Osten

Erinnerungen an Tschernobyl

Tschernobyl

Jenz Steiner befragte auf seiner Reisen durch Russland und Belarus, aber auch in Berlin, immer wieder Leute, welche Erinnerungen sie mit der Tschernobyl-Katastrophe verbinden. Heraus kam eine kleine Sammlung erschreckender, ganz subjektiver Details, die nie in einem Geschichtsbuch stehen werden:

Bertram

Zu Ostzeiten ist man ja nicht großartig rausgekommen. Ich war damals Stahlbauschlosser beim IHB, beim Ingenieurhochbau Berlin. Unsere Brigade ist immer von Vorzeige-Baustelle zu Vorzeige-Baustelle rumgereicht worden. Wir waren gut. 1986 habe ich eine Auszeichnung bekommen – eine Reise in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik. Die Aeroflot-Maschine hob am 25. April in Berlin Schönefeld ab nach Kiew.

Dort haben wir so eine arrogante Reiseleiterin bekommen. Ohne Reiseleiter – keine Reise durch die Sowjetunion. Das war damals so. Sie ist schnell pampig geworden, wenn es irgendwelche Probleme gab. Die Waschbecken und Duschen im Hotel hatten alle keine Stöpsel. Ich fragte sie, wo man denn Stöpsel bekommen könnte. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
„In der Sowjetunion haben wir genügend Wasser. Da brauchen wir keine Stöpsel.

Die hatten wirklich viel Wasser. Während der ganzen zwei Wochen in der Ukraine fuhren ständig Wassertankwagen durch die Straßen und spritzen den Staub vom Asphalt und den Häusern, aber nur bis zum ersten Stock. Die Milizionäre trugen immer Gasmasken und Gummianzüge. Das hat viele in der Reisegruppe verunsichert. Da musste die Reiseleiterin wieder Rede und Antwort stehen. Tat sie auch. „Kein Grund zur Sorge. Das ist nur eine Übung.“ Ich zeigte auf die vielen Spatzenleichen unter den Telegrafenmasten und fragte: „Und die ganzen toten Viecher überall? Sind das auch Übungen?“ Keine Antwort.

Auf dem Rückflug am 10. Mail ging ein Raunen durchs Flugzeug, als wir uns der Grenze zur Weißrussischen Sowjetrepublik nährten. Überall wurde gemurmelt. Mein Sitznachbar am Fenster tippte an die Scheibe und meinte: „Da ist das Werk, wo es den schlimmen Unfall gab.“

Natascha

Es war ziemlich voll am Minsker Bahnhof. Meine Mutter hat einfach Karten für den nächstbesten Zug gekauft. Der fuhr nach Kiew. Ich war neun. Mein Bruder und mein Vater sagten die ganze Zeit nichts. Niemand sagte was. Niemand wusste was. Später haben wir erfahren, dass wir mit dem Zug genau ins verstrahlte Gebiet reingefahren sind. Ich rede nicht gern über diese Zeit. Ich will auch gar nicht dran denken. Später sind wir nach Deutschland gegangen und auch dort geblieben. Ich habe schlimme Schilddrüsenprobleme. Ich merke, wie sich mein Körper verändert und mein Geist auch.

Alexej

Die Zeit nach dem Unglück war ziemlich toll. Ich bin nach Australien geschickt worden. Einfach so. Da habe ich schnell Englisch gelernt. Ich war ja noch jung. Ansonsten habe ich nicht viel mitbekommen. Mein Onkel schon. Er war junger Bauarbeiter und hat einen Brief bekommen. Darin stand, dass er nach Pripyat delegiert wird, um an einer wichtigen Baustelle mitzuarbeiten. Delegiert zu werden, das war eine Auszeichnung. Das bedeutete, dass man richtig gute Arbeit geleistet hatte und es Menschen gab, die das zu schätzen wussten. Er gehörte zu den Leuten, die den Beton-Sarkophag um den explodierten Reaktor gegossen haben. Er lebt noch und es geht ihm eigentlich gut, nur dass er jetzt aussieht, als wäre er schon 80 oder 90 Jahre alt.

Igor

Wir wohnten damals genau zwischen Pinsk und Tschernobyl. Ich bin nach Westdeutschland gebracht worden und habe eine neue Familie bekommen. Meine richtigen Eltern sind damals gestorben. Die Zeit davor verschwimmt immer mehr. Ich habe kaum noch Erinnerungen. Ich fühle mich auch mehr als Deutscher, weniger als Weißrusse. Trotzdem bin ich nach der Schule wieder nach Belarus gegangen. Jetzt studiere ich in Minsk. Mal sehen, was danach kommt. Es ist schon komisch. Alle Kinder meiner Generation, die aus Belarus kommen, haben was mit der Schilddrüse. Das ist ganz normal, obwohl es eigentlich nicht normal sein sollte.

Ljudmilla Iwanowna

An diesem Morgen wachte ich mit starken Schmerzen in den Beinen auf. Ich bin kaum aus dem Bett gekommen. Ich war ganz benommen und hatte auch noch schlimme Kopfschmerzen. So konnte ich doch nicht zur Universität. Ich rief erst meine Mutter an. Die hatte sich erbrochen und auch Kopfschmerzen. Ich meldete mich gleich danach krank. Mein Nachbar fuhr mich zur Poliklinik. So voll hatte ich den Wartesaal noch nie gesehen. Alle tuschelten, dass es einen Industrieunfall gegeben hätte, dass irgendwas explodiert sei. Wir wussten nichts und wurden vom ZK zum Narren gehalten. Dieser Gorbatschow, der im Westen so geehrt wird, er mag ein guter Außenpolitiker gewesen sein. Innenpolitisch hat er versagt und viele tausend Leichen im Keller. Er wollte erst noch in Ruhe den ersten Mai und den Tag des Sieges feiern. Erst danach räumte er ein, dass es einen Störfall gegeben habe.

Wenn man im Kreml damals schneller und besonnener reagiert hätte, würde unser alter Dekan vielleicht noch leben. Am Tag der Katastrophe hatte er seinen ersten Urlaubstag. Die Sonne schien und er legte sich mit freiem Oberkörper in die trügerische Frühlingssonne, auf seiner Datsche, die nur sieben Kilometer vom Kraftwerk entfernt war. Ihm gingen die Haare aus. Er bekam innere Blutungen und übergab sich ständig. Sieben Tage nach dem Unglück war er tot. Das sind meine bitteren Erinnerungen an diese Zeit. Für mich ist die Tschernobyl-Explosion ein Sinnbild für das Ende der Sowjetunion. Wir glaubten uns immer auf der sicheren Seite. Wir waren die Guten. Doch was in Wirklichkeit geschah, konnte niemand mehr steuern.
Niemand konnte abschätzen, welche Langzeitfolgen es haben würde, wenn man mit solchen unberechenbaren Gewalten experimentiert.

Dmitri

Ich bin vor ein paar Jahren als Journalist in die braune Zone gegangen.
Ich habe nach Leuten gesucht, die damals dort geblieben sind. Das Material konnte ich hier unter Lukaschenko nie veröffentlichen. Ich habe zwei alte Frauen getroffen. Die sind Schwestern und schon weit über 90. Sie ernähren sich selbst mit dem, was sie im Garten anpflanzen. Es geht ihnen gut. Ich habe auch einen Mann getroffen. Sein linker Arm und seine Beine sind amputiert. Er läuft auf Stümpfen. Er hat ein kleinen Bollerwagen, eine Axt und das ist alles. „Man schlägt sich halt durch.“, meinte er immer wieder zu mir.

Foto: wikimedia.org, Sven Teschke, Kopatschi – Wegen der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 verlassenes Dorf innerhalb der „Verbotenen Zone“ um das ehemalige Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine (bearbeitet)
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