Die Gewerkschaftslandschaft und das FAU-Verbot

von Willi Hajek
aus telegraph 120 | 121

überall, besonders auch in den Betrieben, den grossen wie den mittleren Betrieben, auf den Hügeln – in den Kernbereichen der Automobil- und Chemieindustrie, wie auch in den Sümpfen – den Zulieferern und anderen angelagerten Bereichen. 800.000 Beschäftigte dieser Kernbereiche machen heute Kurzarbeit, das heißt, es wird kürzer gearbeitet oder ganze Jahresabschnitte überhaupt nicht gearbeitet bei weniger Geld, aber dennoch steigt bei einer Reihe von Beschäftigten die Lebensqualität und sie können Aktivitäten anpacken, für die sie vorher keine Zeit hatten. Eine derartige Situation schafft natürlich keine Grundlage für eine Widerstandsbewegung gegen die Krisensituation, dennoch bleibt die Zunahme von Fragen an die Zukunft „wie soll es weitergehen mit der Produktion, ewig kann die Kurzarbeit ja nicht finanziert werden“. Diese Situation ist sicherlich nur ein Ausschnitt aus der gesellschaftlichen Landschaft der BRD, aber sie hat natürlich Einfluss auf die Stimmung insgesamt.

Genau im selben Zeitraum zwischen März und Mai 2010 laufen Betriebsratswahlen, die natürlich die in den Betrieben vorhandenen Kräfte und Ideen sichtbar machen und ihre Antworten, wie mit dieser Krisen-Situation umgegangen werden soll. In mehr als 12.000 Betrieben werden etwa 75.000 Betriebsräte gewählt. Betriebliche Organe, die ein Kernstück deutscher Mitbestimmungsrealität ausdrücken und auch den Kern und das Rückgrat der Gewerkschaftsapparate stellen. In den grossen Automobilbetrieben wie bei Opel in Bochum und in Rüsselsheim oder bei Mercedes in Stuttgart und Bremen und anderswo sind die Betriebsratsvorsitzenden die Bestimmer in den gewerkschaftlichen Gremien. Für diese Wahlen haben sie die Parole ausgegeben: Durch Verzicht und über Kurzarbeit den Status quo sichern! Solche Haltungen produzieren natürlich gegnerische Positionen, die gegen den Verzicht auftreten und in den Betrieben Gegenmacht aufbauen, die Belegschaften mehr in die Debatten und Entscheidungsprozesse einbeziehen und vor allem auch Aktionsformen wollen, die wirkliche Durchsetzungsfähigkeit erreichen. Da sind dann die wilden Streiks bei Opel-Bochum von 2004, die wilde Autobahnbegehung der Daimler-Belegschaft in Stuttgart-Mettingen einige Jahre später oder die dreitägigen spontanen Versammlungen in Sindelfingen bei Mercedes vor kurzem Orientierungspunkte über das, „was gewollt und gewünscht wird“. Weniger wird dabei erwähnt, dass in allen diesen symbolischen Ereignissen einer alternativen Lohnarbeiterbewegung es nicht gelungen ist, gegenüber dem etablierten Machtkartell aus den Gewerkschaftsapparaten eigene Formen der Delegation zu schaffen – Streikkomitees usw., die dann auch neue autonome Akzente hätten setzen können gegenüber dem Gesamtverlauf solcher spontanen nicht von oben beherrschten und kontrollierten Bewegungen. Dabei sei erinnert an den Fordstreik von 1972, in dem solche Formen entstanden sind.

Betriebsratswahlen sind immer sichtbare Zeichen von wirklich gelebter Opposition vor Ort, dabei ist es erhellend, ein wenig zurückzublicken in die Geschichte. Das Ziel, aktive Kollegen in die Betriebsräte wählen zu lassen, um einerseits an die Informationen heranzukommen und nicht abhängig zu sein von der Schweigsamkeit der etablierten Betriebsräte, andererseits aber auch die Zeit zu nutzen, um vor Ort in den Abteilungen und in den Werkhallen mit den Kollegen Kontakt zu erhalten, ihnen zu helfen sich zu organisieren, war immer ein wichtiger Bestandteil basisorientierter Betriebsratsarbeit. Das viele kritische Betriebsräte von diesen Zielen während der freigestellten und „angenehmen“ Betriebsratsarbeit abgekommen sind und sich zu Co-Managern und Personalverwaltern verändert haben, ist eine Tatsache und zeigt nur die Stärke dieses Systems. Das es aber auch Betriebsräte gab und immer wieder von neuem gibt, die diese Ziele wieder aufgreifen und die Selbsttätigkeit der Belegschaften wie auch der Lohnarbeitsindividuen fördern wollen, ist genauso eine Tatsache, wird aber von betriebsfernen linken Aktivisten oft übersehen oder nicht zur Kenntnis genommen. Einer der Gründe sind dabei die Beschränkung auf die lokalen betrieblichen Zusammenhänge, in denen agiert wird. Sind es nicht politische Gruppen, die mit den Betriebsakteuren verbunden sind, dann gibt es in dieser Republik kaum Räume und/oder Öffentlichkeit, um sich über die lokalen Aktivitäten und Ereignisse auszutauschen. Es sind weniger die grossen spektakulären Forderungen, die bei diesem Austausch sichtbar, sondern eher die Erfahrungswelt der betrieblichen Alltagspraktiken, die entdeckt würden. Meiner Meinung nach könnte einiges voneinander gelernt werden in diesem produktiven Austauschprozess. Einzig das labournet.de versucht solch eine Zusammenfassung täglich zu geben, in der Koordination der Automobilbetriebe, die sich seit einiger Zeit Netzwerk Auto nennt und in Teilen der Chemieindustrie wird das auch seit Jahren praktiziert, in Bereichen der Bahn entwickelt sich das, aber all das ist noch viel zu wenig, einfach deshalb, weil unheimlich viele Bereiche ausgeklammert sind, die nicht zu diesen Kernbereichen gehören.

Mit den folgenden wenigen praktischen Beispielen will ich einige der Initiativen kurz vorstellen, um Interesse zu wecken für diese lokalen Widerständigkeiten, die fast nie von den offiziellen gewerkschaftlichen Organen erwähnt werden, die aber dennoch in ihrem lokalen Aktionsfeld Respekt und Anerkennung geniessen.

Beispiel Opel Bochum
Überall predigte in den letzten Monaten die IG-Metall den Verzicht und entschied gleichzeitig ohne jegliche Rückfrage bei den Belegschaften über den konkret zu leistenden Verzicht. Das ist die normale alltägliche bürokratische Bevormundungspraxis der Einheitsgewerkschaften. Bei Opel Bochum organisierte die IG-Metall dennoch eine Mitgliederbefragung der Belegschaft, die sogar einmal wiederholt werden mußte, weil die Drohung einer massenhaften Mitgliederflucht im Raum stand. Die Abstimmung ging dann ganz knapp zugunsten der verzichtbereiten Mitglieder aus, aber sie hatte zumindest in der Belegschaft das Bewußtsein gestärkt, gehört und respektiert zu werden. Dennoch reicht das bei weitem nicht aus. Bei den Wahlen bei Opel in Bochum kandidierten insgesamt mehr als 1.100 Kandidaten bei einer Gesamtbelegschaft von 5.500 Beschäftigten.

Beispiel NCI-Netzwerk
Ganz anders sind natürlich betriebliche Praktiken, in denen innerhalb der Belegschaften freie Zusammenschlüsse, freie Kollektive entstehen, die Öffentlichkeit herstellen und neue Formen der Widerständigkeit entdecken und entwickeln. Ein gutes Beispiel ist hier die Belegschaft von Siemens in der Hoffmannstrasse in München und die Entstehung des nci-netzwerks. Inken Wanzek, als eine der Initiatoren in diesem Unternehmen, hat darüber einen Widerstandsroman geschrieben, der sehr genau in chronologischer Abfolge die Herausbildung und die Veränderung von Untertanenmentalitäten hin zu widerständiger Subjektivität entwickelt. Allein das dort geschilderte Verhältnis zu der Gewerkschaft ist fast ein Lehrbeispiel für die praktischen Schritte zur Herausbildung emanzipativer Verhaltensweisen, die sich aus der Umklammerung von gewerkschaftlicher Bevormundung befreien. Vorausgegangen war der Aufbau des heute größten Portals für kritische und unzufriedene Mitarbeiter eines einzelnen Unternehmens. Aus Angst um den Arbeitsplatz hatten im Herbst 2002 rund hundert Beschäftigte des Münchener IT-Riesen ein Netzwerk gegründet. Der Name war Programm: NCI steht für Network for Cooperation & Initiative und ergibt sich gleichzeitig, wenn man die Siemens-Netzwerksparte ICN rückwärts buchstabiert.

Beispiel Strike-Bike
Ein weiteres Beispiel aus der Geschichte der Nachwendezeit – die Auseinandersetzung der Strike-Bike-Belegschaft in Nordhausen in Thüringen. Das Werk sollte geschlossen und danach das übliche Prozedere abgewickelt werden. Die Gewerkschaft und der Betriebsrat verhandeln den friedlichen Ausstieg für die Belegschaft als einzig denkbaren und machbaren Ausweg. Aber diesen einzigen Weg anzuzweifeln, anzufangen Verweigerungsschritte zu unternehmen, den Betrieb nicht nur für die professsionellen Verwalter aus Gewerkschaftsapparaten und Anwaltskanzleien zu öffnen, bringt andere Menschen, Akteure und Ideen zusammen. Filme über Zanon, die von den Arbeitern übernommene Kachelfabrik in Argentinien, werden gezeigt. Die Arbeiter von Zanon produzieren seit sieben Jahren ohne Chef und mit einer neuen demokratischen Betriebsorganisation unter Kontrolle der Arbeiterversammlungen. Der Film über die legendäre Geschichte der Lip-Belegschaft aus Frankreich wird gezeigt, Alternative Gewerkschafter machen Hoffnung, dass auch hier vor Ort in Nordhausen ein solches Experiment gestartet werden kann und beteiligen sich an der praktischen Durchführung. In diesem Fall war es die FAU, die ihre gesamten Mitgliederstrukturen mit ihren internationalen Kontakten mobil machte, das labournet.de und alle die anderen Kräfte, die erkannt hatten, wie wichtig solche Experimente in dieser kapitalistischen Gesellschaft heute sind. Es gibt alternative Wege und Aktionsformen und es muss nur angefangen werden. Oberstes Ziel aber sollte sein, die Eigenaktivität der Belegschaften zu unterstützen, um eine Tür aufzustossen zu selbstbestimmender Produzentengesellschaftlichkeit.

Beispiel Hungerstreik bei VW in Hannover
Überall in den grossen Autobetrieben lohnarbeiten eine Reihe von befristet Beschäftigten, deren Verträge mit Beginn der Kurzarbeit sofort gekündigt wurden. Fast alle haben es stillschweigend hingenommen und den Betrieb verlassen. Bei VW in Hannover haben einige Kollegen beschlossen, diese Kündigungen nicht hinzunehmen. Mit Versammlungen, Demonstrationen und einem Hungerstreik vor dem Werkstor haben sie ihre Forderungen öffentlich gemacht und die meisten sind heute wieder im Betrieb oder haben zumindest Abfindungen vor Gericht erstritten.

Beispiel aus der Berliner Stadtgeschichte – Die Opposition bei BMW in Berlin-Spandau
Bei der Betriebsratswahl 1984 setzte die BMW-Werksleitung in Berlin alles daran, die Gruppe um Peter Vollmer zu entmachten, und unterstützte deren Gegner mit Reden und Wahlkampfbroschüren. „Klar, aus kapitalistischer Perspektive war das vernünftig“, sagt Vollmer heute mit dem Blick des Verstehenden. Als Vollmer und zwei weitere Gewerkschafter die Wahl anfochten, entließ die BMW-Leitung die drei kurzerhand mit dem Einverständnis des neu gewählten, firmenfreundlichen Betriebsrats. Was nun folgte, war grotesk: Ein Gericht entschied, dass Vollmer und Freunde wieder eingestellt werden müssten. BMW ließ die drei aber nicht aufs Werksgelände und sprach weitere Kündigungen aus, diesmal mit neuer Begründung. So ging das drei Jahre lang; Vollmer verlor insgesamt sieben Mal seinen Job. Stets bekamen die Gekündigten vor Gericht Recht, doch von ihrer Firma keinen Arbeitsplatz. Im Winter 1986/87 entschied die höchste Instanz im bundesdeutschen Klassenkampf, das Bundesarbeitsgericht, in den Fällen Vollmer und Kollegen gegen BMW: Die drei mussten endgültig weiterbeschäftigt werden, der Betriebsrat war neu zu wählen. Die Unruhestifter, die drei Jahre lang den Betrieb nicht hatten betreten dürfen, bekamen 45 Prozent der Stimmen. Ein Triumph.

Fazit
Nicht von ungefähr entdecken wir mit suchendem Blick in unterschiedlichen lokalen Zusammenhängen – regional und bundesweit – solche Initiativen, ausgehend oft von einzelnen Akteuren, die anfangen, sich oppositionell zu betätigen, ein anderes gewerkschaftliches und soziales Handeln zu praktizieren. Es gibt virtuelle Sammelstellen für diese Initiativen, die einen Überblick geben wie das www.labournet.de. Was fehlt, ist die solidarische Vernetzung und Diskussion über die verschiedenen Orts- und Betriebsgrenzen hinweg, um das Gemeinsame einer anderen Gewerkschaftspraxis herauszuarbeiten, die als Ziel hat, die gesellschaftliche Selbstverteidigung und Selbstermächtigung gegen die kapitalistische Lohnuntertänigkeit und alltägliche Demütigung zu fördern. Genau dieser praktische Schritt fehlt in der heutigen Landschaft. Dem Netzwerk der Gewerkschaftslinken gelingt es kaum, diesen Raum zu schaffen und eine solche Kraft zu werden. Dazu hängen die meisten der Aktiven zu sehr von dem etablierten Gewerkschaftsapparat ab oder sind zumeist nur in Betriebsratstätigkeiten aktiv, haben wenig Erfahrung mit der Ungebundenheit freier Kollektive und ungebundener alternativer Betriebsgruppen und interessieren sich auch viel zu wenig für die Erfahrungen und den Aufbau selbstbestimmter alternativer Praktiken gewerkschaftlichen Handelns.

Praktischer Vorschlag
Generalstände dieser verschiedensten lokalen Basis-Zusammenhänge und -Initiativen sind eine reale Perspektive, mit denen versucht werden kann, Menschen zusammenzubringen, die versuchen, die Vereinzelung zu durchbrechen, sich aktiv engagieren, sich selbstermächtigen. Diese Generalstände sollen kein Mittel sein, um die nächste richtige Partei für den echten und wahren Sozialismus aufzubauen, sondern gerade diesen Mut zum Herausspringen aus dem eisernen Panzer der untertänigen Lohnarbeit befördern. Sie sollen auch nicht dazu dienen, das nächste revolutionäre Übergangsprogramm zusammenzustellen. Sie sollen einfach dazu dienen, eine Ebene gesellschaftlichen Handelns zu schaffen und einen Prozess des individuellen und kollektiven Aufbegehrens zu befördern oder auch erst einmal nur zu initiieren und freizusetzen. Ohne diese rebellische Subjektivität bleibt die zu schaffende Produzentendemokratie unerreichbar.

Der Konflikt um die Nicht-Anerkennung der FAU als Gewerkschaft
Die Einheitsgewerkschaften sind nicht mehr unumstritten, sei es bei der Bahn und im gesamten Transportbereich, sei es auch im Kulturbereich. Viele nehmen diese Entwicklung kaum wahr, aber zumindest die Apparate der Einheitsgewerkschaften wie auch die Arbeitsgerichte spüren diesen Hauch der Geschichte, erleben ab und an in ihren Zusammenhängen und Räumlichkeiten diesen Geist des sich frei organisierenden gewerkschaftlichen Wollens. Wer diese Geschichte allein in Berlin genau verfolgt und in den letzten Jahren miterlebt hat, für den ist diese FAU-Geschichte keine Überraschung. Ein Teil der etablierten Gewerkschaftsapparate – von ver.di, über die IG-Metall zur Transnet – versucht mit allen Mitteln seine Monopolstellung in den Betrieben und Unternehmen gegen basisorientierte Akteure zu verteidigen.

Streiks bei der Lufthansa
Aktuell erleben wir die Konflikte bei der Lufthansa. Lufthansa will den nahenden Streik der Piloten und der Cockpit-Gewerkschaft verbieten lassen wegen des möglichen finanziellen Schadens für das Unternehmen. Das Unternehmen droht mit einer Millionenklage: „Wenn der Streik nicht abgesagt wird, werden wir Schadenersatzanspruch rechtsanhängig machen.“ sagt Lufthansa Arbeitsdirektor Stefan Lauer. Dieselbe Begründung benutzte die Deutsche Bahn beim Streik 2007 gegen die Streiks der GDL-Bahngewerkschaft. So soll versucht werden, das Streikrecht gerade von Gewerkschaften und Belegschaftsgruppen, die auch wirklich gewillt und entschlossen sind zu streiken, massiv einzuschränken. Es kommt nicht von ungefähr, dass es gegen die Piloten oder die Flugbegleiter geht, mit ihren von den ver.di-Gewerkschaften völlig unabhängigen Cockpit- und UfO-Gewerkschaften. Eigentlich müsste auch ein Aufschrei aus den Reihen der Einheitsgewerkschaften gegen solche Gefahren für die Einschränkung des Streikrechts kommen. Nein, eher hat mensch den Eindruck, ganz ähnlich wie beim richterlichen Vorgehen gegen die FAU, dass durch das Schweigen indirekt Unterstützung für dieses Vorgehen der Lufthansa-Führung signalisiert wird.

FAU, der Streit um die Verhältnisse im Berliner Kino Babylon und die Entstehung des Solidaritätskomitees für die Koalitionsfreiheit.
Genau dieses selbstständige und durchsetzungswillige Handeln der Belegschaft macht auch den Streit um das Berliner Kino Babylon so symbolisch über den lokalen Rahmen hinaus. Denn hier versucht eine Belegschaft sich zu organisieren und einen Haustarifvertrag abzuschließen, der sich an dem Tarifvertrag der Kino-Branche orientiert. Die Mehrheit der Mitglieder ist in der FAU organisiert und die ver.di-Gewerkschaft ist nur die Minderheit im Babylon. Ver.di hat trotzdem im trauten Linksklüngel mit Kinoleitung und Linkspartei – das Kino erhält öffentliche Förderung – einen Haustarifvertrag abgeschlossen, über die Köpfe der Belegschaft hinweg und ohne die FAU als Mehrheitsgewerkschaft einzubeziehen. Gleichzeitig hat das Berliner Arbeitsgericht der FAU die Tarifmächtigkeit abgesprochen und der FAU Berlin auch untersagt, als Gewerkschaft öffentlich aufzutreten. Das Agieren von ver.di in diesem Konflikt zeigt die Angst vor dem selbstständigen Handeln einer Belegschaft und vor der Unterstützung des Tarifkonflikts durch eine kleine überbetrieblich organisierte Gewerkschaft wie der FAU, die auch offen die Unterstützung solcher selbstständigen Aktivitäten als Zielsetzung fördern will.

Entlang dieses Konflikts und einer Veranstaltung in der Volksbühne zu der Verbotsdrohung gegenüber der FAU hat sich ein Soli-Komitee gebildet, das ähnlich wie in Fällen von Emmely und anderen gemeinsam das Koalitionsrecht zur Bildung unabhängiger Gewerkschaften verteidigen will.

Es kommt nicht von ungefähr, dass wie bei oppositionellen Listen in den Betrieben sofort der örtliche gewerkschaftliche Funktionärskörper reagiert und Mitglieder, die diese Vorgehensweise unterstützen, den Aufruf für Koalitionsfreiheit unterschreiben und sogar in dem Soli-Komitee sich engagieren, versucht zur Ordnung zu rufen. Aber solche Bündnisse sind einfach sichtbare praktische Antworten in Krisenzeiten, um den sich selbstorganisierenden Bewegungen und Individuen bestimmte Freiheiten zu sichern oder diese zu verteidigen und zu ermutigen. Die Entscheidungen des Arbeitsgerichts in Berlin zur FAU lesen sich auch tatsächlich wie eine Schrift zur Verteidigung des Monopolanspruchs staatstragender Gewerkschaften und der massiven Behinderung von gewerkschaftlichen Strömungen, die gerade die Autonomie des gewerkschaftlichen Handelns bevorzugen.

Appell an alle Mitglieder und Funktionäre der Gewerkschaften, an alle Anhänger/innen des Grundrechtes zur Bildung freier und unabhängiger Interessenorganisationen der abhängig Beschäftigten.
Für die Verteidigung des Koalitionsrechts – Aufhebung des Verbots gewerkschaftlicher Betätigung für die FAU Berlin.

In den letzten Jahren haben deutsche Arbeitsgerichte immer wieder versucht, das eh schon beschränkte Koalitionsrecht in Deutschland weiter einzuengen. 2007 traf es die Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (GdL), der wegen der „enormen Schadenshöhen“ Streiks im Fern- und Güterverkehr verboten wurden. Und wer hat noch den Überblick über all die Fälle, bei denen Unternehmer mit gerichtlichem Segen versucht haben, durch sog. Verdachtskündigungen die gewerkschaftliche Arbeit im Betrieb zu ersticken?
Diese unternehmergefällige Arbeitsrechtsprechung hat jetzt einen neuen Höhepunkt erreicht: Gerichte in Berlin haben massiv in einen Tarifkonflikt im Berliner Filmtheater „Babylon“ eingegriffen. Zuerst untersagte das Landesarbeitsgericht der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiterinnen und Arbeiter Union Berlin (FAU) den Aufruf zu einem Boykott ihres Unternehmers, des Kinobetreibers Neue Babylon GmbH. Hierzu hatten sich die Belegschaftsvertreter im Kampf gegen ihre Hungerlöhne entschlossen, nachdem der Geschäftsführer des Kinos jegliche Verhandlungen ablehnte. In einer Einstweiligen Verfügung erklärten die Richter, dieses gewerkschaftliche Kampfmittel stehe der FAU Berlin nicht zur Verfügung, da sie keine Tarifmächtigkeit besitze. Die Einstweilige Verfügung des LAG wurde dann in einer neuen Einstweiligen Verfügung auf Antrag des Kinos noch weiter verschärft. Darin verbot das Landgericht der FAU Berlin sich weiterhin Gewerkschaft oder Basisgewerkschaft zu nennen und sprach damit faktisch ein Verbot gewerkschaftlicher Betätigung gegen sie aus. Für den Fall, dass die FAU Berlin nicht in allen ihren Publikationen den Eindruck beseitige, sie mache gewerkschaftliche Arbeit, drohen ihren Sekretären ein Ordnungsgeld von 250 000 € oder sechs Monate Haft. Die Berliner Arbeitsrechtsentscheide betreffen nicht nur die FAU. Sie gehen alle an.
Nach ILO-Leitlinien und gemäß der Sozialcharta der EU ist eine Organisation eine Gewerkschaft, wenn sie von abhängig Beschäftigten freiwillig gebildet wurde, Gegner frei und sozialmächtig ist. All dies trifft für die FAU im Konflikt um den Haustarifvertrag im Kino Babylon zu. Eben deshalb hat das Unternehmen auch die Gerichte bemüht. Wegen fehlender Sozialmächtigkeit auf überbetrieblicher Ebene stellt das Gericht jedoch die Gewerkschaftseigenschaft der FAU Berlin in diesem Haustarifkonflikt nun in Frage. Würde eine solche Argumentation zu europäischem Recht, wären wichtige Teile der real existierenden Gewerkschaften in Italien und Großbritannien illegal. Auch alle in Branchen organisierten Gewerkschaften, die nur in bestimmten Betrieben tatsächlich handlungsmächtig sind, werden nun bedroht, weil sie auf Branchenebene faktisch nicht durchsetzungsfähig sind. Und die Bildung neuer Gewerkschaften in gewerkschaftlich nicht organisierten neuen Branchen im Kampf von Betrieb zu Betrieb wird damit völlig verhindert. Ebenso die Bildung allgemeiner Gewerkschaften, deren Tariffähigkeit vielleicht nur in anderen, als den umkämpften Branchen besteht.

In einer Zeit, in der Arbeitsverhältnisse immer prekärer werden, der gewerkschaftliche Schutz und die Tarifbindung in vielen Branchen oder Regionen schwindet, brauchen die abhängig Beschäftigten jedoch mehr denn je verlässliche Rechte, um sich dieser Entwicklung kollektiv zu widersetzen. Das Recht, sich in Gewerkschaften eigener Wahl zusammenzuschließen ist dafür von fundamentaler Bedeutung. Die aktuelle Arbeitsrechtsprechung erweist sich immer mehr als Versuch, dieses grundlegende Recht einzuschränken, seine Ausübung zu erschweren und letztlich zu vereiteln.

In Deutschland besteht das Gros der arbeitsrechtlichen Normen aus Richterrecht statt aus gesetzlich fixierten Normen, d. h. das Arbeitsrecht entwickelt sich ständig und ist beeinflussbar. Deshalb appellieren wir an die Mitglieder und Funktionäre, an die gewerkschaftlichen Gliederungen und Vorstände der Gewerkschaften und besonders der DGB-Gewerkschaften; deshalb appellieren wir an alle Anhänger/innen des Grundrechtes zur Bildung freier und unabhängiger Interessenorganisationen der abhängig Beschäftigten: Verhindert, dass aus dieser Einstweiliger Verfügung endgültiges Recht wird. Übt Solidarität, auch wenn ihr mit der gewerkschaftspolitischen Orientierung der FAU nicht einverstanden seid. Es geht um gemeinsame Grundrechte, die nur gemeinsam verteidigt werden können. Unterschreibt und verbreitet diesen Aufruf, mobilisiert eure gewerkschaftlichen Gremien, meldet euch in Unternehmen, in Medien und in der Politik zu Wort. Skandalisiert die Urteile der Berliner Gerichte.

Solidaritätskomitee
für gewerkschaftliche Freiheit

Willi Hajek ist Mitarbeiter des tie-Bildungswerks, Journalist und Autor, er lebt in Berlin.

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