RÜCKWÄRTS IN DIE ZUKUNFT

von Wolfram Kempe
(Aus telegraph #1 _ 1998)

Sicher, für den gebildeten Mitteleuropäer gibt es Wichtigeres, als fern zu sehen. Althergebrachte Werte zählen für den gebildeten Mitteleuropäer weit mehr: eine gepflegte Lektüre, ein gepflegtes Essen mit gepflegten Freunden, ein gepflegter Spaziergang in einem – durchaus – verwilderten Park, eine gepflegte Diskussion über die Grundlagen unserer Zivilisation. Um nur ein paar Beispiele zu nennen. Der gebildete Mitteleuropäer sieht sich selbst als Intellektuellen – alter Schule, versteht sich. Und wenn er sich als solcher dann doch einmal dem Puschenkino der Proleten zuwendet, dann tut er das aus rein ethnologischem Interesse. Wie weiland Walter Kempowsky, der sich von Fernsehtechniker seines Vertrauens einen überdimensionalen Fernsehapparat installieren ließ, sich dann an einem Montag neunzehn Stunden lang im Zwölf-Sekunden-Takt durch 37 Programme schaltete – und hinterher ein Buch darüber schrieb. In diesem Buch ging es im Wesentlichen darum, daß ihm vom vielen fernsehen schlecht geworden war und das Fernsehen im Grunde nur das Puschenkino für Proleten ist. Einer hatte sich heldenhaft in den Selbstversuch begeben und bewiesen, was zu beweisen war. Damit kann sich der Rest der gebildeten Mitteleuropäer wieder gepflegten Tätigkeiten zuwenden (siehe oben).

Denkste! Kempowskys Selbstversuch wie der intellektuellen Haltung zum Fernsehen überhaupt liegt der Gedanke zugrunde, daß einer kulturellen Schöpfung – und das ist das Fernsehen zweifelsohne – ein sinnstiftendes Moment innewohnen muß. Bei dieser Erwartung schwingt die Erinnerung an eine Zeit mit, in der es in beiden deutschen Staaten knapp fünfzigtausend Fernsehapparate und zwei Fernsehprogramme gab, sich Großfamilien oder Hausgemeinschaften vor den Kisten versammelten und sich gemeinsam Dokumentationen über ferne Länder ansahen. Aus jener Zeit stammt auch der „Bildungsauftrag“ der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten Deutschlands. Verglichen mit jener Zeit ist das Fernsehen der späten neunziger Jahre in den Augen vieler Intellektueller eine einzige Verblödungsmaschinerie. Das stimmt – und stimmt doch nicht. Wie immer in einem Land, in dem man sich kollektiv am liebsten über die eigenen Geschichte belügt, ist der Gedanke auch hier zu kurz gesprungen und den eigenen Euphemismen auf den Leim gegangen. Denn das Fernsehen wurde nicht 1952 vom NWDR erfunden, sondern 1934 von der Reichsrundfunkgesellschaft. Und es hatte von Anfang an einen „Bildungsauftrag“ – bei dem es jedoch nie um Bildung sondern nur um Propaganda ging, um die Verblödung großer Bevölkerungsgruppen also. Einzig dem Fernsehfunk der DDR gelang das Kunststück, Fernsehen als Propaganda zu verteufeln und gleichzeitig nichts anderes als Propaganda zu senden. („Unsere Antennenrichtung ist der Sozialismus!“ – Erinnert sich noch jemand?) Wenn aber Fernsehen von Anfang an ein Instrument der Propaganda war und ist, dann kann die Frage, die man sich stellt, wenn man vor der Glotze sitzt, nicht lauten: macht es mich schlauer oder blöder?, sondern sie muß lauten: Was wollen die mir jetzt schon wieder einreden?

Eine Ausnahme in Bezug auf das Fernsehen machen jedoch selbst gebildete Mitteleuropäer: nämlich bei Nachrichtensendungen. Information, so hört man oft, Information ist wertfrei. Vielleicht ist es nun der Geburtsvorteil eines gewesenen DDR-Bürgers, im Gegensatz dazu gerade hier das dünnste Eis zu vermuten. Es kann jedoch kein Zufall sein, daß man, wenn man in der Vergangenheit mit Tagesschau und Aktueller Kamera aufgewachsen ist, heutzutage ein Dèjá-vú nach dem anderen hat, wenn man die abendlichen Fernsehnachrichten verfolgt. Betrachtet man die niedersächsische Landtagswahl vom 1. März beispielsweise, ist damit keineswegs gemeint, daß das von der SPD veranstaltete Brimborium rings um diese Wahl an die sogenannten Vorwahlen zur amerikanischen Präsidentschaft erinnerten – was alle Kommentatoren hinlänglich bemerkten. Interessant war statt dessen die Berichterstattung über den Besuch des Ministerpräsidenten Schröder bei VW, insbesondere die Bilder, die Schröder gemeinsam mit dem Vorstandsvorsitzenden Piëch eine lange Werkhalle entlangschreitend zeigen – oder besser: was sie nicht zeigen. Wie früher, als derartige Veranstaltungen Potentaten des realexistierenden Sozialismus vorbehalten waren, ist auch heute die Putzkolonne nicht zu sehen, die vorher die Werkhallen wienert. Und wenn Gerhard Schröder heute sagt, er wolle, so wir ihn wählen, aus der Mitte des Volkes heraus regieren – klingeln da niemandem die Ohren vor Erinnerungen an die Zeiten, als der kleinere deutsche Staat von Söhnen und Töchtern aus der Mitte des Volkes regiert wurde? Und wenn Journalisten in den Nachrichtenredaktionen das alles ergeben und kommentarlos reportieren – fühlt sich niemand an die Aktuelle Kamera erinnert?

Na aber – sagt die Mitte des Volkes, wenn zwei das gleiche tun, ist das noch lange nicht das selbe! Wirklich? Wenn der Armeegeneral Erich Mielke 1976 von flächendeckender Überwachung sprach und dabei die Bespitzelung aller meinte, und wenn der Innenminister Manfred Kanter 1997 bei seiner Verteidigung des Lauschangriffs von flächendeckender Überwachung spricht und auch wieder uns alle meint – reden die zwei dann von verschiedenen Dingen? Heute wie damals beruhigt sich die Mitte des Volkes mit der wohlfeilen Lüge, daß wer nichts zu verbergen habe, auch nichts zu befürchten hätte. Schließlich, so sagen sie weiter und glauben ihrem Innenminister, ginge es ja beim Lauschangriff nur um „Gangsterwohnungen“. Dabei sind „Gangster“ in diesem Sinne – das muß man wissen – immer die anderen. Immer diejenigen, die die Gartenzwergidylle in den Schrebergärten der Mitte des Volkes stören, entweder, weil sie (wie in der DDR) einfach nur das Land verlassen wollten, oder, weil sie heute die Allgemeine Sicherheit und Ordnung (der Schrebergärten eben) stören, in dem sie Häuser oder Arbeitsämter besetzen. In den wilden Zeiten von 1989 wußten das noch sehr viele. Nachdem aber in den seit dem vergangenen Jahren viele der gewesenen und teilweise selbsternannten Revolutionshelden bei den Betreibern der Grundrechtsverletzung Lauschangriff, CDU und SPD, Unterschlupf gefunden haben, kümmert man sich lieber um die Verfilmung der gewesenen Ideale in Hollywood – wie Vera Lengsfeld beispielsweise – als um die alten Ideale selbst.

Der einzige Unterschied zwischen dem realexistierenden Sozialismus in den Farben der DDR und der realexistierenden Demokratie in den Farben der BRD besteht darin, daß heutzutage die Menge derjenigen, die die Mitte des Volkes bilden, ungleich kleiner ist, als früher. Pragmatische Politiker vom Schlage eines Gerhard Schröder kümmert das nicht weiter. Im Gegenteil. Es ist ihnen sogar sehr Recht, daß die Mitte des Volkes, auf die sie sich verbal beziehen, immer kleiner wird. Um so weniger Rücksichten muß ihre praktische Politik dann später, wenn die Wahlkämpfe vorüber sind, wirklich nehmen. Selbst, wenn eines Tages die Mitte des Volkes überhaupt nicht mehr existiert, wenn eines Tages im Ergebnis dieser praktischen Politik alle marginalisiert sein werden – ein Drittel der Bevölkerung am reichen, oberen Ende, zwei Drittel im armen, unteren Ende der Gesellschaft – wird die „Mitte der Gesellschaft“ als virtuelle Veranstaltung weiterlaufen: im Fernsehen. Demoskopische Umfragen beginnen schon heute, wirkliche demokratische Mitwirkung zu ersetzen. Soap operas und Vorabendfamiliensendungen ersetzen vielfach schon heute wirkliches Familienleben oder Freundeskreise aus Fleisch und Blut. Es ist doch nicht zufällig, wenn sich regelmäßige Zuschauer der „Lindenstraße“ beispielsweise als Teil einer großen – virtuellen – „Lindenstraßenfamilie“ empfinden. Der Kalte Krieg auf dem Territorium Deutschlands ist zu Ende, Propaganda ist längst nicht mehr plumpe ideologische Diversion. Die Betonung liegt dabei auf „plump“. Denn zu glauben, Propaganda sei nun überflüssig geworden, ist genau der Irrtum der gebildeten Mitteleuropäer, von denen am Anfang die Rede war. Sicher, äußere Feindbilder werden heute nicht mehr transportiert – sieht man mal von der „islamischen Gefahr“ ab. Heute geht es um innere Feinde. Das sind alle, die nicht so leben wie die Lindenstraßenfamile. Das Fernsehen will uns einreden, daß so etwas wie die „Mitte des Volkes“ noch existiert, daß Normalität existiert, daß das Leben schön und in Ordnung ist. Das Böse findet nur noch in Kriminalserien statt, die bekanntermaßen damit enden, daß das Böse zur Strecke gebracht wird. Wenn sich schließlich genug Leute in dieser virtuellen Welt verfangen haben werden, sind die goldenen Zeiten für die Profitmaximierer und ihre Paladine in den Parlamenten wirklich angebrochen.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph