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„Die Theorie ist immer grau – Praxis, das verstehen die Leute“

Eine Buchrezension

Von Anne Seeck

Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heuteDie Ausgangsthese des 208seitigen, von Philipp Mattern herausgegebenen Sammelbandes „Mieterkämpfe“ lautet: „Die Erinnerung an die Geschichte dieser Mieterkämpfe an die Politisierung der Wohnungsfrage von unten ist verschüttet.“ Gentrifizierung und Wohnungsnot beschäftigten derzeit zwar viele Menschen in Berlin, die Erfahrungen vergangener Auseinandersetzungen um Wohnraum fänden dagegen wenig Eingang in die politische Diskussion, so Mattern in seinem Vorwort. Tatsächlich sind die Themen Kahlschlagsanierung, Hausbesetzerbewegung und Wohnungsfrage in Westberlin vor 1989 bereits gut aufgearbeitet, auch in dem Buch finden sich dazu drei Beiträge: „Von der Abrisssanierung zur behutsamen Stadterneuerung“, „Die Instandbesetzungsbewegung in West-Berlin“ sowie „Die Kampagne zur Verteidigung der Mietpreisbindung in West-Berlin“.

Relativ unbekannt sind dagegen Mieterkämpfe im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, die in einzelnen Beiträgen vorgestellt werden. Daneben finden sich Texte zu den Kämpfen migrantischer Mieter*innen in Westberlin in den 1970er und 1980er Jahre, über die Erfahrungen mit der Stadtteilorganisierung im Märkischen Viertel sowie über Schwarzwohnen und Selbsthilfe in Ostberlin.

Manchen Leser*innen wird sicherlich überraschen, dass auf eine ausgeprägte Tradition von Protesten gegen Zwangsräumungen zurückgeblickt werden kann. Ein Rückblende ins vorletzte Jahrhundert: Der Auslöser der sogenannten Blumenstraßenkrawalle war die Zwangsräumung eines Mieters am 25. Juli 1872. Um die Mittagszeit protestierten rund 2.000 Anwohner*innen gegen die Behandlung des Zwangsgeräumten, am Abend waren es bereits 4.000. Zunächst richtete sich die Wut der Bewohner*innen gegen den Vermieter, später gegen die Staatsmacht, die Polizei. Weil der organisatorische Rückhalt fehlte, verlief sich der spontane Protest. Aber es kam immer wieder zu spontanen Protesten. Die Basis solcher Bewegungen war immer der Kiez.

Später in der Weimarer Republik versuchten die Mieterräte Zwangsräumungen zu verhindern. Sie waren oft kommunistisch geprägt und hatten ihren sozialen Stützpunkt in Arbeitervierteln. Anfang der 1930er Jahre eskalierte die Situation, als mit der Weltwirtschaftskrise in kurzer Zeit bis zu 630.000 Berliner*innen arbeitslos wurden. Die rigorose Sparpolitik und die Kürzung des Arbeitslosengeldes führten dazu, dass sich viele Familien selbst die günstigsten Altbaumieten kaum noch leisten konnten. Die Zahl der Wohnungslosen oder dauerhaft in Laubenkolonien lebenden Menschen nahm dramatisch zu. Die Autoren Henning Holsten und Stefan Zollhauser schreiben:„Die Kombination von unerträglichen Wohnverhältnissen, staatlicher Untätigkeit und parteipolitisch motivierter Konflikteskalation führte schließlich dazu, dass die Mieterproteste in den Berliner Arbeitervierteln im Herbst 1932 zur Massenbewegung wurden. Treibende Kraft war meist die KPD, die sich im Laufe der Wirtschaftskrise immer mehr von einer Arbeiter- zu einer Arbeitslosenpartei entwickelt hatte. Dadurch verlagerte sich ihr Agitationsfeld von den Betrieben in die Wohnquartiere. Dort, wo die traditionelle Basis der Arbeiterbewegung lebte, kanalisierte sie erfolgreich die Wut und Verzweiflung in direkte politische Aktionen.“ Das Ende der Mietstreikbewegung besiegelte die Machtübernahme der Nazis.

Auch im Märkischen Viertel in Westberlin kam es zu Protesten gegen Zwangsräumungen. Ende 1969 erfolgte in dem Viertel eine Welle von Kündigungen wegen aufgelaufener Mietrückstände. Der Widerstand von solidarischen Nachbar*innen verhinderte beispielsweise die Zwangsräumung einer Familie. Eine Protagonistin des Widerstandes im Märkischen Viertel sagte in dem Dokumentarfilm Von wegen Schicksal: „Du kannst ja noch so viel predigen, die Theorie ist immer grau Praxis, das verstehen die Leute“.

Auch die Mieterkämpfe von Migrant*innen sind relativ unbekannt, sowohl Mietstreiks in Frankfurt, als auch Besetzungen in Berlin. Die erste Hausbesetzung von Migrant*innen in Berlin erfolgte im November 1980. Sie sanierten die Wohnungen in Selbsthilfe und eröffneten einen Schülerladen, eine der ersten zweisprachigen Einrichtungen. „Das vor allem von Frauen getragene Engagement der Arbeitsmigrant*innen gehört zu den weitgehend vergessenen Kapiteln der West-Berliner Mieterproteste“, so das Autor*innentrio.

Peter Nowak beschreibt, wie aus einem Wohnbezirksausschuss (WBA) in der Oderberger Straße in Ostberlin schließlich das Aktionsbündnis „Wir bleiben alle!“ (WBA) wurde. 20.000 Menschen demonstrierten am 9. September 1992 unter diesem Slogan gegen die anstehende Erhöhung der Mieten in Ostberlin. Heute erinnert kaum noch etwas in der Oderberger Straße, dass es dort einmal widerständige Bewohner*innen gab.

Dietmar Wolf berichtet in einem Artikel über stille Besetzungen und Hausbesetzungen als politischer Akt in der DDR. Der Autor: „In der DDR war Wohnraum sehr günstig aber Mangelware. Das ‚schwarze Wohnen‘ und die stille Besetzung waren verbreitete Mittel, um an eine Wohnung zu gelangen. So waren in den Ost-Berliner Altbaubezirken ganze Häuser faktisch besetzt. Erste offene Hausbesetzungen gab es bereits vor dem Herbst 1989. Sie waren aber selten und wurden erst in dem Vakuum der unmittelbaren Nachwendezeit zum Massenphänomen.“

Allein zwischen Januar und März 1990 wurden rund 50 Häuser besetzt, überwiegend von Ost-Berliner*innen und überwiegend in Prenzlauer Berg. Es folgten Besetzungen von Zugezogenen aus der BRD. Im Spätsommer 1990 waren in Ost-Berlin etwa 200 Häuser besetzt. Zum 24. Juli 1990 wurde auch im Ostteil die „Berliner Linie“ eingeführt, dass heißt, Neubesetzungen werden innerhalb von 24 Stunden geräumt. Am 14. November 1990 wurde die Mainzer Straße von über 4.000 Polizisten, Räumpanzern, Hubschraubern und Sondereinheiten geräumt. Zum fünften Jahrestag der Räumung kamen gerade 300 Leute zur Demo. „Nach bald 30 Jahren ist von den Ost-Berliner Hausbesetzungen nicht viel mehr als ein Mythos geblieben“, so Dietmar Wolf.

Gigi beschreibt in einem Artikel die organisierte Selbsthilfe in Friedrichshain. In den Sanierungsgebieten Samariterstraße, Warschauer Straße und Traveplatz-Ostkreuz wurden schlussendlich etwa 80% der Bevölkerung ausgetauscht. Dabei sollte mit den hohen Fördermitteln eigentlich erreicht werden, dass die angestammte Bewohnerschaft dort bleiben kann. Bei jenen, die seit vielen Jahren in die Mieterberatung kommen, kann man die „Veränderung der Problemfelder“ beobachten, und „was die Verhältnisse den Menschen antun“, so Gigi.

Im letzten Beitrag des Buches schreibt Herausgeber Philipp Mattern, selbst in der Berliner MieterGemeinschaft aktiv, über die Entwicklung von einem entspannten Wohnungsmarkt zur aktuellen Wohnungsnot. Um die Jahrtausendwende schrumpfte Berlin, der Leerstand wuchs. Berlin galt als billig. 200.000 städtische Wohnungen waren privatisiert worden, auch von der Wohnbauförderung verabschiedete sich Berlin. Seit 2011 wuchs die Stadt im Schnitt um fast 50.000 Menschen jährlich. Die Spekulation mit Wohnungen gedeiht nach wie vor aufgrund der Wohnungsknappheit: Berlin ist ein Tummelplatz für Profitjäger. „Mit der Wohnungsfrage kehren auch die Mieterproteste zurück“, resümiert Mattern. Allen, die sich daran beteiligen oder sich für die historische Spur der aktuellen Auseinandersetzungen interessieren, sei der kostengünstige Band (8 Euro) ans Herz gelegt.

Philipp Mattern (Hg.),
Mieterkämpfe.
Vom Kaiserreich bis heute – Das Beispiel Berlin,
Bertz + Fischer, 2018,
212 Seiten, 8 Euro.