aus telegraph 6/1989, vom 27. Oktober 1989
Gegen Abhängigkeit des FDGB von der SED hat sich der Gewerkschaftsvorsitzende, Harry Tisch, ausgesprochen.
ADN und die Gewerkschaftszeitung „Tribüne“ geben Äußerungen wieder, daß er nichts von einer schematischen Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaft, Betriebsleitung und Partei halte. Besser sei es, die Gewerkschaft fände und vertrete konsequent ihre eigene Position zu Fragen der Produktion sowie der Arbeits- und Lebensbedingungen.
Der Chefideologe der SED, Kurt Hager, hat den ehemaligen Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker öffentlich kritisiert. Hager sagte, es habe Anzeichen eines Personenkults um die Gestalt Honeckers gegeben. Weiter sagte Hager in einer Sendung des Fernsehens der DDR, man habe dazu geneigt, die in der DDR erbrachten Leistungen einzig und allein als das Verdienst Honeckers darzustellen. Er bedaure, so Hager weiter, das Fehlverhalten von Demonstranten wie Polizisten während der Protestaktionen um den 7. Oktober.
Außerordentlich scharfe Vorwürfe erhob die Schriftstellerin Christa Wolf in einem Offenen Brief an die „Junge Welt“. Die Autorin verwahrte sich dagegen, daß sie in einer Rezension über das DDR-kritische Buch Rolf Hendrichs von der „Jungen Welt“ in Anspruch genommen wurde.
Frau Wolf kritisierte, daß der Leser die aus dem Zusammenhang gerissenen Buchzitate nicht kontrollieren könne, weil das Buch nicht in der DDR erschienen sei. Zudem sei die Gelegenheit benutzt worden, zusammen mit dem Autor auch das Neue Forum abzuwerten. Sie selbst werde in der Besprechung scheinheilig oder drohend gefragt, ob es ihr gefalle, daß sich der Autor auf sie berufe. Sie habe jedoch ganz andere Inanspruchnahme erlebt und überstanden, schrieb Frau Wolf und attackierte den Ton der Demagogie in der Rezension. Die FDJ-Zeitung wisse nicht, wovon sie eigentlich spreche. Anstelle einer Polemik gegen einen Autor, der einige Gründe für die Massenabwanderung von DDR-Bürgern benenne, solle das Blatt lieber ehrlich und selbstkritisch den Ursachen der Vertrauenskrise zwischen großen Teilen der Jugend und dem Staat auf den Grund gehen. Dies habe sie jedoch bis heute nicht in der „Jungen Welt“ gefunden.
In Potsdam meldete eine Vorbereitungsgruppe unter anderem von Mitgliedern des Neuen Forum eine Demonstration für Pressefreiheit an. Ein Bescheid soll am 25. Oktober erteilt werden. Jeden Samstag gegen 14 Uhr findet eine Demonstration in der Innenstadt statt.
Ebenfalls jeden Samstag gibt es in der Erlöserkirche eine Informationsandacht.
Die staatliche Reaktion war, daß ab 1. November jeden Samstag in allen Jugendclubs Diskussionen über gesellschaftliche Probleme stattfinden.
Am 20. Oktober demonstrierten in Karl-Marx-Stadt ca. 6.000 Menschen in der Innenstadt. Auf Plakaten stand „Neues Forum“ und „Pressefreiheit“. Vor der SED-Bezirksleitung wurden Kerzen aufgestellt. Die Polizei regelte den Verkehr.
Wahrscheinlich wird jetzt jeden Freitag in Karl-Marx-Stadt eine Demonstration stattfinden.
Stephan Reiche, Gründungsmitglied der SDP, hat am Montag an einer Sitzung der bundesdeutschen SPD teilgenommen. Er betonte dabei, daß seine Partei dem demokratischen Sozialismus in der DDR zum Durchbruch verhelfen wolle. Dafür müsse das Monopol der Sozialistischen Einheitspartei gebrochen werden. Die SDP verzeichne in der DDR einen schnellen Mitgliederzuwuchs. Der SPD-Vorsitzende Vogel sicherte der „Bruderpartei“ Solidarität und Unterstützung zu.
In einem Interview für die BRD Fernsehsendung Monitor sagte der Berlin-Brandenburger Bischof Forck am Dienstag: Die Evangelische Kirche hat an die SED die Forderung, daß auch ihre Führungsrolle von den Bürgern angefragt werden kann und daß zum Beispiel bei der nächsten Wahl, die stattfinden wird, auch andere Parteien, nicht nur die im „Nationalen Block“ zusammengefaßten, Vertreter bennen können, die für bestimmte Funktionen zur Verfügung stehen, sodaß der Bürger sich endlich alternativ entscheiden kann, wen er in einer Funktion haben will und wen nicht. Damit setzt sich die SED dem Risiko aus, daß sie vielleicht in manchen Positionen nicht mehr sein wird, vielleicht sogar ihren Führungsanspruch aufgeben muß. Dem muß sie sich aussetzen, wenn sie wirklich will, daß die Bürger das Recht haben sollen, selber zu entscheiden, was sie wollen.“
Die in einer Versammlung Theaterschaffender im Deutschen Theater für den 4. Oktober angekündigte Demonstration Berliner Künstler wurde verschoben und dann doch wieder für den 4. Oktober genehmigt.
Nachdem statt der Theaterschaffenden das Neue Forum für den 4. Oktober zur Demonstration aufgerufen hatte, gelang es den Künstlern die Polizei vom ursprünglichen Termin zu überzeugen. Treffpunkt ist am 4.Oktober um 10.00 Uhr am ADN-Gebäude. Die Demonstration ist von 10.00 bis 14.30 Uhr genehmigt.
Die Abschlußkundgebung ist auf dem Alexanderplatz. Der genaue Veranstaltungsort ist uns zur Stunde nicht bekannt.
Bleiben wird es wohl auch dabei, daß die Sprecherin des Neuen Forum den Liedermacher Wolf Biermann zum 4. Oktober eingeladen hat. Ein Kommentator des DDR-Fernsehen meinte in diesem Zusammenhang, daß nach Biermanns Äußerungen im Westfernsehen am Dienstag nach seiner, des Kommentators Meinung, Biermann nicht ins Land hereingelassen werden dürfe. Die „Meinung“ wurde im „Neuen Deutschland“ wiederholt.
Am Mittwoch kam es in Berlin zu einer weiteren Demonstration von bis zu 3.000 Personen von der Gethsemanekirche zur Marienkirche.
Am Donnerstag kamen auf Einladung der Stadtverordnetenversammlung in eine Sporthalle 4.000 Bürger. Selbst in den kurzen Ausschnitten des DDR-Fernsehens wurde die ungeduldige Stimmung klar. Die Zeit des Redens, meinten Bürger, sei vorbei, es müsse endlich gehandelt werden.
In Dresden gab es neben einer zentralen Versammlung mit Oberbürgermeister Berghofer und SED-Bezirkschef Modrow über 200 weitere öffentliche Versammlungen. Mit aller Schärfe wurden von Dresdnern die Manipulationen bei den Kommunalwahlen und Übergriffe der Polizei bei den Demonstrationen verurteilt. Berghofer kommentierte, die Bürger verlangten Antworten, viele seien ungeduldig und unzufrieden. Die Demonstrationen hätten leider noch kein Ende gefunden. Man stelle sich der Situation, halte aber Demonstrationen für keine geeignete Form, zu substantiellen Antworten zu kommen.
Kritik an der Rechtsordnung haben, wie ADN berichtete, die Rechtsanwaltskollegien der DDR geübt. Die Situation der Rechtspflege sei sehr ernst. Bei den Bürgerrechten gäbe es Mängel. Die Unabhängigkeit der Richter sei in Einzelfällen verletzt worden. Beim Strafrecht müßten besonders die Artikel „Staatsverbrechen“ und „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“ überarbeitet werden. Die Anwälte schlagen vor, die Befugnisse der Polizei klarer zu formulieren.
Bei einer außerordentlichen Tagung der Akademie der Künste wurde am Donnerstag ein Bericht zur Lage der DDR gegeben und ein Forderungskatalog aufgestellt. Das Papier steht unter dem Motto „Umgestaltung an Kopf und Gliedern“. Es wurden zwei Sofortforderungen aufgestellt.
1. Rehabilitierung des Chefs des Aufbau-Verlags, Janka, der in den fünfziger Jahren im Zuge politischer Säuberungen zu langjähriger Haft verurteilt wurde. Weiterhin sollen alle Bücher, die er in den folgenden Jahren im Westen geschrieben hat, in der DDR veröffentlicht werden.
2. Die Schüler der Carl von Ossietzky-EOS, die im vorigen Jahr wegen freier Meinungsäußerung aus der Schule ausgeschlossen wurden, sollen rehabilitiert werden.
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