Ja! Helfen!

von Miriam Lang
(Aus telegraph #100)

Im Tagesspiegel wird berichtet, dass der Rektor der Freien Universität Berlin einigen Studenten ihre Zimmer im Studentendorf kündigen will, weil sie von dort aus eine Fluchthilfeaktion geplant und damit andere StudentInnen gefährdet hätten. Daraufhin hagelt es Proteste – und zwar von höchsten Stellen. Der Rektor wird zum Regierenden Bürgermeister zitiert, der erklärt, er habe „keinerlei Verständnis dafür, dass seitens der Universität mit politischen Begründungen, die dem Sinn und dem Auftrag der Freien Universität Berlin fundamental widersprächen, Aktivitäten behindert würden, die der Senat und die Bevölkerung von Berlin immer nur mit größtem Respekt zur Kenntnis genommen hätten.“

Auch die Berliner CDU reagiert mit Empörung, und ein Verband von Universitätsmitarbeitern in Baden-Württemberg befindet, hier handle es sich „um eine eindeutige Bestrafung sittlich und moralisch hochstehenden Handelns junger Menschen, deren Taten jedem die höchste Achtung abverlangten.“

Ein lächerliches Szenario? Nein – nur andere Zeiten. Das Ganze trug sich 1963 zu, der Regierende Bürgermeister hieß Willi Brandt und die Objekte der Schleuser- und Schlep­per­tätigkeit waren DDR-Bürger. Damals also betrachtete die politische Elite Westberlins Fluchthilfe als ein moralisches Gebot. Und die Westberliner Polizei half mit, Fluchthelferinnen und Helfern den Rücken zu decken.

Fluchthilfe: sittlich und moralisch nicht anstößig!? Sieht man sich die Geschichte an, wird deutlich, dass es in Deutschland eine lange Tradition von Fluchthilfe gibt. Da stellen sich Fluchthelferinnen und Helfer, beispielsweise aus der Zeit des kalten Krieges, selbstbewußt vor die Kamera und berichten über ihr Vorgehen und ihre Motive. Sie haben offenbar nichts zu verbergen, leben bis heute in dem Bewußtsein, moralisch richtig gehandelt zu haben – und sie haben auch nichts zu befürchten – im Gegenteil: Wer DDR-Bürgern in den Westen half, bekleidet heute hohe politische Ämter – wie etwa der Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen.

So ändern sich die Zeiten. In Bezug auf die Gegenwart scheint die Vokabel „Fluchthelfer“ aus dem Wortschatz gänzlich gestrichen zu sein – statt dessen lesen wir von Menschenschmugglern, Schlepperbanden oder sogar von Menschenhändlern.

Doch auch damals im Kalten Krieg wurde das Tun der Tunnelgräber und anderer Fluchthelfer nicht überall so positiv gesehen. Als „Terroristen gegen die Staatsgrenze“ bezeichnete sie die Berliner Zeitung aus der Hauptstadt der DDR, und sprach auch damals schon von „Menschenhandel“. Als 1964 ein DDR-Grenzschützer während einer Fluchtaktion erschossen wurde, hieß es: Die Menschenschleuse sei eine „Grenzprovokation“, die von einer „Mörder- und Verbrecherbande“ geplant worden sei. Die Westberliner CDU habe für die Fluchtaktion 30 000 DM zur Verfügung gestellt, und die Hamburger Illustrierte „Stern“ habe weitere 20 000 DM gezahlt, um sich die Exklusivrechte für einen „Tunnelbericht“ zu sichern.

Wurden da nicht Geschäfte mit der Not der anderen gemacht? Dass die Staatsorgane der DDR die finanzielle Seite dieses „Menschenhandels“ verurteilten, verwundert nicht. Doch auch im Westen gab es damals Diskussionen um die Rechtmäßigkeit solcher Ver­marktungscoups. Zum Beispiel anlässlich des historischen Tunnelfilms von 1962, der nur zustande kam, weil einige der beteiligten Studenten die Exklusivrechte bereits vorab an eine US-amerikanische Fernsehgesellschaft verkauft hatten. Das Geld diente dann dazu, den Tunnel selbst zu finanzieren.

Doch nicht nur mit den Medien wurden damals Geschäfte gemacht. Auch die DDR-Bürger selbst, die in den Westen wollten, mußten für die Dienstleistung zahlen. Die West-Illustrierte „Quick“ zeigte bspw. in einem Artikel aus dem Jahr 1977, dass die Kosten für die Flucht durchaus zum Problem werden konnten. Familie Staudemeyer hatte mit ihrem Fluchthelfer einen Preis von 45 000 DM ausgemacht, war aber davon ausgegangen, dass dies ein Pauschalbetrag sei, der auch noch eine weitere Familie miteinschließe. Als die Staudemeyers dann glücklich im Westen angekommen waren und pro Kopf 15 000 DM berappen sollten, kamen sie in finanzielle Schwierigkeiten. Sie klagten gegen den Fluchthelfer. Doch dieser bekam in allen Instanzen recht. Ein Preis von 15 000 DM pro Kopf sei durchaus angemessen, befand der Bundesgerichtshof. Und das Berliner Kammergericht urteilte: „Der Fluchthilfevertrag kann auch unter Berücksichtigung seines Gesamtcharakters nicht als verwerflich betrachtet werden. Derjenige, der Deutsche in der DDR und Berlin-Ost dabei unterstützt, das ihnen zustehende Recht auf Freizügigkeit zu verwirklichen, kann sich auf billigenswerte Motive berufen und handelt sittlich nicht anstößig“.

Oder einfacher ausgedrückt: Wer Ostdeutschen dabei hilft, sich frei zu bewegen, wohin auch immer sie wollen, handelt richtig.

Erlauben wir uns einmal, dieses Urteil auf heutige Verhältnisse zu übertragen. Es könnte dann zum Beispiel heißen: Wer Menschen aus Afrika, Asien, Osteuropa sowie Südamerika hilft, das ihnen zustehende Recht auf Freizügigkeit zu verwirklichen, kann sich auf billigenswerte Motive berufen und handelt sittlich nicht anstößig.

So etwas hört man allerdings selten. Wer heutzutage auswärtigen Menschen bei der Einreise nach Deutschland hilft, macht sich strafbar, und zieht nicht nur die Fahnder vom Bundesgrenzschutz, sondern auch die Vorverurteilung durch die Presse auf sich.

Eine weltweit operierende Verbrecherorganisation schaffe Chinesen gegen hohe Devisenbeträge illegal nach Deutschland, schrieb zum Beispiel die „Süddeutsche Zeitung“ vor einiger Zeit. Auch die Berliner Morgenpost verurteilt das sogenannte „Geschäft mit der Ware Mensch“. „Die Schlepper kassieren im Durchschnitt 1 000 Dollar pro Person“, heißt es hier, und eine Gruppe von wiederum 14 Chinesen habe gar fast 39 000 DM zahlen müssen. Wenn damals in den sechziger Jahren 15 000 DM pro Kopf für eine Flucht von Ost- nach Westberlin sogar gerichtlich als „angemessenes Entgelt“ abgesegnet wurden, warum sind dann heute beispielsweise tausend Mark pro Kopf von Warschau oder Prag bis Görlitz ein schmutziges Geschäft?

Wer weiß Bescheid über die Beweggründe heutiger FluchthelferInnen, über ihre Skrupel und Schwierigkeiten? Kein Zweifel, dass auch Leute dabei sind, die mit den Menschen, die sich in ihre Obhut begeben, verantwortungslos umgehen. Fest steht nur, dass sie alle gesucht werden und sich verborgen halten müssen, und dass die Rechtschaffenheit ihrer Motive deshalb kaum zu überprüfen ist.

Und das Geld – Geld hat Fluchthilfe schon immer gekostet. Die Kosten für ein solches Unterfangen steigen proportional zu dem Risiko, das eingegangen werden muß. Je engmaschiger und ausgeklügelter das Über­wachungsnetz an der Grenze ist, die überwunden werden soll, desto ausgefeilter und aufwendiger müssen auch die Methoden der FluchthelferInnen sein. Geeignete Fahrzeuge oder Transportmittel müssen besorgt bzw. bestimmte Stempel hergestellt werden. Hin und wieder ist auch ein Schmiergeld nötig. Auch sind, wo es um falsche Dokumente geht, Kontakte zu einer gewissen Halbwelt nicht zu vermeiden, die diese Papiere besorgen kann.

Es gibt also einen direkten Zusammenhang zwischen der Hochrüstung einer Grenze und der kriminellen Energie, die aufgebracht werden muß, um sie zu überwinden. Wo Grenzen frei passierbar sind, gibt es auch keine Schlepper, und der Übertritt ist kostenlos.

Wie steht es heute um dieses Recht auf Freizügigkeit, das in den 60er Jahren noch als juristisch zu schützendes Gut galt? Dass DDR-Bürgerinnen und Bürger lange Jahre nicht dorthin reisen konnten, wo sie wollten, oder auch nicht in einem Land ihrer Wahl ihren Wohnort wählen durften, galt allgemein als Unrecht. Heute können auch sie in die Südsee fliegen – zumindest, solange der Geldbeutel das erlaubt.

Dass wir mit einem deutschen Pass die Welt bereisen dürfen, ist auch für die meisten Ostdeutschen schnell selbstverständlich geworden. Viele Deutsche leben in den USA. Andere besitzen in Mexiko und Guatemala Kaffeeplantagen, in Südbrasilien feiern Deutsch-Stämmige jedes Jahr das bayerische Ok­­­to­­ber­­­fest. Die Liste lässt sich problemlos fortführen. Meist waren auch die deutschen Auswanderer Arme, da sie in der Heimat gescheitert waren. Andere kamen mittellos, weil sie vor dem Nationalsozialismus flüchteten, und nahmen in den vierziger und fünfziger Jahren die staatliche Hilfe ihrer Zufluchtsländer in Anspruch. Oft sprechen sie bis heute die Landessprache kaum, leben in abgeschotteten Traditionsgemeinschaften, tragen Trachten und bringen der einheimischen Bevölkerung nicht einmal ein Mindestmaß an Respekt entgegen. Doch niemand macht ihnen das Recht streitig, dort anwesend zu sein.

Warum soll dieses Recht auf Freizügigkeit nur für diejenigen gelten, die zufällig in einem wohlhabenden Industrieland geboren wurden? Ist Bewegungsfreiheit nicht ein Menschenrecht? Während in Westeuropa die Grenzen fallen, die interne Freizügigkeit also erweitert wird, scheint sie für Menschen aus Osteuropa, Asien, Afrika und Lateinamerika immer weiter beschnitten zu werden. Sie werden an den Flughäfen zurückgewiesen, und wenn sie dennoch nach Deutschland einreisen wollen, müssen sie das heimlich tun – und werden obendrein noch als Verbrecher und Kriminelle behandelt. Welche deutsche Frau, welcher deutsche Mann würde gerne so behandelt werden?
Der historische Rückblick hat eins gezeigt: So wenig Realsozialismus und heutige Unrechtsregimes wie z.B. in Algerien oder in der Türkei miteinander vergleichbar sind, so offensichtlich hängt die Bewertung von Fluchthilfe – oder eben Schlepperei – von den jeweiligen politischen Interessen ab. Das galt nicht nur in der Zeit des Kalten Kriegs, es gilt auch heute.
Da ist von einer „Völkerwanderung nach Westen“ die Rede, obwohl nur die allerwenigsten MigrantInnen den weiten Weg bis hierher schaffen – weit über 90 Prozent der weltweiten Flüchtlingsströme kommen gerade mal bis ins Nachbarland, also von Ruanda nach Zaire oder von Guatemala nach Mexiko. Und wer würde schon einer Frau, die von ihrem Mann geschlagen, eingesperrt und gedemütigt wird, oder der wegen eines Verstoßes gegen die Tradition die Steinigung droht, das Recht verweigern, hierher zu flüchten?
Wer würde einem Menschen aus Algerien den Schutz verwehren, einem Land, in dem seit Anfang 1992 über 120 000 Personen ermordet worden sind, weitere 2 000 verschwunden und über 30 000 inhaftiert? Wo derjenige, der sich auf die Seite der Militärregierung schlägt, von den Islamisten ermordet wird, und wer es lieber mit diesen hält, den Militärs zum Opfer fällt? Wo Neutralität unmöglich ist, weil beide Konfliktparteien sagen: „Wer nicht mein Freund ist, ist mein Feind“?

Die Bundesrepublik Deutschland verwehrt diesen Menschen den Schutz. Die neuen Bestimmungen des Asylrechts garantieren das. Ganze 1,17 Prozent der Asylanträge von Algerierinnen und Algeriern werden hierzulande anerkannt. Das heißt, 99 von 100, die es unter schwierigsten Umständen geschafft haben, sich bis hierher zu retten, werden in diese Hölle zurückgeschickt. Wer nicht nachweisen kann, dass er staatlich verfolgt wird, weil sein Leben vor allem von den Islamisten bedroht ist, dessen Asylantrag gilt bereits als „offensichtlich unbegründet“.

Solidarität mit Verfolgten, ihnen Schutz und Unterstützung zu gewähren, gehört zu den grundlegendsten moralischen Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens und wer dem nicht reflexartig zustimmt, muss sich fragen lassen, was in seinem oder ihrem Kopf verbogen wurde.

Und da haben wir noch gar nicht die Frage gestellt, ob ein „Wirtschaftsflüchtling“ nicht das Recht hat, vor einer katastrophalen wirtschaftlichen Situation zu flüchten. Wir haben noch nicht einmal gefragt, ob es vielleicht einen Zusammenhang gibt zwischen dem kontinuierlichen Absturz der sozialen Situation in den meisten Ländern der Erde und dem ökonomischen Aufstieg von immer weniger Ländern und Personengruppen. Ob also der einzelne Wirtschaftsflüchtling nicht das Recht hat, sich hier etwas von dem zurückzuholen, was ihm und seinem Land von der „Weltwirtschaft“ geraubt wurde.

Aber sehen wir uns noch etwas anderes an:
Der Bundesgrenzschutz bemüht sich an der deutschen Ostgrenze um die Sympathie der Bevölkerung. Viele Grenzanwohnerinnen und Anwohner haben inzwischen beim BGS Arbeit und ihr Auskommen gefunden. Andere nutzen die Bürgertelefone des Grenzschutzes, um „Verdächtiges“ zu melden. 70 Prozent der Verhaftungserfolge des BGS gehen angeblich auf Hinweise aus der Bevölkerung zurück. Unter dem Vorwand, im Grenzgebiet Sicherheit und Ordnung herzustellen, werden dabei Menschen an die Behörden ausgeliefert, deren einziges Vergehen es war, ohne Papiere einzureisen. Sie sind diskret, möglichst lautlos und wollen schnell weiter, sich in Sicherheit bringen. Eine Bedrohung geht von ihnen mit Sicherheit nicht aus. Was veranlasst also manche Grenzanwohnerinnen und Anwohner, diesen Leuten un­kal­kulierbaren Schaden zuzufügen, indem sie den Bundesgrenzschutz auf ihre Fährte setzen? Der BGS rühmt sich dieser Zusammenarbeit sogar: “Besonders froh sind wir über die Hinweise von Bürgern, die immer mehr nicht nur anonym gegeben werden“, so Polizeirat Andreas Jung. Auch über „Bürgerwehren“ an der Grenze war in den letzten Jahren einiges zu lesen. Es ist tatsächlich schwierig, sich vorzustellen, was mehr oder weniger arbeitslose Menschen dazu treibt, nachts durchs brandenburgische oder sächsische Unterholz zu schleichen und Jagd auf Menschen zu machen. Pure Langeweile? Zuviele Sheriff-Filme gesehen? Sicherheitswahn? Paranoide Bedrohungsphantasien? Auf jeden Fall eine gehörige Portion Rassismus und Männlichkeitswahn. Und nicht nur, dass sie wie durchschnittliche Perverse ihrem Laster peinlich versteckt fröhnen! Sie hinterlassen sogar noch ihre Namen bei der Polizei. Warum dürfen diese Leute auch noch stolz auf ihre Denunzianten- und Spitzeltätigkeit sein? Weil es offensichtlich in ihrem gesellschaftlichen Umfeld keine – oder zumindest nicht genügend – Leute gibt, die derartiges Handeln aus jeder menschlichen Gesellschaft verweisen. Wir können hier nur mit einem Appell an die Zivilcourage schliessen, auch im persönlichen Umfeld genau hinzuhören und offensiv zu kritisieren, wenn es um derartiges Denken und/oder Handeln geht. Wenn dieses Heft des telegraph dafür ein paar Argumentationshilfen bietet, ist schon einiges erreicht.

Genauso wie zu Zeiten der DDR entscheidet sich auch heute jede und jeder von uns, ob er oder sie Unrecht hinnehmen und dazu beitragen, oder es bekämpfen möchte.

Und damals wie heute gilt auch, dass nicht alles, was Gesetz ist oder von Uniformierten eingefordert wird, automatisch auch moralisch geboten ist.

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