Gute Menschen, schlechte Menschen

aus telegraph 2/98
von Wolfram Kempe

Mit der Moral ist das in Deutschland so eine Sache. Vom einem prototypischen Einwohner dieses Landes erwarten die anderen (prototypischen Einwohner), daß all sein Sinnen und Trachten genauso wie sein Tun und Lassen von den hehren Grundsätzen „der“ Moral gelenkt und geleitet wird. Dann ist er ein guter Mensch. Entgegen dieser Erwartung hält die Wirklichkeit jedoch zwei tiefe Fallgruben bereit: Erstens ist das Land nicht von menschlichen Prototypen bewohnt; und zweitens gibt es „die“ Moral nicht. Landläufig behilft man sich in dieser Weltgegend daher mit so einer Art Rabattmarkensystem der Moral. Manche Leute, Priester beispielsweise, erhalten von vornherein einen großen moralischen Rabatt, sie sind quasi durch Verabredung gute Menschen. Andere, von denen man weiß, daß sie über Leichen gehen – Mörder etwa oder Politiker -, müssen mit dem Eintritt ins Berufsleben alle Rabattmarken abgeben. Amoralität wird von diesen schlechten Menschen geradezu erwartet. Hinzu kommt, daß hierzulande „Moral“ oft für ein Begriff aus der Hygiene gehalten wird; das Moralische ist gleichzeitig das Saubere, das Reine.

Diese schwarzweiße Weltsicht ist hierzulande tief verwurzelt. Als die ersten Kinofilme gedreht wurden, kannte man schon die Weichzeichnung der guten Helden vermittels besonderer Beleuchtung (von hinten). In „Metropolis“ oder „Das Kabinett des Doktor Kaligari“ sieht man dem Bösen das Böse schon an der Nasenspitze an. Boris Karloff wurde legendär, weil er so aussehen konnte, wie man sich gemeinhin „das Böse“ vorstellte, dunkel und irgendwie schmuddelig. Mit der massenhaften Verbreitung des Fernsehens hatte diese Idylle allerdings ein Ende. Schon allein aus technischen Gründen. In Live-Sendungen steht der technische Kunstgriff des Weichzeichnens nicht zur Verfügung. Obwohl sich Otto Hauser sicher gewünscht hätte, daß, während er die Auschwitzsche Singularität von Amoral und Gewalt durch die Gleichsetzung von NSDAP und PDS leugnete, die Beleuchter eine helle, weiche Aureole von Licht hinter seinen Kopf zaubern. Die Fernsehkamera nimmt auf, was ist, und in den Studios bleibt höchstens noch Zeit, Manipulationen durch Bildschnitt vorzunehmen.

So brach zuerst das wirkliche Leben mit all seinen kinderschändenden katholischen Pfaffen in die moralisch wohleingerichteten Wohnstuben. War es den Männern der deutschen Nachkriegsgesellschaft noch gelungen, die eigene Rolle im vorangegangenen Krieg schön zu reden und „das Böse“ immer anderen in die Schuhe zu schieben, war nach den Bildern aus dem Vietnamkrieg klar, daß alle Soldaten Mörder sind – immer und überall. Und nach dem wirklichen Leben kamen Anfang der neunziger Jahre auch noch die wirklichen Menschen auf die Mattscheibe. Ursprünglich interessierten sich nur Dokumentarfilmer für den wirklichen Menschen, später tauchten sie dann in Form des präparierten Kandidaten in Spielshows auf, und das auch nur für maximal zwei Stunden die Woche, meistens am Samstagabend. Mittlerweile haben die Fernsehmacher ihnen die Verkleidung des „Betroffenen“ verpaßt und sie labern in sogenannten Talkshows von Montag bis Freitag täglich zwischen 10 und 17 Uhr elf Sendestunden lang die Wohnzimmer voll. Die Sendungen sind sehr beliebt, denn sie bedienen einen grundsätzlichen Hang im Menschen, den des Voyeurs. Durch Schlüssellöcher zu blicken oder an der Tür zu lauschen ist nur peinlich, wenn man dabei erwischt wird – und unter der Woche ist man vormittags normalerweise allein zu Haus. Und natürlich wird dabei über das gesprochen, was den Voyeur am meisten interessiert: über Sex – frei aus der prallen Unterhose heraus. An einem ganz normalen Dienstag lesen sich die Ankündigungen der Sendungen dann in etwa so: „Ich laß nur dicke Frauen in mein Bett“, „Früher war ich schwul – heute stehe ich auf Frauen“, „Ich kann nicht treu sein“, „Toll: Ich hab den Längsten“, oder wahlweise „Andreas hilf mir, mein Penis ist zu klein“. Man muß sich die Sendungen nicht ansehen, um zu wissen, auf welche Art und Weise diese Themen abgehandelt werden – jeden Abend passiert das auf die gleiche Weise an unzähligen Stammtischen landauf landab: einer redet und die restliche Meute sitzt feixend und schenkelschlagend drumherum.

Unlängst nun ist den katholischen Tugendwächtern aus dem deutschen Süden der Geduldsfaden gerissen. So viele wirkliche Menschen, die alles, was sie an Borniertheit und Dummheit haben, aufbieten, waren für bayrische und baden-württembergische Medienwächter nicht mehr erträglich. Sie intervenierten. Doch nicht der dem Sendeformat immanenten Geschmacklosigkeit wegen – gerade der rasende Kleinbürger (der keinen hat) besteht darauf, daß über Geschmack nicht zu streiten sei (weil er keinen hat) – sondern, wie könnte es anders sein, wegen „der Moral“. Es dürfe, hieß es aus Bayern, in diesen Sendungen nicht so viel, und vor allem nicht so freizügig, und dann auch noch um diese Zeit, über Sex geredet werden, weil: das verdürbe die zarten, unschuldigen Seelen der Schulkinder. Empörte Hausfrauenverbände aus der süddeutschen Provinz forderten: „Schluß mit dem Schmuddelfernsehen!“, oder wenigstens Ausstrahlung erst nach 22 Uhr. Gute Menschen drohten mit der Bildung von Bürgerinitiativen. Daß Schulkinder zwischen 10 und 14 Uhr üblicherweise in der Schule sind, focht die Kämpfer für moralische Sauberkeit nicht an. Genauso wenig wie der Umstand, daß 70 Prozent aller Zuschauer Hausfrauen im Alter zwischen 40 und 55 sind. Um sich nicht allzu offensichtlich der Zensur schuldig zu machen, forderten sie von den privaten Sendeanstalten Selbstzensur. Da man sich gut versteht, kamen die Privatsender dem gerne nach: Seitdem tragen die Sendungen Titel wie: „Unsere WG ist ein Saustall“, oder: „Mein Arzt hat versagt – jetzt heile ich mich selbst“. Das moralische Rabattmarkensystem ist wieder in Kraft. Schuld an allen Übeln dieser Welt ist der Überbringer der schlechten Nachricht. Schuld an der Gewalt an deutschen Schulen: das Fernsehen, das soviel Gewalt zeigt. Schuld an sexueller Verrohung: das Fernsehen, in dem darüber gesprochen wird. 1988 schrieb die „Neue Berliner Illustrierte“: Schuld an der Schändung des Jüdischen Friedhofs in der Schönhauser Allee in Berlin durch junge Neonazis hätte vor allem das Westfernsehen, das die Täter täglich gesehen hätten. Böse Menschen sind immer die anderen.

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