aus telegraph 6/1989, vom 27. Oktober 1989
Am Donnerstag Morgen fand ein erstes Gespräch zwischen der SED-Führung und einer Oppositionsgruppe statt. Der Parteichef von Ostberlin und Politbüromitglied Günther Schabowski führte eine mehr als zweistündige Unterredung mit zwei Mitgliedern des Neuen Forum, Sebastian Pflugbeil und Jens Reich. Die DDR-Führung hatte bisher das Neue Forum als nicht verfassungsgemäß und überflüssig bezeichnet. Man habe, sagte der Sprecher des Neuen Forum, Jens Reich, die jüngsten Großdemonstrationen erörtert und sei übereingekommen, daß Proteste auch weiterhin stattfinden könnten, vorausgesetzt sie seien friedlicher Natur. Der Sprecher des Neuen Forum, Jens Reich, äußerte sich gegenüber BBC über das Gespräch folgendermaßen:
„Wir konnten beide, Herr Pflugbeil und ich, die Zielstellung des Neuen Forums darlegen. Wir konnten außerdem unsere Position einer Reihe von Problemen und Klagen darlegen, die wir geäußert haben. Das bezog sich auf Demonstrationen, Gewalttätigkeiten und Zuführungen um den 7. Oktober. Wir konnten unsere Stellung zur Demonstrationskultur beschreiben, auch zum Ausgang der Kommunalwahl.“ Auf die Frage, warum Schabowsky das Neue Forum eingeladen habe, antwortete Reich: „Das hat er sehr deutlich gesagt. Er möchte eine neue Politik anfangen, indem er sich sehr genau über das ganze Spektrum der politischen Strömungen in seinem Entscheidungsbereich orientiert.“ Jens Reich meinte, es sei deutlich gewesen, daß Schabowsky das Gespräch mit dem Politbüro abgestimmt habe. Das Gespräch sei sachlich gewesen. Bezüglich der Anerkennung des Neuen Forums meinte Schabowsky, daß dies eine Angelegenheit der staatlichen Stellen sei. Zur Wahl habe Schabowsky lediglich gesagt, daß es Überlegungen gebe, eine Neugestaltung des Wahlmodus zu diskutieren. Hinsichtlich der Demonstrationen forderte Schabowski, daß diese „in verabredete, kultivierte Formen überführt werden, daß angemeldete Demonstrationen mit genauen Zielstellungen durchgeführt werden müßten. Er hat uns“, so Jens Reich weiter, „eine Initiative erläutert, die am Sonntag starten soll – daß es am Sonntag zu offenen Straßendiskussionen mit der politischen Führung in Berlin kommen soll.“ Es seien dem Neuen Forum in einer ganzen Reihe von Punkten Nachprüfungen zugesagt worden, keine konkreten Zusagen, aber daß weitere Informationen eingeholt werden. Mit dem Gespräch mit Schabowsky hat das Neue Forum den eigenen, wiederholt geäußerten Grundsätzen zuwidergehandelt, nach denen die Voraussetzung für ein solches Gespräch die Entlassung der Inhaftierten, die Aufhebung der Anklagen und die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission sei. Aus Kreisen des Kontakttelefons wurde besonders kritisiert, daß keine Forderung nach einer unabhängigen Untersuchungskommission erfolgt sei. In einer Stellungnahme der Vereinigten Linken heißt es: „Offenbar sind jetzt auch die Erstunterzeichner des Neuen Forum von der „Dialogitis“ befallen. Wir müssen ernsthaft fragen, ob es dem Neuen Forum darum geht, sich als Sprecher der oppositionellen Bewegung auszugeben und durch Plauschrunden im Rahmen der alten Strukturen sich einen legalen staatlichen Status zu ergattern. Was wir brauchen, ist ein allumfassender, sich ergänzender Streit, und nicht einen opportunistischen Kniefall vor der Bürokratie, aus was für taktischen Erwägungen auch immer.“
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph