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Zwischen Reichssender und RIAS

Hörfunk in Deutschland zur Stunde Null: Verstummte Volksempfänger, verpasste Chancen

Von Jenz Steiner

Haus des Rundfunks in Berlin Charlottenburg 1947, damals noch Funkhaus des sowjetisch lizensierten Berliner Rundfunks im amerikanischen Sektor der Stadt. Der Sendemast stand im französischen Sektor. Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F005427-0045 / CC-BY-SA 3.0

Es war die erste verpasste Chance für engagierten Hörfunk-Journalismus mit demokratischem Antlitz. Erst Mitte Mai 1945 verstummte der Großdeutsche Rundfunk in den „Göbbelsschnauzen“, den Volksempfängern. Die Alliierten schufen in der Nachkriegszeit schnell eigene Verlautbarungssender mit reichlich Musik und viel Unterhaltung. Sie züchteten sich ihre ersten kalten Krieger heran. Auf alte Nazis konnten die Alliierten im Hörfunk offenbar schwer verzichten. Berliner Rundfunk, DIAS, RIAS, Deutschlandsender – diese Begriffe schwirren immer noch durchs kollektive Gedächtnis. Doch was genau geschah in den Rundfunksendern in Berlin und Deutschland zur Stunde Null? Dieser Text gibt einen kleinen, doch detailreichen Einblick

Zum Kriegsende bedeutete die Macht über die Mikrofone in Berlin auch Macht über die Hauptstadt.
Noch am 1. Mai 1945 propagierte Hitler-Nachfolger Karl Dönitz im Großdeutschen Rundfunk:
„Die Anglo-Amerikaner setzen dann den Krieg nicht mehr für ihre eigenen Völker, sondern allein für die Ausbreitung des Bolschewismus in Europa fort.“ Das geschah noch in Berlin.

Dönitz floh am nächsten Tag mit seiner neuen Reichsregierung in die Militärhafenstadt Flensburg. Schnell wurde dort ein Übertragungswagen der Kriegsmarine auf dem Hof eines Postgebäudes am Norderhofenden in der Flensburger Innenstadt zum Reichssender Flensburg umfunktioniert und eine Verbindung mit dem Sendemast Östliche Höhe hergestellt. Im Postamt, gleich neben der lokalen Gestapo, wurde ein Pausenraum über Nacht in ein Radiostudio verwandelt.
Neben der Rundfunkstation Prag I war der Reichssender Flensburg das letzte NS-Sprachrohr im Äther. Über Mittelwelle sendeten beide Stationen noch bis zum 13. Mai landesweit Nachrichten, Durchhalteaufrufe, Musik, Frontberichte, und Reden von Dönitz und Albert Speer. Das alles geschah ab 5. Mai zwar bereits unter britischer Kontrolle, doch ohne große Einschränkungen. Am 9. Mai lief noch der letzte Wehrmachtsbericht über den Äther. Erst am 13. Mai legten die britischen Alliierten den Sender still. „Reserved for Information-Control“ soll dann ein britischer Offizier mit Kreide auf die Tür zum Sender geschrieben haben.

Der Sendeleiter des Reichssenders Flensburg wurde später Chef des NWDR und der Nachfolgeanstalt NDR. Auf dem Posten blieb er bis 1968. Der Radiosprecher Klaus Kahlenberg, der selbst nach der letzten Rundfunkrede von Dönitz am 9. Mai noch das „heldenhafte Ringen“ deutscher Soldaten beschwor, wurde Journalist und arbeitete zu bundesrepublikanischen Zeiten als Chefredakteur der Fachzeitschrift „Der Neue Vertrieb“.

Während die westlichen Alliierten weniger Berührungsängste mit der Vorgeschichte und Gesinnung der Deutschen in den Nachkriegsmedien hatten, legte die Sowjetische Militäradministration (SMAD) anfangs noch Wert darauf, dass in den Sendern in ihrem Einflussbereich vertrauensvolle Antifaschisten tätig wurden. Um das Haus des Rundfunks in der Masurenallee in Berlin-Charlottenburg hatten Bomben und Artillerie einen Bogen gemacht.

Die Rote Armee nahm das menschenleere Gebäude am 2. Mai 1945 ein. Ein Major Popow wurde damit beauftragt. Als Praktikant und Volontär hatte er das Gebäude bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik kennengelernt. Vor der Machtergreifung der Faschisten sendeten von dort aus die Deutsche Welle GmbH, die Funk-Stunde Berlin und die Reichsrundfunkgesellschaft. Innerhalb von elf Tagen schuf er dort mit seinem Kommando die Infrastruktur für den Berliner Rundfunk. Dessen Vorläufer Radio Berlin ging mit vorerst einer Stunde Sendezeit pro Tag auf Mittelwelle am 13. Mai 1945 auf Sendung – mit den Nationalhymnen aller vier Alliierten, mit dem Verlesen der Kapitulationsurkunde, mit einer Rede von Stalin und einem Grußwort des Stadtkommandanten Bersarin. Die Reichweite der Sendungen wird recht gering gewesen sein. Zerstörung, Obdachlosigkeit, Stromsperren und beschlagnahmte Volksempfänger waren nicht gerade der ideale Nährboden für eine neue Hörerschaft.

Gesendet wurde in der ersten Woche vom Sender Tegel, produziert im Haus des Rundfunks in der Masurenallee. Fahrradkuriere brachten Tonbänder mit den fertig produzierten Sendungen nach Tegel. Binnen einer Woche hatten sowjetische Pioniertruppen eine direkte Drahtverbindung vom Funkhaus im Westen nach Tegel im Norden der zerstörten Stadt gelegt. Unter diesen Bedingungen konnte der Berliner Rundfunk nun 19 Stunden pro Tag senden, mit vertrauensvollen Kommunisten hinter den Mikrofonen und in der Führungsetage.

Vertrauensvoll genug für die SMAD war der Hamburger Hans Mahle, ein KPDler und Sandkastenfreund der Tochter Ernst Thälmanns. Er gehörte zur Komintern und zur Gruppe Ulbricht. Mit Informations- und Desinformationsstrategien im sowjetischen Hörfunk kannte er sich ebenso gut aus wie mit kommunistischer Umerziehung. In den Lagern Kujbyschew (Samara) und Spaskij Sawod sollte er ab 1941 Kriegsgefangene ideologisch auf Kurs bringen. Bei Radio Moskau, beim antifaschistischen Deutschen Volkssender und beim Sender Freies Deutschland war er in leitenden redaktionellen Funktionen tätig. Nun wurde Mahle Intendant des Berliner Rundfunks.
Unter dem Decknamen Michael Storm arbeitete der spätere HVA-Chef Markus Wolf von 1945 bis 1949 als Redakteur beim Berliner Rundfunk. Er hatte ab 1943 ebenfalls schon beim Deutschen Volkssender Hörfunkerfahrungen gesammelt. In einem Essay in Gustav Trampes Buch „Die Stunde Null“ berichtet Wolf jedoch auch von vielen Alt-Nazis beim Berliner Rundfunk.
Die Nachrichtenredaktion im Berliner Rundfunk leitete Artur Mannbar. Mit Erich Honecker saß er noch kurz zuvor im Zuchthaus Brandenburg. Beide waren KP-Funktionäre. Beide kamen aus dem Saarland.

Der Berliner Rundfunk startete nicht als harter Propaganda-Sender. Sein Programm deckte das ab, was heute privaten Hörfunk ausmacht: Musik, seichte Unterhaltung, Nachrichten, Schulfunk und als Service Tipps für den Alltag. Im kaputten Berlin waren das vor allem die Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes. Deutsche Volksmusik passte gut in die kulturpolitische Agenda, aber auch alte Operetten-Aufnahmen, Klassik, sogar Jazz und Wunschkonzerte. In politischen Kontexten jedoch gab es kein „Wünsch‘ Dir was!“. Demokratische und pluralistische Sendeformate wie „Tribüne der Demokratie“ führten sich schon in den ersten Monaten des Bestehens des Senders selbst ad absurdum. Kommunisten und Sozialdemokraten dominierten die Redezeiten. Für Offenheit, Transparenz und Debattenkultur war hier ebenso wenig Platz wie für die Vorstellungen der Westalliierten, welche Rolle der Rundfunk im Nachkriegsberlin spielen sollte.

Nach der Sektorenaufteilung Berlins war das Haus des Rundfunks unter sowjetischer Regie, befand sich aber im amerikanischen Sektor. Der Sendemast in Berlin Tegel gehörte nun zum französischen Sektor. In den Berliner U.S. Headquarters schmiedete man deshalb schon ab November 1945 Pläne für ein eigenes Rundfunkprogramm, das über alte Telefonanschlüsse verbreitet werden sollte. Es dauerte keine vier Monate, da konnte im Schöneberger Fernmeldeamt in der Winterfeldtstraße der Drahtfunk im Amerikanischen Sektor, der DIAS auf Sendung gehen. Er wurde zum Vorläufer des RIAS, in dem sich spätere kalte Krieger wie Gerhard Löwenthal ideologisch schnell zu Hause fühlten.

Löwenthals Abneigung gegen alles Sowjetische, Kommunistische und Sozialistische wurde wahrscheinlich noch durch eine Aktion der SED-Kulturfunktionärin Anna von Pritzbuer befeuert. Löwenthal besuchte im April 1948 als Journalist eine emotionsgeladene Debatte zwischen SED-Vertretern und Studierenden an der Berliner Universität. Dort studierte er zu der Zeit noch Medizin. Anna von Pritzbuer war zu NS-Zeiten Versicherungsangestellte und 1948 Verwaltungsdirektorin an der Universität. Sie ließ Löwenthals Mikrofonkabel durchschneiden und ihn aus dem Saal werfen.

Karl-Eduard von Schnitzler, Löwenthals späterer medialer Gegenspieler im kalten Medienkrieg, ging den entgegengesetzten Weg. Als Kriegsgefangener funkte er über die britische BBC, nach Kriegsende baute er in Hamburg und Köln den NWDR mit auf. Die politischen Kommentare des stellvertretenden Intendanten waren den britischen Alliierten zu stark kommunistisch angehaucht. Zum Jahreswechsel 1947/48 musste Schnitzler gehen. Mit offenen Händen empfingen ihn im sowjetischen Sektor die Chefetagen des Berliner Rundfunks und neu gegründeten Deutschlandsenders und setzten ihn als Kommentator ein.
Die Stunde Null für das Radio der Nachkriegszeit war zu diesem Zeitpunkt bereits Rundfunkgeschichte. Neue Fronten hatten sich manifestiert. Alte Nazis aus Zeiten des Großdeutschen Rundfunks saßen auf allen Seiten in wichtigen Positionen. Ihre Expertise machte sie zu dem, was man heute als „systemrelevant“ bezeichnen würde.