Revolution und Prostitution …

von Renate Hürtgen
(Aus telegraph #1 _ 1998)

So sollte es im Titel einer Veranstaltung über die aktuelle Situation in Kuba heißen, die wir im Anschluß an eine Reise auf die Karibikinsel organisieren wollten. Selten habe ich mich derartigen Angriffen auch und vor allem durch „linke GewerkschafterInnen“ gegenübergesehen, wie während der Diskussionen zur Vorbereitung dieser Veranstaltung. Es wurde geargwöhnt, daß wir uns zu Handlangern der aktuellen USA-Politik, mindestens aber der USA-Blockade gegen Kuba damit machten. Ein Kollege verstieg sich sogar dahin, zu behaupten, daß es „im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas in Kuba nicht der Hunger und die Not (ist), die Menschen zur Prostitution treibt, sondern der individuelle Wunsch nach einem „besseren“ Leben.“ „Besseren“ hatte er tatsächlich in Anführungszeichen gesetzt.

Unser Vorschlag, eine Informationsveranstaltung zur aktuellen Lage in Kuba zu machen, und dabei bewußt auf solche Quellen zurückzugreifen, die nicht aus der offiziellen Propagandamaschine der Partei kommen, hatte die seltsamsten Argumentationen bei den Gegnern dieser Veranstaltung zutage gebracht. Wiederkehrendes Muster war die Sorge, ob es nicht den Falschen nütze, wenn offengelegt würde, welche Probleme z.Zt. auf Kuba herrschten. Den traurigen „Höhepunkt“ in dieser Logik stellte für mich eine Auffassung dar, die meinte, es müsse unser aller (linker) gemeinsames Anliegen sein, nicht nach außen dringen zu lassen, was auf Kuba los sei, denn nichts sei im Augenblick wichtiger, als die Utopie einer sozialistischen Gesellschaft zu erhalten … Das war die Stelle, an der es mich als alter DDRlerin gruselte. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an das seltsam vorsichtige – sagen wir es ruhig deutlich: unsolidarisch bis feindselige – Verhalten einiger Westlinker gegen uns Kritiker der DDR-Gesellschaft. Das also hat sich in deren Köpfen abgespielt: „Die machen uns unsere schöne Utopie kaputt!“ Und wer so was tut, gehört nach der Logik eines Denkens, welches sich die Freunde und Feinde nach Staaten, nicht nach sozialen Klassen, sortiert, möglicherweise ins Feindeslager?

Das ist ja nun starker Tobak und es fragt sich, mit welchem Recht wir auf unserer Überzeugung beharrten, nur der sei ein „Freund der kubanischen Bevölkerung“, der dafür sorgt, daß die Realität in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit dargestellt wird. Wie unschwer zu erkennen ist – wir hatten im vollständigen Titel von „oben und unten“ im heutigen Kuba gesprochen – gehen wir nicht davon aus, daß es in Kuba keine Gegensätze zwischen der regierenden Partei und der Bevölkerung gibt. Vielleicht hat diese Banalität bereits die Gräben zwischen uns und den Gralshütern einer kubanischen Utopie aufgerissen. Spätestens jedoch, als wir darauf beharrten, daß es eine Reihe von innerwirtschaftlichen und innerpolitischen Vorgängen in Kuba gibt, die endlich mal zur Kenntnis genommen werden müssen und die sich nicht nur oder gar nicht mit einer außenpolitischen Blockadepolitik durch reaktionäre Kreise in den USA erklären lassen, war der „Bruch“ vollkommen.

Wie gesagt, wir waren im Januar/Februar 1997 durch Kuba gereist und hatten genau die Atmosphäre erlebt, die wir im Titel ausdrücken wollten. Einerseits die Revolutionsplakate wie eh und je in den Straßen, an den Hauseingängen die Zettel der Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR) mit den Namen der besonders fleißigen Bewohner des Blockes, eine alte Genossin, die uns durchs Revolutionsmuseum führt, Che-Bilder in unübersehbarer Zahl und das Che Guevara-Lied in jedem Cafehaus gesungen. Andererseits bettelnde Menschen, vor allem Kinder, die kaum abzuschütteln waren, Kellner und Taxifahrer, die mit dem ständigen Versuch beschäftigt sind, ein paar Dollar zusätzlich abzuzocken und Touristenhochburgen, die eher einem Puff glichen. Als wir noch nichts von dieser Massenprostitution ahnten, dachten wir, im Flugzeug zusammen mit einer Gruppe alter Genossen aus der DDR einzureisen – es waren aber Sextouristen, die wir später stolz mit kubanischen Kinder-Mädchen von vielleicht 15/16 Jahren im Arm wiedertrafen. „Revolution und Prostitution“ eben.

Socialismo Cubano?
Eigentlich sind es zwei Vorgänge, die die kubanische Gesellschaft in den letzten Jahren so verändert haben. Zum einen ist das gesamte Leben von der extremen Mangelsituationen und der sich ausweitenden Rationierung für nunmehr alle lebenswichtigen Produkte gekennzeichnet, die zwar bereits Mitte der 80er Jahre im Zuge einer extremen Staatsverschuldung eine aufkommende Krise anzeigte, nach dem Zusammenbruch des Ostens die Wirtschaft Kubas aber an den Rand der Katastrophe führte. Ein Gang durch Havanna ist gespenstisch, er führt durch Ruinenlandschaften, in denen Menschen wohnen. Der Alltag dieser Menschen ist bestimmt von der Besorgung des Notwendigsten, von „Ringtauschaktionen“, um am Ende an die Milch zu gelangen, die dem bereits 7jährigem Sohn nicht mehr zusteht etc.etc. Aber wie wir das von Regierungen im allgemeinen und von zentralistisch geleiteten im besonderen kennen: Es wurden nunmehr nicht etwa alle Anstrengungen auf eine klare Analyse der Ursachen dieser als „periodo especial“ bezeichneten Situation gelegt, sondern mit großem propagandistischem Aufwand vertuscht. Als 1993 eine durch Hunger und schlechte Ernährung hervorgerufene Neuropathie-Epidemie die Insel erschütterte, wurde der Klassenfeind zur Erklärung bemüht. Und mitten im wirtschaftlichen Krisenjahr 1996 hatte Raul Castro, der Bruder Fidel Castros, Armee-Chef und Vizepräsident, nichts besseres zu tun, als im Frühjahr eine scharfe Rede gegen den von einigen Sozialwissenschaftlern und Ökonomen unternommenen vorsichtigen Versuch einer Diskussion über die Ursachen und Folgen der derzeitigen kubanischen Entwicklung zu halten. Ein „ideologischer Feldzug“ war damit eingeleitet, begleitet von Drohungen und mit dem unrühmlichen Ende der Zerschlagung dieser Wissenschaftlerkreise und damit jeder Art von Diskussion über die Perspektiven des Landes. Seitdem sprechen Kritiker dieser Politik von einer „Eiszeit“. Nicht nur das intellektuelle Klima ist „frostiger“geworden, Verhaftungen finden wieder häufiger statt und die Tendenz, unliebsame Kritiker ins Exil zu treiben, nimmt zu. (2)

Und – um noch ein Schlaglicht auf die Art der offiziellen Reaktionen auf die derzeitige Wirtschaftskrise zu werfen – während sich die kubanische Bevölkerung mit den Problemen der Stromsperren, der Versorgung mit dem Notwendigsten oder dem Kampf um eine Bahnfahrkarte herumschlägt, erlebt der Personenkult um Fidel Castro eine neue Renaissance. Überall ist er präsent, seine stundenlangen Reden im Fernsehen mahnen und drohen, moralisieren und beschwören „sein“ Volk durchzuhalten. Ob diese Apelle „unten“ ankommen, ist sicher schwer einzuschätzen. Mit anderen Worten, wie groß die Loyalität der Kubaner gegenüber ihrer Regierung tatsächlich ist, läßt sich nur sehr indirekt messen. Wir kennen das ja aus DDR-Zeiten: trotz „mißmutiger Loyalität“ (Alf Lüdtke) ging das DDR-Volk massenweise zur Wahl. Und hätte mich 1985 jemand gefragt, wie hoch ich den Prozentsatz der Kritiker oder gar „Dissidenten“ einschätze, ich hätte es nicht gewußt. Außer Frage aber scheint zu stehen, daß – wie uns eine Freundin in Havanna beschrieb – die „Sonderperiode“ eine große auch politische Müdigkeit und das Gefühl bei vielen Kubanern erzeugt hat, sie zahlen einen zu hohen Preis für eine Sache, von der man nicht mehr so recht weiß, was das für eine Sache ist. Und immer wurden die Stimmen leiser oder der kubanische Gesprächspartner verstummte, wenn wir nach seiner Einschätzung der politischen Loyalität der Bevölkerung fragten.

Die „zweite Revolution“
Während die Wirtschaftskrise von sozialer und geistiger Armut begleitet wird, leitet ein ganz anderer Prozeß die eigentlichen gesellschaftlichen Strukturveränderungen ein. Ich spreche von solchen durch die kubanische Regierung eingeleiteten Maßnahmen wie der Privatisierung, der Freigabe des Dollars und der Öffnung zum Weltmarkt. Die Folgen dieser neuen Wirtschaftspolitik sind ungeheuer, sie sind vor allem von einer Eigendynamik, die letztlich keine Rede von Fidel Castro mehr wird anhalten können – auch wenn er es dann gerne wollte. Dem bekannten Zauberlehrling gleich, wird er die Geister eines Tages nicht mehr loswerden, die er rief!

Der „Geist des Dollars“ ist seit seiner Freigabe 1993 in alle Beziehungen gefahren. Das ist nicht verwunderlich auf einem Konsummarkt, wo sogar die lebensnotwendigsten Dinge wie Seife oder Öl nur noch mit dem Dollar zu haben sind. Der Staat brauchte die Dollar, um einen drohenden Staatsbankrott abzuwehren, und die Kubaner konnten sehen, wo sie das Ding herbekamen. Der Lohn wurde natürlich weiterhin in Pesos, der offiziellen Landeswährung, ausgezahlt, für den man sich letztlich nur auf dem Schwarzmarkt oder den neueröffneten Bauernmärkten etwas kaufen konnte. Bei einem Durchschnittsgehalt von 180 Pesos im Monat und einem Preis von 35 Pesos für ein Pfund Fleisch allerdings auch nur für eine kleine Bevölkerungsschicht erschwinglich. Also mußten Dollars angeschafft werden: von den Verwandten und Bekannten im Ausland oder von den Touristen. Jeder Kubaner sann darüber nach, was er wohl anzubieten hätte, und mancher hatte ein schrottreifes Auto, das zum Taxi ausstaffiert wurde, andere ihren Körper, was man dann Prostitution nennt, und wieder andere sahen „alt aus“, sie haben nichts zu verwerten. Zu dieser letzten Gruppe gehören nicht selten die alten, treuen Kader der kubanischen Revolution. Die Bevölkerung polarisiert sich in arm und reich, in Dollarbesitzer und Pesolöhner, in welche, die neuerdings Produkte aus ihrem privaten Landbesitz direkt verkaufen oder eine Gaststätte eröffnen können und die Masse der Stadtbevölkerung, die von ihrem Pesolohn leben muß. Diese rasante Zunahme der Ungleichheit erzeugt soziale Spannungen, Unzufriedenheiten und nicht zuletzt eine von der Regierung ungewollte Verlagerung der Aktivitäten aller Kubaner weg von ihrer regulären Arbeit. Zwar ist das egalitäre Gesundheitswesen noch nicht zusammengebrochen, doch die Ärzte verlassen ihre Kliniken in den Dörfern und Kleinstädten, um sich in der Touristikbranche den lebensnotwendigen Dollarzugang zu verschaffen. Von ihrem Gehalt können sie nicht mehr existieren.

Die „Dollarisierung“ ist das für alle sichtbare Zeichen der Veränderungen. Noch entscheidender aber sind die Vorgänge in der Produktion selber, die sich weniger spektakulär, dafür m.E. aber nachhaltiger in ihrer Wirkung abspielen. Dabei hat die Regierung bei der eigens begonnenen Privatisierung von Land und Dienstleistungsunternehmen durch kubanische Besitzer noch die „Zügel“ in der Hand. Sie legt Preise fest, verordnet Steuern und Abgaben und verhindert durch Gesetze, daß sich neben dem staatlichen Sektor Privatunternehmen gründen, die mehr als Familienmitglieder zur Lohnarbeit anstellen. Seit dem 5. September 1997 aber ist ein „Investitionsgesetz“ in Kraft, das es ausländischen Investoren, einschließlich zahlungskräftigen Exilkubanern, erlaubt, in Kuba Unternehmen zu höchst günstigen Konditionen zu gründen. Die Bereiche Verteidigung, Bildung und Gesundheit sind dabei ausgeschlossen, – zunächst. Denn die Regierungskommission, die die Investitionsentscheidungen bestätigen muß, wird bald in dem Konflikt stecken, möglichst viele Devisenbringer ins Land holen zu wollen. Geplant ist nämlich, den Dollar für den Arbeitslohn nicht auszuzahlen, sondern in die Staatskasse rollen zu lassen, während die dort Lohnarbeitenden nicht nur unter staatlicher Kontrolle ausgesucht und eingestellt werden, sondern ihren Lohn auch nur in Pesos erhalten! Das ist nicht der „Sozialstaat“, auch nicht in den Farben Kubas, der seine Hände schützend über sein Staatsvolk hält – das ist ein Dollar eintreibender Staat, der sich bald in scharfer Konkurrenz zu den selber ins Land geholten oder im Land gegründeten Unternehmen befinden wird. Ein scharfer Wind wird bald über dem Arbeitsmarkt in Kuba wehen!

Desweiteren ist die Bildung von Freihandelszonen nun gesetzlich verankert. Wir kennen das aus der jüngsten chinesischen Geschichte; aber nicht nur dort und nicht nur in diesem Jahrhundert hat sich gezeigt, welche ungeheure Dynamik gerade von diesen noch so kleinen Zentren ausging, weil sie eben die wirtschaftlich effektiveren waren, die das Geschäft der Ausbeutung besser zu handhaben verstanden. Und überhaupt nicht unterschätzen sollte man, daß mit diesen prosperierenden Wirtschaftsbereichen die Entstehung einer neuen Schicht von kubanischen Technokraten und Managern verbunden ist, deren Interessen ganz eigener Art sind.

Kein „neuer Weg“ in Sicht – nur Machterhalt
Wer mit halbwegs wachen Augen die Entwicklung in Kuba verfolgt, sieht also, daß die kubanische Partei auf dem besten Weg ist, sich selber „das Wasser abzugraben“. Warum macht sie das? Der Vergleich mit der mir etwas bekannteren Regierung der DDR drängt sich auf, denn bei allen Unterschieden fällt auf, daß auch die DDR am Anfang ihres Endes angekommen war, als sie ihre Geschäfte mit dem westlichen Ausland forcierte, Intershops und joint ventures einrichtete oder Milliardenkredite aufnahm. So weit so gut. Was gibt es da zu kritteln und von außen zu mosern über diese neueste kubanische Regierungspolitik? Sollen die Kubaner etwa eine „geschlossene Gesellschaft“ bleiben, damit wir sie weiterhin „sozialistisch“ nennen können? Mit dieser Position würde man in die Nähe jener rücken, die weiter oben gerade scharf angegriffen wurden.

Meine Kritik setzt daher auch an einem ganz anderen Punkt an. Nicht, daß die kubanische Partei das Land dem Weltmarkt öffnet, sondern daß sie a) keine Diskussionen oder Experimente eines „anderen Weges“ zuläßt, sondern selbstherrlich und kurzsichtig einer ausländischen Investitionswelle den Weg bereitet, also quasi eine Liberalisierung des Marktes „von oben“ verordnet. Und daß sie b) diese von ihr eigens ins Leben gerufene Entwicklung einer auf Profit orientierten in- und ausländischen Unternehmerschaft, die dem Staat als Konkurrenten entgegentritt, nicht gleichermaßen mit dem Aufbau demokratischer Strukturen begleitet. Ein kapitalistischer Markt ohne bürgerliche Spielregeln – das geht mit Sicherheit auf Kosten der Bevölkerung!

So werden sich in den nächsten Jahren für den kubanischen Arbeiter die Arbeitsbedingungen verschlechtern und die Ausbeutungsrate erhöhen, es wird Arbeitslosigkeit geben, Frauen und Schwarze werden als erste vom Arbeitsmarkt verdrängt werden. Aber es wird – nach dem Willen der Partei – keine kämpferischen Gewerkschaften, keine Streiks geben. Es wird in einer inzwischen in viele Interessengruppen gespaltenen Gesellschaft keine Möglichkeit geben, sich in Gruppen oder Parteien zu organisieren, Selbsthilfegruppen und NGOs werden unterdrückt und Prostituierte nicht etwa geschützt, sondern von Zeit zu Zeit in Gefängnisse gesteckt. Carranza und Monreal, zwei kubanische Ökonomen, die zu eben jener inzwischen nicht mehr tätigen Gruppe von Wissenschaftlern gehörten, die der Regierung Reformvorschläge erarbeiten wollte, wissen, daß gegenwärtig „vor allem die ausschließlich lohnabhängige Bevölkerung in Mitleidenschaft“ gezogen ist und daß „eine reale Demokratisierung der Institutionen notwendig ist, damit die Bevölkerung erneut mobilisiert und ein neuer politischer Konsens hergestellt werden kann.“ (3)

Demokratisierung ist also nicht nur im unmittelbaren Interesse der Beschäftigten als Schutz vor Unternehmerwillkür notwendig, sondern auch im Eigeninteresse des Staates. Wie wenig „einsichtig“ Staatsmänner – die kubanischen eingeschlossen – aber sind, zeigt das Beispiel des staatlichen Umgangs mit den Landkooperativen in Kuba. In der Hoffnung, die Arbeitslust und das Arbeitsergebnis würden sich erhöhen, sind solche Kooperativen auf genossenschaftlicher Basis vor kurzem gegründet worden. Die letzte Zuckerrohrernte 1997 aber zeigte erneut ein Minus von 300 000 Tonnen. Während in der Propaganda von einem „schwierigen Kreditsystem“ als Grund für die Verluste gesprochen wird, liegen für jedermann die Ursachen klar auf der Hand: Der Staat legt die Preise für den Aufkauf vorher fest, und zwar so niedrig, daß es sich nicht lohnt, für die Kooperative zu arbeiten. Kein Landarbeiter kann von diesem Lohn leben, er muß sich einen Zweitunterhalt suchen.

Partei und Staat sind offensichtlich nicht gewillt, die notwendige Demokratisierung freiwillig einzuleiten, sie muß wohl erkämpft und erstritten werden. Es ist sehr schwer auszumachen, wo die Kräfte sind, die eine solche Bewegung auslösen könnten. Die kleine Dissidentenschar ist nach der letzten von Raul Castro initiierten Kampagne zerstreut, sie war sowieso kaum bekannt in der Bevölkerung. 1996 hatten sich die verschiedensten Oppositionsgruppen im „kubanischen Konzil“ zusammengeschlossen, da waren es nach ungefährer Schätzung 120 Gruppen mit insgesamt 3000 Mitgliedern. Unter ihnen waren Gewerkschaftsoppositionelle, Menschenrechtler, Journalisten, Christen, Sozialdemokarten, Umweltschützer etc.etc. Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen, sie sind zum Teil verzweifelt über die gegenwärtige Entwicklung in Kuba, sie haben weniger Programme als den moralischen Willen, Kuba nicht „auf den Abgrund zurollen zu lassen.“ Ob es Reformkräfte im Staat, in der Partei oder in den Gewerkschaften gibt, ist weitgehend unbekannt. Es entsteht der Eindruck, ein paar „kritische Geister“ hätten sich vor allem unter Journalisten und Sozialwissenschaftlern gesammelt. Ob es in den Gewerkschaften „ein Umdenken gibt“, muß bislang offen bleiben. Allerdings spricht aus Erfahrungen mit derart zentralistisch geleiteten Massenorganisationen vieles dagegen. Ein Teil der Gewerkschaftsoppositionellen, mit denen wir sprachen, sucht den Dialog mit Leuten aus dem Apparat, ohne deren Hilfe sie sich keine Veränderungen vorstellen können. Wenn die Linke nicht wieder zu spät kommen will, sollte sie sehr aufmerksam diese winzigen Ansätze einer eigenen Interessenartikulation an der Basis der kubanischen Gesellschaft beobachten und kritisch solidarisch begleiten.

Als die letzte „Eiszeit“ noch nicht angebrochen war, schrieben die beiden schon genannten Reformökonomen noch ganz optimistisch: „Die Erfahrungen, die auf der Welt mit dem Sozialismus gemacht worden sind, lösen die Probleme Kubas nicht. Die in Lateinamerika herrschenden Systeme jedoch auch nicht. Deshalb sind wir zu der Überzeugung gelangt, daß wir etwas Neues erfinden müssen. Ob es uns gelingt, wissen wir nicht. Es ist eine Herausforderung.“ (4)

1 Sehr lesenswert dazu: Bert Hoffmann, Kuba: Die Reform von innen, die nicht stattfand., in: PROKLA, Heft 107, 27.Jg.,1997, Nr.2

2 siehe den Bericht von amnesty international, Juli 1996,

3 zitiert nach: Jeanette Habel, Kuba zur Stunde der großen Reform, in: Le Monde diplomatique Nr.4770, 10.11.1995

4 ebenda

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