Kultur

Der Traum vom glatten Haar

„Pelo Malo“ Venezuela, Deutschland 2015, Buch und Regie.: Mariana Rondón

Von Angelika Nguyen

PeloMalo

„Ich habe dich nicht lieb.“ sagt der 9jährige Junior zu seiner Mutter in der Küche in einem dicht bevölkerten Viertel in Caracas. „Ich dich auch nicht.“ antwortet die Mutter. Wann saßen sich in einem Kinofilm jemals Mutter und Sohn so unerbittlich gegenüber? Wann meinte je ein Dialog genau das, was er sagt und gleichzeitig das Gegenteil?

Die Szene spielt sich kurz vor dem Ende der melancholischen Geschichte um den Jungen Junior ab, der nichts so sehr ersehnt wie glatte Haare, denn die Krause, ein Erbstück seines toten schwarzen Vaters, stigmatisiert ihn, macht ihn zu einem „Pelo Malo“, ein soziales Schimpfwort in Venezuela. Junior will lieber solche Haare wie der Junge auf dem Poster beim Fotografen; weiche Haare, durch die der Wind wehen kann, Haare ohne spröde Sturheit. Pelo Malo (übersetzt „Krankes Haar“, „Schlechtes Haar“) ist die diskriminierende Bezeichnung des Kraushaars schwarzer Menschen.

Die junge Mutter, die selbst glattes Haar hat, versteht ihren Sohn nicht, will ihn aber auch nicht verstehen. Sie will ihn hart machen, „männlich“-widerständig in der rauen Welt von Caracas, sie glaubt, ihn bei solch traditionell „weiblichen“ Sorgen nicht unterstützen zu dürfen. Am Ende hält man ihn noch für schwul, klagt sie der Großmutter. Das würde ihn angreifbar machen in der Machowelt, die sie umgibt. Eine Mutter, deren Liebe sich in Lieblosigkeit ausdrückt und ein Sohn, der ihre Liebe ersehnt und sich wiederum schon früh um sie und sein kleines Geschwisterkind sorgt.
Zwei, die einander nicht helfen können.
Der Film, scheinbar ein Sozialdrama, berührt mehr als den Überlebenskampf in Venezuela und die Schulhofängste eines Jungen, er thematisiert im Subtext ein pan-amerikanisches Erbe und dessen psychosoziale Folgen bis auf den heutigen Tag: die Verschleppung und jahrhundertelange Versklavung afrikanischer Menschen. Denn Juniors tiefe Sehnsucht nach glatten Haaren ist nicht nur ein kosmetisches Problem oder der Mode-Tick eines Heranwachsenden. Es ist das, was Nichtweiße rund um den Globus beschäftigt: die anstrengende, nicht selten verzweifelte Anpassung an ein dominantes weißes Schönheitsideal. Auch in Venezuela, wo bis zu 80% der Einwohner nichtweiß sind, stöckeln vor allem glatthaarige, hellhäutige Models über die Laufstege.
So gesehen ist Juniors Haarstruktur ein postkoloniales Politikum, das er einstweilen tragikomisch mit Mayonaise, Speiseöl und Wasser bekämpft. Diese Sorgen teilt Junior mit den stolzesten schwarzen Frauen der Welt, unter ihnen Ophra Winfrey und Michelle Obama, denen noch ganz andere Mittel der Haarglättung zur Verfügung stehen. Die Verwandlung der Naturkrause der Präsidentengattin und von deren Töchtern in eine mit den Jahren immer mehr schimmernde glatt-wehende Pracht lässt sich schrittweise gut an Archivfotos studieren. Aus der Black-Is-Beautiful-Bewegung ist eine Black-Is-Beautiful-Without-That-Kinky–Hair-Bewegung geworden.
Das schwarze Haarthema taucht ab und zu in Film und Literatur auf. In Spike Lees Eröffnungsszene von „Malcolm X“ zum Beispiel, wo der später berühmte schwarze Aktivist sich unter der Hitze der einwirkenden Chemie auf seinem Kopf windet, denn die Prozedur bereitet Schmerzen – muss doch immer wieder die natürliche Haar-Struktur zerstört werden. Mitunter helfen Perücken. Auch in dem bekannten französischen Banlieue-Drama „Bande de filles“ spielt der Umgang der schwarzen Mädchen mit ihrem natürlichen Haar eine wichtige soziale Image-Rolle, und die US-Romanautorin Toni Morrison beschreibt in dem Buch „Sehr blaue Augen“ die Hoffnung ihrer schwarzen Heldin Pecola auf Erlösung an dem Tag, an dem sie „die blauesten Augen“ und die hellsten Glatthaare bekommt. Also nie.

Juniors Geschichte verbindet das Drama der Pelo Malo mit dem Drama der Armut. Gleich zu Film-Beginn zeigt ein Ratespiel der Kinder („Ich sehe was, was du nicht siehst“) den zugleich sozial scharfen und poetischen Panoramablick auf den gegenüberliegenden dicht bewohnten Block, wo die wäschebehängten Balkone wie Käfige vergittert sind. Diese Wohnblocks tauchen in dem Film öfter als überwältigend wirkendes Motiv auf, ebenso die akustische Atmosphäre von Caracas, laut aufgedreht und in kunstvoll ungefiltertem Originalton: ein enervierender Mix aus Automotoren, Stimmen, Klingeln, Hupen. In diesem Moloch wird halb dokumentarisch die Mutter Juniors gezeigt, wie sie durch die Straßen hastet, auf Jobsuche – in jener Welt , für die sie den Sohn daheim stark machen will, obwohl sie ihm mehr als einmal nur ihre eigene Ohnmacht vorlebt. Der Film scheut auch nicht davor zurück, arrangierten Sex der Mutter mit ihrem Chef zu zeigen, damit sie ihren Job zurück bekommt – was ihr Sohn durch die offene Zimmertür still mit ansehen muss.

Der kleine Hauptdarsteller Samuel Lange spielt den Junior, als sei die Kamera gar nicht da, mit großer Ernsthaftigkeit und Hingabe, und Samantha Castillos Darstellung der Mutter tut fast schon weh, da sie aus dem Kreislauf der Anspannung nicht herausfinden darf, außer einmal kurz, als sie ihr Baby tröstend an ihre nackte Haut schmiegt.

Das berührende Drama zwischen Mutter und Sohn, wie es in solcher Härte selten im Kino zu sehen ist, bekam Anerkennung und Auszeichnungen auf vielen Festivals.
Es steht in der Tradition sensibler Kindheitsfilme wie die im Werk von Francois Truffaut, wie Andrej Tarkowskis „Iwans Kindheit“ und wie István Szabós „Vater“. Erwachsenenfilme, die Kinder als Hauptfiguren haben, sind selten genug.

Foto: Casa de América Folgen, Pelo Malo, de Mariana Rondón
http://www.casamerica.es/cine/pelo-malo
Lizenz: Creative Commons, CC BY-NC-ND 2.0