Demonstrationen und Aktionen am 23. Oktober in der DDR
aus telegraph 6/1989, vom 27. Oktober 1989
In Leipzig gab es am Montag Andachten in 6 Kirchen, darunter erstmals auch in einer katholischen Kirche. 200.000 bis 250.000 Demonstranten zogen mit Sprechchören und Transparenten wie „Jetzt wollen wir Taten sehen“ und „Egon krenzt das Neue Forum aus“ durch die Straßen. Mitglieder des Neuen Forum
und Passanten beschützten mit einer „Sicherheitskette“ das Stasi-Gebäude, an dem Kerzen aufgestellt waren. Die Polizei war nicht präsent, nur zwei Feuerwehrleute bewachten die Kerzen.
Über Dresden ist nur bekannt, daß 10.000 Menschen demonstrierten.
In Berlin zog nach der Informationsandacht im Rahmen eines Aktionstages für die Inhaftierten und Angeklagten eine zuletzt auf etwa 5.000 Demonstranten angewachsene Menge von der Gethsemanekirche ins Zentrum. Im Sprechchor gab es Rufe wie „Stasi in die Produktion“ und „Alle Macht dem Volke und nicht dem Egon Krenz“. Die Demonstration zog bis an die Treppenstufen des Staatsrates. Dort wurde ein Offener Brief über Megaphon verlesen. Nach einer kurzen Diskussion konnte eine Delegation der Menge den Offenen Brief an einen Dienstleiter des Staatsrates übergeben. In dem Papier wurden die Volksvertreter aufgefordert, ein deutliches Zeichen zu setzen, von ihrem demokratischen Wahlrecht Gebrauch zu machen und sich nicht an den Fraktionszwang zu halten. Es solle eine Alternative zu Egon Krenz aufgestellt und in geheimer Wahl darüber entschieden werden. In dem Brief einer katholischen Gemeinde, zuvor in der Gethsemanekirche mit großem Beifall aufgenommen, wurden Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Demonstrationsrecht sowie die Zulassung neuer Parteien und Organisationen gefordert. Es gab von Seiten Verantwortlicher die Zusicherung, den Brief am Dienstag der Volkskammersitzung vorzulegen.
In Schwerin hatte das Neue Forum für 17.00 Uhrzu einer Demonstration im Alten Garten aufgerufen und diese bei der Polizei angemeldet. Die SED rief über Zeitungen, Flugblätter und Litfaßsäulen zu einer Kundgebung des „Demokratischen Blocks“ an gleichem Ort und gleicher Stelle auf. 40.000 Teilnehmer der vom Neuen Forum einberufenen Demonstration (nach offiziellen Angaben der Schweriner Zeitungen waren es 40.000) zogen durch die Stadt, während 500 Getreue, die beim „Demokratischen Block“ blieben vom DDR-Fernsehen gefilmt wurden und in dessen Berichterstattung breiten Raum einnahmen.
In Halle versammelten sich am Montag um 17 Uhr 15.000 Menschen mir Plakaten auf dem Markt. SED-Leute versuchten vergeblich, mit Diskussionen die Demonstration aufzuhalten. Etwa 7.000 Leute zogen über Boulevard, Hansaring und dann zum Markt zurück, eine zweite Gruppe von etwa 8.000 zog direkt zum SEDGebäude am Thälmannplatz. Auf Plakaten hieß es beispielsweise „Reformen, Egon Krenz, sonst hast Du keine Fans“. In einer Erklärung bedankte sich die Hallenser Mahnwache für die Solidarität der Bürger und forderte unter anderem die Zulassung der Öffentlichkeit bei politischen Verfahren und die Entschädigung der Opfer der Demonstrationen um den 7. Oktober. Der Oberbürgermeister von Halle bot ein Gespräch für Donnerstag, den 26.10., im Kulturhaus „Volkspark“ an. In Halle wird es jetzt jeden Montag um 17.00 am Markt eine Demonstration geben.
In Stralsund gab es um 19.30 eine Andacht in der Marienkirche, die um 21.00 wiederholt werden mußte, weil 5.000 kamen. Während der ersten Andacht verlas der stellv. Bürgermeister, Schlegel, einen Dialog-Aufruf, wurde dabei aber wegen des dogmatischen Tons und der altgewohnten Machtgebährde ausgepfiffen. Nach der ersten Andacht zog ein Schweigemarsch von 2.000 über den Leninplatz und das Rathaus zurück zum Boulevard. Am Tage hatte es Rathausgespräche gegeben. 500 Leute waren da. Der Inhalt wird von Zuhörern als „Schnee von gestern“ bezeichnet. Es wurde aneinander vorbei geredet. Auf brisante Fragen gab es keine Antworten.
In der uckermärkischen Kleinstadt Templin kam es nach einem Friedensgebet in einer ev.Kirche zu einer Demonstration von 600 Menschen durch die Stadt. Vor dem Gebäude der Polizei, der Staatssicherheit und dem Gericht wurden Kerzen aufgestellt. Die Polizei hielt sich zurück und regelte den Verkehr.
In Zwickau kamen 2.000 zur montäglichen Fürbittenandacht. Dabei gab es nach einer Fürbitte für die Inhaftierten eine Podiumsdiskussion mit dem Bezirksvorstand der CDU Karl-Marx-Stadt, dem Neuen Forum und einer Gruppe konziliarer Prozeß und Ökumene von Methodisten und Katholiken. Danach gab es die erste unabhängige Zwickauer Demonstration. Ca. 1.500 Menschen gingen mit Kerzen schweigend durch die Innenstadt. In Magdeburg gab es am Montag eine Demonstration von 30.000 Menschen mit Plakaten wie „Demokratisierung“, „ziviler Ersatzdienst“, „Neues Forum“. Demonstrationen soll es auch in Eisenach gegeben haben.
In Dresden nahmen 10.000 Menschen an einer Demonstration teil.
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