Losgehen und ankommen – oder war da noch was?

aus telegraph #3 _ 1999
von Katharina Lenski

Im Juni 1999 jährte sich zum zwanzigsten Male ein Ereignis, welches die alternative Jugendszene der DDR zutiefst beeinflußte und zur Formulierung des Anders-Seins beitrug:
Nach JUNE 78 fand im Juni 1979 in Rudolstadt JUNE 79 statt, von der Staatsmacht ebenso bekämpft wie von der Kirche: Ein Festival von über tausend Jugendlichen, die sich zu großen Teilen am Rand des Systems fanden, da sie anders waren oder sein wollten.

Aus diesem Anlaß erarbeitete das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ gemeinsam mit Zeitzeugen eine Fotoausstellung mit ausgewählten, hauptsächlich authentischen Texten. Sie titelte „Losgehen und Ankommen“, denn dies war bezeichnend für die Kultur dieser Jugendlichen am Ende der siebziger Jahre. Die Ausstellung wurde erstmals im Juli 1999 zum Folklorefestival in der Stadtkirche Rudolstadt gezeigt, welche authentischer Ort des damaligen Geschehens und damit für die Reflektion von JUNE bestens geeignet war, zumal ein verhältnismäßig großes Publikum erreicht wurde: rund eintausend Besucher schauten die Ausstellung an. Gleichzeitig legte das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ einen Text-Bildband vor, in dem neben der authentischen die Schattengeschichte von JUNE beschrieben wird; durch zahlreiche Fotos werden die Widersprüche und die Lebenskultur der damaligen Zeit illustriert und nachvollziehbar. Die Geschichte der Jugendlichen, ihre Situation und ihre Inhalte werden neben die Verhinderungsmechanismen des Staates, des MfS und dessen Vertreter in der Thüringer Landeskirche gesetzt. Die grafischen Darstellungen, welche auf der Analyse des (an das Archiv im Rahmen der Ausstellungsvorbereitung übergebenen) Quellenmaterials basieren, vertiefen den Eindruck, daß die Obrigkeit gegenüber neuen Formen des Miteinander hilflos erschien. Allerdings beweisen sie den überaus großen Machtradius des Staates. Das Nebeneinander der verschieden Ebenen zeugt aber auch von den Hoffnungen der Jugendlichen und dass es immer Möglichkeiten außerhalb der vorgegebenen Normen gibt. Auch dann, wenn scheinbar nichts geht.

Die Reaktionen auf Ausstellung und Bildband lassen vermuten, dass viele derer, welche an JUNE teilnahmen, insgeheim oder offen wünschen, dass dieses Lebensgefühl des freundschaftlichen und toleranten Umgangs und der Hoffnung auf gerechtere Verhältnisse wieder mehr Nahrung bekommt. Dass dies nicht ausreichen wird, ist den derzeitigen Verhältnissen geschuldet. Aber es wäre hilfreicher als Lamentos. Denn: „War da nicht noch was ?“

Die Menschen, welche damals aufbrachen, sind heute – wenn nicht in alle Winde verweht – an einzelnen Ecken und Kanten der Gesellschaft zu finden. Dies scheinbar meist als
Einzelpersonen; das Alter macht es eben auch, dass einst gemeinsame Wege sich trennten
und in dörflichen Strukturen wie in Thüringen neue Mitstreiterinnen schwerlich zu finden sind.

Andere sind bequem, ressentimentbeladen geworden, man hat seine Existenz gesichert –
man kann zufrieden sein. Man hat sich eben eingepasst – schließlich kann man auch nicht immer dagegen sein. Leider ist nicht erkennbar, wenn nicht dagegen, wofür diese Ehemaligen sind. Ein tiefer Graben zieht sich durch die alte und die neue Szene, durch die Szene vor 89 und die nach 89. Nur wenigen aus der alten Szene scheint es vergönnt, den Kulturschock aktiv zu verarbeiten, aus der sozialen oder politischen Lähmung herauszutreten und konstruktive Gesellschaftskritik zu praktizieren oder gar Alternativen aufzubauen.

Die Nachgewachsenen sind anders geprägt, setzen andere Schwerpunkte, werden von anderen Ängsten verfolgt und von anderen Sorgen geplagt. Sie sprechen eine völlig andere Sprache.

Das Gefühl, eine Macht darzustellen, die durchaus antiquierte Gesellschaftsgefüge ins Wanken bringen kann, indem jede und jeder Einzelne an seinem oder ihrem Platz sich nicht mit dem zufrieden gibt, was satt und frech die Bestimmung über andere beansprucht: Dieses Gefühl braucht Menschen, die „…gemeinsam auf die Piste gehen…“, die über die Immanenz hinausgehen.

Dass ein Aufbruch überfällig ist – darin werden viele übereinstimmen. Die Vorarbeiten für einen gemeinsamen Aufbruch allerdings sind unspektakuläre Schritte, die keinen Ruhm einbringen. Aber auch die JUNE-Leute waren anfangs eine kleine Gruppe. JUNE konnte weder auf politischer Ebene noch auf organisatorischem und finanziellem Gebiet auf Unterstützung hoffen. Allerdings hatten sie im Bauch, dass etwas passieren muss, als es soweit war. Und sie arbeiteten dafür. Und: trafen den Nerv des Staates, obwohl sie nicht gerechnet hatten, ihn so empfindlich zu treffen. Viele Jugendliche wurden so tief durch JUNE geprägt, dass sie sich Besseres vorstellen konnten als den immerwährenden Tanz um den goldenen Ährenkranz. Der Tanz ums Goldene Kalb hat immerhin erst begonnen. Auch nach zehn Jahren. Doch: war da nicht noch was?

Die Ausstellung wird an weiteren Orten gezeigt werden, über genaue Termine und Orte ist derzeit noch nicht entschieden. Die nächste Station wird voraussichtlich am Ende des Jahres in Weimar sein. Anfragen zur Ausstellung können an unten genannte Adresse gerichtet werden. Wer vorher schon etwas über JUNE erfahren möchte, kann sich für 10.- DM + 5,- Porto / Verpackung den Bildband vom Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ zuschicken lassen. Adresse: Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“, Schmölln 15, 07768 Hummelshain, Telefon & Fax: 036424/54319

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