Kultur

Ein Tag erzählt ein Leben

„Lara“, Dt. 2019, Regie Jan-Ole Gerster

Von Angelika Nguyen

Der zweite Film von Jan-Ole Gerster beginnt ähnlich wie 2012 sein erster „Oh Boy“: in einem Zimmer in Berlin, an einem dämmrigen Morgen, durchs Fenster guckt die Stadt herein zu einem gerade erwachten Menschen. Damals war es Niko im Altbau. Diesmal ist es Lara im Neubau.

Erst mal scheint der Tag allerdings gar nicht mehr weiter zu gehen, denn Lara stellt sich einen Stuhl ans offene Fenster, um drauf zu steigen, hoch genug wohnt sie. Aber – wie der Zufall es will – bevor sie sich umbringen kann, klingelt es an der Tür. Immerhin lässt Lara sich aufhalten und öffnet. Draußen stehen freundliche Polizisten, die sie bei einer Wohnungsdurchsuchung bei einem Nachbarn im selben Haus als Zeugin dabei haben wollen, weil sie doch auch „Beamte“ sei.

Die Todessehnsucht des frühen Morgens ist hiermit überwunden, jetzt beginnt Laras Reise durch den Tag, der ganz anders enden wird als er begann. Suchte Niko seinerzeit in der Cappuccino-Latte-Macchiato-Millionenstadt einen „ganz normalen Kaffee“, sucht Lara nun ihren Sohn Viktor. Denn dieser Tag ist ein mehrfach besonderer Tag: nicht nur wird Lara 60, sondern ihr Sohn Viktor hat heute ein wichtiges Konzert. Offensichtlich ist er ein berühmter Pianist und neuerdings auch Komponist. Schnell wird klar, dass sie schon länger keinen Kontakt mehr haben. Das scheint immer wieder in den Gesprächen auf, die Lara auf ihrer Suche hat: mit dem Nachbarn, der sagt, es würde gar nicht mehr durch die Wand „klimpern“, mit ihrem Ex-Mann, der sich für den besseren Elternteil hält, mit der Ex-Freundin von Viktor, mit ihrer eigenen Mutter, zu deren Haus Lara extra bis zum äußersten S-Bahn-Ring fährt. Auffallend lange bereitet der Film die erste Szene des Sohnes vor. In seiner Abwesenheit gewinnt Viktor immer mehr dramatisches Gewicht, und die Neugier des Publikums auf die Begegnung mit seiner Mutter steigt. Da baut der Regisseur geschickt Spannung auf. Und nicht nur das: er baut ein falsches Bild von dieser Beziehung, das er später virtuos wieder einreißt.

Man vermutet nämlich zunächst in Lara nur eine dominante Mutter, die ihren Sohn unterdrückt und drangsaliert hat und vielleicht gar zum Klavierspielen gezwungen. Die Vermutung wird durch die Sprödigkeit der Lara-Figur verstärkt. Eine Mutter, deren eigenes Kind den Kontakt zu ihr abbricht, muss schuldig sein. Sie wird schon wissen, warum. Und jetzt, einsam geworden, rennt sie augenscheinlich ihrem erwachsenen Kind hinterher, kauft unsinnig viele Restkarten für sein Konzert auf und verschenkt sie wieder, spricht Viktor wiederholt auf die Mailbox und bittet um Rückruf, klappert lauter Orte ab, wo sie ihn vermutet. Ganz sicher ist man sich als Zuschauer der Sache, als Laras Mutter gar, nach schrecklich distanzierter Gratulation der Tochter zum Geburtstag, erwähnt, dass es „kein Wunder“ sei, dass erst der Ehemann und dann der Sohn Lara verlassen hätten. Da ohrfeigt Lara ihre Mutter – aber nicht mal das ruft stärkere Emotionen zwischen den beiden hervor. Lara scheint der einsamste Mensch der Welt zu sein, bis – ja bis ihr Sohn endlich auftaucht. Da geschieht etwas Überraschendes: man spürt weniger Abneigung als eine intensive geistige und emotionale Nähe zwischen beiden, sie füllt den Raum. Es folgt so etwas wie ein emotionales Fachgespräch über Musik. Mit nur einem kurzen Blick auf die Notenblätter hatte Lara Viktors Komposition erfasst. Das musikalische Talent hat er also von ihr.

Der Film inszeniert eine Reihe von Täuschungsmanövern, die er alle nacheinander aufdeckt. Er ist, obwohl er manchmal so tut, kein Inner-City-Blues, keine Asphalt-Dschungel-Elegie, wie auch schon „Oh Boy“ es nicht war. Hier wie dort erzählt der Regisseur präzise Figurenbeziehungen in der Großstadt, erzählt, wie dicht Wärme und Kälte auch bei nah verwandten Menschen beieinanderliegen können und wie rasch man da mittendrin einsam werden kann. Der Film erzählt im Kern auch keinen Mutter-Sohn-Konflikt, sondern das Lebens-Drama einer Frau, die ihr eigenes Talent nie entfaltet – und es wohl nicht einmal wirklich gekannt hat. Ihr alter Klavierlehrer verrät es Lara am Abend dieses Tages und lässt Lara zurück, die mit dem Alten zusammen plötzlich ganz jung wirkt und die zu ahnen beginnt, woher ihr innerer Zorn kommt.

Corinna Harfouchs präzise und gewohnt raue Darstellung der Lara trägt den Film, sie ist sein Zentrum. Mit ihrem gut geschnittenen orangenen Wollmantel durchläuft Lara die Stationen dieses Roadmovies, in dem die Heldin allmählich sich selber immer näherkommt. Tom Schilling ist wieder dabei, er spielt den Viktor. Aber irgendwie nimmt man ihm, wie auch schon den erfolgreichen Maler in „Werk ohne Autor“ und den erfolgreichen Dichter in „Der junge Brecht“ auch diesen erfolgreichen Pianisten nur teilweise ab. Der nicht erwachsene Junge auf der Suche, der sensitive Außenseiter guckt ihm auch im Alter von 37 Jahren noch aus den klaren blauen Augen. Das ist Schillings Spezialgebiet. Corinna Harfouch und er geben ein stimmiges Mutter-Sohn-Gespann ab, ähneln sich auch irgendwie. Es gibt noch zwei alte Ostschauspieler, die beeindruckende Auftritte hinlegen: Gudrun Ritter ist Laras Mutter, kalt und ungerührt in ihrer Küche und ein weicher gewordener Volkmar Kleinert gibt den klugen, ehemaligen Klavierlehrer.

Ein Film, frei von jeder Art von Mutter-Kind-Kitsch, ein Film, der, wenn es rührend werden könnte, wie bei Viktors Rede am Ende des Konzerts oder als Viktor spielt und die Kamera Laras Gesicht zeigt, das Pathos zuverlässig verhindert, indem er Lara nach draußen flüchten lässt. Alles, was in anders gestrickten Filmen also wunderbare emotionale Höhepunkte bilden könnte, zertrümmert die Regie grandios und stellt Wahrheiten, kaum erkannt, auch wieder in Frage.

Es ist ein spannender Film, der dem Verhalten seiner Figuren sorgfältig hinterher spürt, nur die Figur des Vaters von Viktor gerät allzu flüchtig. Die Wirkung von Viktors Rede für seine Mutter auf den Vater, den selbstzufriedenen, zu zeigen, das wäre wichtig gewesen. Aber dass er so unbeeindruckt bleibt davon, das ist unlogisch, da schludert Gerster ein einziges Mal, aber das gründlich. Gersters filmisches Gefühl für Berlin kommt erneut zur Geltung, genauso, wie auch seine gewisse geographische Präzision. Wenn Lara am U-Bahnhof Hansaplatz einsteigt und bald wieder aussteigt, landet sie nicht plötzlich am Fernsehturm oder Brandenburger Tor, sondern bleibt in der Logik von City West, bewegt sich rund um den Kurfürstendamm und die Kantstraße. Und Laras Hochhaus, in dem der Tag beginnt und endet, liegt eben im Hansaviertel und nirgendwo anders.

Das Ende ist überraschend. Als sich Lara spätabends mit der Sektflasche auf den Weg zum Nachbarn macht, wäre eine Romanze zu befürchten, aber nicht bei Jan-Ole Gerster. Es geht nicht um Romantik bei ihm, es geht um die Befreiung der Figuren. Durch sich selbst.

 

Foto: © 2019 STUDIOCANAL GmbH