Störung des sozialistischen Zusammenlebens

Editorial
aus telegraph #3 _ 1999

Kordhütchen, Pioniertuch und Bomberjacke bzw. Puhdys, Helga Hahnemann und Klaus Renft Combo _ so in etwa stellen sich die meisten westdeutschen Poptheoretiker und Feuilletonisten die popkulturelle Seite des „Sozialismus in den Farben der DDR“ dar. Wenn man dem glaubt, muss ein Wochenende in der DDR ganz schön langweilig gewesen sein, auf jeden Fall un-funky. Während Subversion und Popkultur – á la „Sympathy for the devil“ oder „Kill the nation with a groove“ – im Westen ein festes Paar waren, scheint im Osten auf dem Feld nur gähnende Leere geherrscht zu haben.

Der neue telegraph zeigt nun, wie es wirklich war. Der Osten war einfach geil. In der DDR haben erlebnishungrige junge Menschen 40 Jahre lang erfolgreich „Saturday Night Fever“ mit „Störung sozialistischen Zusammenlebens“* gekoppelt und die Resultate lassen sich sehen. Die „Szene“ war dabei nicht nur kulturell immer auf der Höhe der Zeit, sondern sie hat es darüber hinaus – trotz äußerer Ähnlichkeiten mit westdeutschen Vorbildern – geschafft, ganz eigene Formen von Subkultur zu entwickeln. Wie diese aussahen, beschreiben verschiedene Autoren in diesem Heft. Jazz, Fußball, Punk und Festival des politischen Liedes waren in der DDR gar nicht artig. Dass sie daher um so cooler waren, liegt in der Natur der Sache. Dass sie sich immer gegen die Staatsmacht durchsetzen mussten auch.

Wo dabei der Unterschied zu heute liegt, wird in dem Artikel von Andrej Holm deutlich, der das Zusammenwirken von Szene und Kapitalismus bei der Umwandlung von Berlin-Mitte zum Yuppieviertel untersucht. Auch Bert Papenfuß legt ein klares Resümee vor: „Der Blues muss bewaffnet sein“.

Der telegraph ist 10 Jahre alt geworden.
Am 9. Oktober 1989 erschien die erste Ausgabe. Mit diesem Heft sind bisher 99 Ausgaben erschienen. In der Kolumne wird diesem Ereignis gedacht.

Bis zum nächsten Heft Eure telegraph Redaktion

* Paragraph aus dem DDR-Strafgesetzbuch

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