Linke in Deutschland – Versuch einer Bilanz nach 20 Jahren

von Thomas Klein
aus telegraph 120 | 121

Vor 20 Jahren – mit dem Zusammenbruch der nominalsozialistischen Regime des sowjetischen Blocks und unmittelbar vor dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik – schien vielen Linken im Osten Deutschlands die Lage mit Blick auf die „West-Linke“ relativ übersichtlich: Die West-Linke war am Ende und die „Ost-Linke“ stand erst am Anfang.1 Doch diese Ost-Linke scheiterte gleich am Beginn ihres politischen Neuanfangs auf ganzer Linie: Nach über 40 Jahren Verfolgung und Dezimierung der antistalinistischen Linken durch die Apparate der herrschenden SED-Führung misslang der Versuch, die Anhänger einer demokratisch-sozialistischen Alternative zu Kapitalismus und SED-Politbürokratismus als souveräne politische Kraft zu konstituieren. Weder gelang die eigenständige organisatorisch-politische Reorganisation dieser Strömung, noch war sie erfolgreich mit ihren Interventionen hinein in die sich sozialdemokratisch umorientierende SED-Nachfolgepartei SED-PDS, noch konnte sie sich gegen die Ausgrenzungspolitik ihrer bisherigen Bündnispartner der radikal-demokratischen Opposition aus den Tagen der ´89er Herbstrevolution behaupten. So verschwand etwa die „Initiative Vereinigte Linke“ bereits Ende 1990 als politischer Akteur. Dagegen reüssierte die inzwischen zur PDS mutierte Altpartei als sozialreformistische Konkurrenz zur SPD und reintegrierte ein breites Spektrum von“ traditionsverhafteten“ Alt-SED-Mitgliedern und einigen Stalinisten bis hin zu linkssozialistischen Akteuren vorwiegend jünger Jahrgänge aus dem Osten. Der damals in der PDS beschworene antistalinistische und strömungspolitisch pluralistische innerparteiliche Konsens änderte nichts am kaderpolitisch geprägten überkommenen Organisationsprofil. Dies erleichterte übrigens einigen Akteuren des linken Flügels der GRÜNEN sowie des „Kommunistischen Bundes“ und anderen kommunistischen Kleingruppen aus Westdeutschland den Übertritt zur PDS, wo sie sich reibungslos in den Politikbetrieb einer mehr und mehr parlamentarisch-korporatistisch agierenden Partei auf dem Weg zur systemkonformen Machtteilhabe einfügten. Die eigenständige politisch-organisatorische Formierung einer antistalinistischen Linken für eine demokratisch-sozialistische Systemalternative nunmehr im gesamtdeutschen Maßstab gegen den siegreichen real existierenden Kapitalismus und in einem internationalistischen Selbstverständnis fand nicht statt.

Inzwischen hatte die ehedem systemkritisch agierende Partei DIE GRÜNEN ihren linken Flügel gleich nach der Wiedervereinigung abgestoßen, sich radikal von ihren politischen Wurzeln der 80er Jahre („sozial, ökologisch, basisdemokratisch, gewaltfrei“) und ihrem Selbstverständnis als parlamentarischer Arm der außerparlamentarischen „Neuen Sozialen Bewegungen“ („Anti-Parteien-Partei) „emanzipiert“. Nebenbei wurde das Mehrheitsspektrum der alten DDR-Opposition in Gestalt des „Bündnis 90“ mitsamt den Ost-Grünen assimiliert und neutralisiert. Die grüne „Realo-Partei“ konkurriert heute als systemkonforme Reformpartei mit der FDP um den Beifahrersitz neben der SPD und neuerdings der CDU. Man darf vermuten, dass die Parallel-Symbiose von PDS und den desillusionierten West-SPD-Dissidenten (WASG) zur gesamtdeutschen „Partei Die Linke“ nicht (wie die GRÜNEN) mehr als 10 Jahre braucht, bis sie sich in diesen stromlinienförmigen Wettbewerb auf dem politischen Markt parlamentarischer Stellvertreterdemokratie um die effektivste Moderation des bestehenden Systems einklinkt.
Die radikale „Nie-wieder- Deutschland“ – Linke hatte schon 1990 ihre Ratlosigkeit angesichts des beginnenden Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik demonstriert. Dabei blieb es nicht bei der historizistischen Projektion eines vermeintlich aus der Vereinigung neu entstehenden „Vierten Reiches“: Die Raketenangriffe des üblen Diktators Saddam Hussein auf Israel während des „Zweiten Golfkriegs“ 1991 und seine Drohung, gegen Israel chemische Waffen einzusetzen, brachten in Erinnerung, dass zuvor „Deutschland“ in den 80er Jahren den Irak in seinem Krieg gegen den Iran („Erster Golfkrieg“) militärisch belieferte – auch mit Giftgasanlagen und technologischem Know how vom Thyssen-Konzern zur Erweiterung der Reichweite sowjetischer Scud-Raketen, die dann später gegen Israel flogen. Die frühe „antideutsche“ Denkfigur der Vollendung nazideutscher Vernichtungspläne nun in Gestalt eines Gaskriegs des „neuen Hitlers“ Saddam Hussein gegen Israel verband sich mit einem Totalverriss der in Deutschland damals gegen den US-Bombenkrieg gegen den Irak demonstrierenden Friedensbewegung, welche in diesem Bild zum Komplizen des schnauzbärtigen Diktators geworden war. Dass deutsche Waffenproduzenten während des Irak-Iran-Krieges sehr gewinnbringend beide Seiten belieferten, mit der Schwächung der kriegsführenden Länder auch die OPEC geschwächt und der Ölpreis zum Vorteil der kapitalistischen Industrieländer in den Keller getrieben wurde, blieb außerhalb des verfehlten antideutschen Interpretationsrasters einer deutschen Begünstigung irakischer Angriffsphantasien auf Israel. So war es fast schon folgerichtig, dass in dieser antideutschen Strömung in den Folgejahren der Krieg der Bush-jr.-Administration gegen den Irak („Dritter Golfkrieg“ 2003) befürwortet und zunehmend jede Kritik an der israelischen Besatzungspolitik oder dem israelischen Angriff auf Gaza 2008/09 in einen antisemitischen Kontext gerückt wurde. Heute agitieren einige „antideutsche“ Prediger inzwischen nicht nur „prowestlich“ und kriegsbegeistert, sondern vermehrt sogar schon prokapitalistisch. Mitunter geht dies in radikaler Umkehrung ursprünglich antinationaler und originär antideutscher Positionierungen der frühen 90er Jahre einher mit einer Parteinahme nun für eine erwünschte militärische Teilhabe Deutschlands an der „Befriedung“ des Irak. Dass dieser seltsame Weg antideutscher Ideologie hin zu einer positiven Konnotation von NATO, Bundeswehr und des US-amerikanischen „Krieges gegen den Terror“ auch von ganz anderen „linken“ Initialpositionen aus gefunden werden konnte, zeigt ein Blick zurück in die Geschichte: Die neutral-nationalistische Ausrichtung der 1970 gegründeten rechtsmaoistischen KPD/AO gegen die „Supermächte“, welche die „Deutsche Nation“ unterdrückten, wogegen die KPD´ler für ein „unabhängiges, vereintes und sozialistisches Deutschland“ eintraten, wurde 1975 nach dem Besuch des Parteivorstands in Peking modifiziert: Weil nun der „sowjetische Sozialimperialismus und Sozialfaschismus“ als weltweiter Hauptfeind identifiziert werden konnte, müsse auch die nationale Bourgeoisie wachsam sein. Daher seien NATO sowie Bundeswehr als „Bollwerk“ gegen diesen Hauptfeind anzuerkennen und militärisch zu stärken. Viele KPD´ler gingen 1980 nach der Parteiauflösung zu den GRÜNEN und stärkten deren Realo-Flügel. Auch diese GRÜNEN gaben in den 90er Jahren dann ihre neutral-pazifistische Anti-NATO-Linie der 80er Jahre auf, übernahmen 1999 als Regierungspartei Mitverantwortung für den völkerrechtswidrigen Einsatz der Bundeswehr in Jugoslawien – allerdings mit dem starken Argument, sich nach Ausschwitz jeder Appeasement-Politik gegenüber dem Terror jugoslawischer Militäreinheiten im Kosovo verweigern zu müssen – und befürworteten die Teilnahme deutscher Truppen am Afghanistan-Krieg. Ansonsten halten sie als ehemalige Regierungspartei eine dicke Aktie am Angriff der SPD auf den Sozialstaat. Links waren die GRÜNEN/Bündnis 90 schon lange nicht mehr.

Im linksradikalen „Gegenlager“ der Antideutschen, den „Antiimps“, geht zuweilen die Parteinahme für die Palästinenser mit einer intolerablen Gleichgültigkeit gegenüber manifest antisemitischen Tendenzen einher. Unbegreiflich ist auch die Gleichgültigkeit gegenüber reaktionären mit religiös-fundamentalistischen Positionen untersetzten Angriffen auf das Existenzrecht Israels seitens einiger propalästinenstischer Strömungen. Dies zieht folgerichtig eine Entwertung der in großen Teilen berechtigten Kritik an der Besatzungspolitik und den brutalen und menschenrechtswidrigen militärischen Operationen Israels nach sich. Der zu verurteilende Raketenterror der fundamentalistischen Hamas und der Hisbollah gegen die israelische Zivilbevölkerung hat in Gestalt der Opfer israelischer militärischer Gegenschläge stets mehr Verluste unter der palästinensischen Bevölkerung gefordert, als umgekehrt. Doch wer etwa die zuweilen unsägliche und verharmlosende Berichterstattung in der „jungen welt“ über das fanatische antiisraelische Mullah-Regime im Iran verfolgt, findet so die in der gleichen Zeitung vorfindliche Israel-Kritik diskreditiert. Nicht von ungefähr finden In dieser Zeitung auch die Schönredner DDR-deutscher Staatlichkeit ein Podium. Dabei sind noch nicht einmal die dort veröffentlichten häufigen Wortmeldungen ehemaliger Verantwortungsträger des DDR-Sicherheitsapparats besonders hervorzuheben, denen die mitunter haarsträubenden Elaborate des antikommunistischen publizistischen Mainstreams immer wieder Gelegenheit geben, ihre damalige Tätigkeit mit Hilfe dieser Zeitung in ein günstigeres Licht zu rücken. Wegen derartig dubiosem Journalismus verliert nur die mitunter treffsichere Kritik am zeitgenössischen Opportunismus der Linkspartei und den Obszönitäten des real existierenden Kapitalismus an Glaubwürdigkeit. Dabei ist die „junge welt“ Sprachrohr für eine stärker werdende sich links etikettierende reaktionäre Strömung. Hier findet der fatale Hang, das eigene Selbstverständnis als „radikal-antikapitalistisch“ mittels affirmativer Beschönigung des DDR-Nominalsozialismus verstärken zu wollen, inzwischen veritablen Zuspruch bei einigen jungen Linksradikalen. Die „Verteidigung der DDR ohne wenn und aber“ durch einen ehemaligen Offizier der NVA und heutigen Mitarbeiter der „jungen welt“ sowie Mitglied der „Kommunistischen Initiative“, für welche das Verhängnis 1956 mit dem „Verrat Chruschtschows an Stalin“ begann – so etwas konnte im Jahre 20 nach dem Ende des SED-Politbürokratismus die Offerte altstalinistischer Provenienz an die „Radikale Linke“ – West sein.2 Solche im Umfeld der alten SED-Nomenklatura wurzelnden Bünde wie „Rotfuchs“, „Offen-siv“ oder die „Kommunistische Initiative“, für die mitunter sogar die DKP als „revisionistisch“ firmiert, hatten bisher in Gestalt verschiedener Kleingruppen des Ostens ein Schattendasein geführt und sehen jetzt gute Aussichten, ihre „Westausdehnung“ in dieses politische Milieu hinein zu vollziehen. Ganz offensichtlich ist im Jahre 2010 der Ekel vieler Linker vor den medialen Inszenierungen gesamtdeutscher Feierseligkeit von Mauerfall und Wiedervereinigung eine Quelle zeitgenössischen Unbehagens. Da diese Inszenierungen wesentlich von der anhaltenden Indienststellung des Feindbildes „DDR“ in den Begriffen des gegenwärtigen Antikommunismus leben und dieses Bild den von Altstalinisten präsentierten Blödsinn nicht selten noch übertrifft – natürlich im Sinne der ideologischen „Gegenrichtung“ – erklärt sich das plötzlich erwachte Interesse gerade von „Westlinken“ an der früher so tapfer ignorierten DDR sofort von selbst. Hinzu kommt, dass die anhaltende Ohnmacht angesichts der Obszönitäten globalkapitalistischer Barbarei heute das Bedürfnis vieler (vor allem junger) Linksradikaler anfeuert, sich wieder auf die Suche nach Identifikationsmustern und Orientierungshilfen zu begeben. Ist dies die Erklärung für das dabei entstehende geschichtslose, autoritätsgläubige, unkritische und affirmative DDR-Bild? Was soll man zu dieser Strömung in der zeitgenössischen Linken sagen, die nur noch militant, aber nicht mehr radikal ist – auch, weil sie sich weigert, nach den Wurzeln dieses DDR-Systems und der wirklichen Funktion der herrschenden SED-Parteiführung zu fragen? Was wird man von dieser „linken“ Tendenz erwarten können, wenn es heute um die Frage einer neuen linken politischen Kraft jenseits von Links-Partei-Sozialdemokratie und K-Gruppen-Sektiererei geht? Wir hatten das alles schon mal – etwa in Gestalt der erwähnten maoistischen K-Gruppen der 70er Jahre, deren Kompass allerdings auf Peking oder Tirana ausgerichtet war. Die damaligen und heute gewendeten Parteigänger des Maoismus findet man inzwischen übrigens vielfach in der Phalanx des prowestlichen Antikommunismus wieder. Wenn auch heute neuerlich der primitive Automatismus „Der Feind meines Feindes kann nur mein Freund (gewesen) sein“ das Hirn vernebelt, kann nur ein reaktionäres Gemisch herauskommen – heute als Einvernehmen ehemaliger stalinistischer Systemwahrer mit vermeintlich linksradikalen Gegnern des real existierenden Kapitalismus. Auf diesem Level sind offenbar einige Fraktionen des „Linksradikalismus“ wieder bereit, ihren Frieden mit dem historischen Stalinismus zu machen.3 Dieser zeitgenössische Philostalinismus ist aber heute nicht allein ein unbewältigtes historisches Erbe, sondern hat sehr gegenwärtige Wurzeln und droht erneut, zu einer politischen Praxis und Theorie neostalinistischer Provenienz zu werden.4

Bedeutsamer noch für den Niedergang der (westdeutschen) Linken in den 90er Jahren war die bereits Ende der 80er Jahre begonnene teilweise Abwendung von der „sozialen Frage“, von sozialen Protestbewegungen, die nach dem Anschluss der DDR vor allem im Osten Deutschlands aufflammten. Hinzu trat die Kapitulation vor der neuen Herausforderung, eine Analyse der dominierenden neoliberalen Strategien beginnender kapitalistischer Globalisierung mit der Suche nach neuen Antworten auf die Frage wirksamer gesellschaftlicher Gegenwehr zu verbinden. Karl Heinz Roths Versuch von 1993, die Anatomie der sich herausbildenden neuen postfordistischen Akkumulations- und (De)regulationsregime als Springpunkt für eine Klassenanalyse und die Identifizierung der Träger einer Gegenwehr im Feld der entstehenden neuen gesellschaftlichen Zwangsverhältnisse zu nutzen5, verlief im Sande.
Und was ist eigentlich mit den Autonomen? Seit den 70er Jahren waren sie mit ihrer sehr lebendigen Subversionsmentalität und ihrer kompromisslosen politischen Moral eine veritable gesellschaftliche Herausforderung. Die manifeste Verachtung der Autonomen gegenüber den staatstragenden Parteien wurde selbstverständlich auch auf die parteiförmig agierende Linke egal welcher Couleur erweitert. In (West-)Deutschland erreichten sie anders als in Italien nie gesellschaftlichen Impact jenseits ihres eigenen Milieus. Ihr nomineller Verzicht auf den Anspruch einer revolutionären Veränderung der ganzen Gesellschaft zugunsten der Selbstverwirklichung in kollektiven Alternativprojekten und deren Verteidigung gegen Staat und Gesellschaft täuscht jedoch: Die (in weiten Teilen) zutreffende Einschätzung, Autonome würden nur dann in die Offensive gegen die Staatsmacht gehen, wenn Letztere deren autonome Strukturen und Lebenswelten angriffen, kann durch eine Vielzahl von Gegenbeispielen relativiert werden, die aber gleichzeitig belegen, dass dieses Spektrum keineswegs so apolitisch war, wie ihre Staats- und Parteienverachtung es vermuten lassen. Jedoch schon 1997 lautete das vernichtende Urteil eines „Insiders“: „Nein, ein Gesellschaftsschreck sind die Autonomen nicht mehr. Stattdessen haben sie in vielen Bereichen, so sie da und dort noch öffentlich auftauchen, die Rolle des demokratischen Gewissens in diesem Land übernommen. Dass aber dieser Umstand in der politischen Praxis von Autonomen noch nicht einmal als ein Problem begriffen wird, ist eine gesellschaftstheoretische Bankrotterklärung.“6

Im neuen Jahrtausend könnte man es sich leicht machen mit einem vernichtenden Befund: Die Linken haben heute weder eine gemeinsame politische Strategie noch ein konsistentes Mobilisierungskonzept. Sie haben noch nicht einmal eine halbwegs übereinstimmende Lagebeurteilung. Hinsichtlich des sonst so motivierenden Weckrufs der Linken „das System steckt in einer tiefen Krise“ hat es sich die Kapitalfraktion und die ihr verpflichtete politische Klasse diesmal nicht nehmen lassen, diesen Ruf lauter und eher abgesondert zu haben, als die „Systemumstürzler“. Die Systemwahrer konnten das gefahrlos tun, ohne dieses System zu gefährden und sie tun es, weil sie durch die dadurch angefeuerte Entbehrungsbereitschaft der sowieso schon sozial Deprivilegierten sogar noch verdienen. Ihr Krisenmanagement ist ziemlich optimal: Während sie uns allen das Steuergeld für die maroden Banken aus der Tasche ziehen, werden Steuererleichterungen versprochen, statt explodierender Arbeitslosigkeit regiert die Kurzarbeit, die SPD wurde durch eine liberalere Schonvermögensregelung bei Hartz IV blamiert usw. Weitgehend sprachlos steht die Linke in Gänze der Tatsache gegenüber, dass die CDU gegen die FDP Reste des Sozialstaats verteidigt. So profilierte sich die CDU gegen die Aufhebung des Kündigungsschutzes und Einschränkungen der Mitbestimmung. Die großen Gewerkschaften hatten sich schon lange auf Aushandlungsprozesse mit der Unternehmerseite beschränkt. Betrieblicher Widerstand und überbetriebliche Mobilisierung sind zu Fremdworten geworden – auch und gerade in der Krise.

Während die Trotzkisten vor Jahrzehnten vergeblich mit ihrem auf die SPD gerichteten Entrismus versucht hatten, dort Boden zu gewinnen, wollen die SPD und inzwischen auch die GRÜNEN sowie DIE LINKE mittels staatsinterventionalistischem Entrismus das Herz der Bestie erobern. Während die Trotzkisten auf ihre Weise die außerparlamentarische Opposition in den 70er Jahren obskuren maoistischen Sekten überließen, sehen einige von ihnen (SAV) heute mit ihrem nun auf die LINKE gerichteten Entrismus nicht besser aus. Inzwischen haben sich SPD, LINKE und GRÜNE weitgehend von Basisbezügen emanzipiert und sehen dort stattfindende Radikalisierungen als Teufelswerk an. Die SPD ist inzwischen noch nicht einmal mehr sozialdemokratisch und bemüht sich gerade, diesem Eindruck verbal entgegenzuarbeiten. Die zeitgenössische Sozialdemokratie namens „Die Linke“ ringt mit der Frage, ob sie parteiprogrammatisch den alten Abstand zur SPD behaupten oder sich ihr zeichenhaft noch mehr annähern soll. Jedenfalls beschränkt sich ihr binnenpolitischer Kurs darauf, in angestrebten Koalitionen mit der SPD und den Grünen künftig den real existierenden Kapitalismus sozialverträglich zu moderieren. Das könnte sie eigentlich auch mit der CDU versuchen – die SPD hat es vorgemacht. Schon jetzt setzt die LINKE in Berlin mit der SPD die neue Sozialordnung um und versucht im Namen des Schlimmen das Allerschlimmste zu verhindern. Man sollte ihr dazu viel Glück wünschen, aber nicht mehr in diese Partei hineingeheimnissen, als was in ihr ist. Unter den Großparteien artikuliert sie am deutlichsten den Wunsch der Mehrheitsbevölkerung nach Erhaltung des Sozialstaats. Doch sie beschäftigt sich nicht mit der Stärkung basisverankerter gesellschaftlicher Gegenmacht – ihre zahlreichen Ortsgruppen haben mit den entstandenen und entstehenden Sozial- und Antikrisenbündnissen wenig zu tun. Schon eher macht die LINKE (wenn auch missmutig) bei der Privatisierung öffentlichen Eigentums, dem „sozialverträglichen Sozialabbau“, der Schließung von Jugend- und Kultureinrichtungen usw. mit, sobald sie am Regulierungsgeschäft beteiligt wird. Und doch ist gerade angesichts des Zustands der SPD ihre nun bundesweite Existenz ein Fortschritt. Mehr noch: Sie repräsentiert mit allen ihren Defekten, Halbheiten und ihrem Opportunismus weitgehend den heutigen Zustand „der Linken“ in Deutschland.

Was macht nun die „Radikale Linke“, ob aktionistisch, bewegungspolitisch, interventionalistisch, autonom oder sektiererisch gestimmt? Es dürfte in Deutschland hunderte solcher linksradikalen Gruppen geben – alle von mehr oder weniger flüchtiger Konsistenz. Den Überblick hat niemand. Teilweise durchaus in beachtlichem Maße mobilisierungsfähig, wie anlässlich regelmäßiger Großevents (Heiligendamm, Überwachungsstaat, Hartz IV) sichtbar, bleiben sie jedoch ohne langfristige Strategie und betonhart verhaftet in ihren Milieus – zum Teil regelrecht gesellschaftsfeindlich. Es erhebt sich die Frage, welche Gründe die permanent aufrechterhaltene Trennung der Strukturen eigentlich hat und wer daran interessiert ist. Es wäre gegenwärtig völlig falsch, der LINKEN mit einer linksradikalen Wahlalternative gegenübertreten zu wollen. Eher ist es sinnvoll, mit jenen Strömungen in dieser Partei zusammenzuarbeiten, die den parteistrategischen Konsens überschreiten. Das Kampagnenkonzept der aktionistischen Linken setzt wiederum auf die kurzfristige Verschärfung der sozialen Spannungen. Damit wird sie scheitern – nicht nur deshalb, weil die Kapitalfraktion nicht mitspielt. Es wäre nötig, den immer größer werdenden Aktionsraum zu besetzen, welcher durch die zunehmende Entfremdung der Großparteien von der Mehrheitsbevölkerung entsteht.7 Die Massendemonstrationen anlässlich der Hartz IV-Proteste 2004 haben dies gezeigt. Auf der Tagesordnung steht die Suche nach neuen Formen basisdemokratischer Selbstorganisation einer außerparlamentarischen Linken, die ihre Zersplitterung aufzuheben imstande ist und Anschluss findet an soziale Protestbewegungen, ohne diese vereinnahmen zu wollen. Dabei ist die Abgrenzung gegenüber rechtsradikalen Strömungen nicht bloß eine Frage der eigenen politischen Identität. Wie sieht es mit der Frage des Pluralismus in einer künftigen organisierten linksradikalen Basisbewegung aus? Wie bestimmt sie ihr Verhältnis zu den zentralistischen Parteien? Welche Vermittlungsspielräume kann sie anerkennen? Dies sind nur einige der vielen Fragen, die beantwortet werden müssen, bevor Linke an einer auf der Tagesordnung stehenden neuen außerparlamentarischen Opposition sinnvoll mitzuwirken imstande sind. Sie hat, nicht nur im übertragenen Sinne, wieder ganz unten anzufangen.

1 Thomas Klein, Geteilte Linke im Vereinigten Deutschland? In: Weltbühne Extra, Berlin 1990, S. 881 – 895; Nachdruck in: Die Aktion 70/72 und 73/75 1990/91 sowie Dritter Weg, Berlin 1991; Odranol, Hamburg 1992, S. 123 – 141 (erweiterte Fassung)
2 DDR- die radikale Linke und der realsozialistische Versuch. Eine Veranstaltung der Antifaschistischen Revolutionäre Aktion Berlin im Kreuzberger KATO am 17. Januar 2010.
3 Was war die DDR? Vortrag von Inge Viett auf der Veranstaltung „DDR- die radikale Linke und der realsozialistische Versuch“ von 17.1.2010, junge welt vom 26.1.2010. Siehe auch „Die Machtfrage war längst entschieden“, Gespräch Arnold Schölzels mit Till Meyer, junge welt vom 17.3.2010.
4 Vgl. dazu auch: Christoph Jünke, Vergangenheit, die nicht vergeht. Über den langen Schatten des Stalinismus.
www.sopos.org/aufsaetze/49942b7b40c8a/1.phtml
5 Karl Heinz Roth (Hrsg.), Die Wiederkehr der Proletarität. Dokumentation der Debatte, ISP, Köln 1994.
6 Geronimo, „Glut und Asche“, Münster 1997, zit. nach TAZ vom 28.10.1997, S.17.
7 Michael Prütz, Die aktuelle Lage, die Linkspartei und die radikale Linke, www.linkezeitung.de/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=7497&Itemid=
187 18.10.2009.

© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph