen Unverständnis gegenüber der neuen Gesellschaft?

Inge Viett: Die Menschen waren für sich, als Individuen, obwohl sie sich dessen nicht bewußt waren, sehr souverän, auch miteinander. Diese Souveränität ist erst einmal gebrochen worden. So kann natürlich ein Mensch auch nicht leben, er geht ja kaputt daran. Daß sie sich wieder aufrichten können, liegt auch an ihren Erfahrungen. Es gibt natürlich auch den Versuch, seinesgleichen wieder zu suchen, das sehe ich hier, daß sich Leute wieder zusammenfinden und kleine DDR-Biotope aufbauen, z.B. arbeiten einige im sozialen Bereich zusammen. Das sind Leute, die irgendwo raus sind, sich zusammenschließen, einen Verein gründen und Betreuungsarbeit oder anderes zusammen machen, um bestimmte Werte und Vorstellungen zu leben. Sie haben die gleichen Erfahrungen und gleichen Entwertungen gemacht und wollen jetzt wieder etwas gemeinsam tun. Sie überleben praktisch in einer Nische. Das habe ich mehrfach gesehen. Was sich daraus entwickeln kann oder besser, was sie damit anfangen können, ist mir nicht deutlich. Aber ich denke, es ist in „Würde Überleben“.

telegraph: Der Westlerhaß ist eine recht unberechenbare Sache, denn es ist nicht so ganz klar, ob er in Fremdenfeindlichkeit endet oder ob er auch etwas Emanzipatorisches haben kann. Das ist nicht steuerbar, d.h. eine linke Politik muß sich so oder so damit auseinandersetzen, denn er ist real vorhanden.

Inge Viett: Der gemeinsame Westhaß kann meiner Meinung nach viel schneller reaktionär werden als revolutionär, wenn daraus nicht eine politischen Erkenntnis wird, über das was hier läuft. Davor verweigern sich viele noch, denn von der Klassenfrage will doch niemand mehr etwas hören. Das ist noch wie ein Trauma, da rührt keiner mehr dran. Außer natürlich die gestandenen MarxistInnen.

Durch die ganze Entwertung mit der Wende ist die linke Weltanschauung desavouiert worden und unattraktiv für die Leute. Daher ist es sicher auch schwer, einen Haß von links, also progressiv, zu politisieren. Was die PDS macht, erscheint mir oft unklar, denn sie grenzt sich von tendenziell völkischen Sachen nicht scharf genug ab. Sie entschuldigt Rassismus und sagt, die Leute sind mit der Situation überfordert. Die PDS schielt einerseits auf die Massen, `denn wir haben gelernt, nicht nur abgehobe Politik zu machen, sondern nur mit den Leuten‘, aber gleichzeitig kommt sie in einen Entschuldigungszwang, und sagt, `na dann sind die Leute eben so‘. Diese Partei hat noch den meisten Einfluß in der ehemaligen DDR, vertritt aber in diesem Punkt keine klare und offene Linie.

Grundsätzlich denke ich, daß weder die DDR-Generation, die `90 niedergeschlagen wurde, noch die Generation, die im Westen gekämpft hat und ebenfalls niedergeschlagen wurde, wieder einen neuen Aufbruch in Gang bringen wird. Ich glaube, daß ein Mensch nicht so ohne weiteres dazu in der Lage ist, so etwas zu verkraften und zum zweiten Mal innovativ sein kann. Das muß die nächste Generation können, von denen müssen wir alles verlangen, und wir müssen ihr mitgeben was sie brauchen wird, und zur Stelle sein, mit unseren Erfahrungen.

telegraph: Dankeschön für das Gespräch

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