aus telegraph 6/1989, vom 27. Oktober 1989
Der Generalsekretär der SED wurde am 24. Oktober von der Volkskammer nach dem Vorschlag der SED trotz zahlreicher Proteste aus der Bevölkerung auch zum Staatsratsvorsitzenden der DDR und zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates gewählt.
Krenz hat damit alle Ämter seines Vorgängers Honecker übernommen. Bei der Wahl zum Staatsratsvorsitzenden gab es 26 Gegenstimmen und 26 Enhaltungen. 8 Abgeordnete stimmten gegen die Wahl von Krenz zum Chef des Verteidigungsrates, 17 enthielten sich der Stimme. Die Gegenstimmen setzen sich, dem Vernehmen nach, aus Mitgliedern der LDPD und CDU und einem Mitglied der SED zusammen. Krenz bekräftigte in einer Rede vor den Abgeordneten den neuen Dialogkurs der SED, die jedoch ihren in der Verfassung festgeschriebenen Führungsanspruch nicht aufgeben werde. Zugleich warnte er davor, daß eine Konfrontation die in Gang gesetzte Entwicklung gefährden könne. Auch friedlich angelegte Demonstrationen trügen die Gefahr von Gewalt in sich. Krenz appellierte an Ausreisewillige, in der DDR zu bleiben, wo sie gebraucht würden. Krenz kündigte auch eine Stärkung der Position der Volkskammer an und mehr Demokratie für die Blockparteien.
Nach einer Rahmenvorgabe von Krenz verabschiedete der Ministerrat am Abend eine Erklärung. Zu den Polizeieinsätzen heißt es, die Sicherheitsorgane hätten stets den Befehl gehabt, äußerste Zurückhaltung zu üben und alle Maßnahmen für einen friedlichen Ausgang der Demonstrationen zu unternehmen. Vorbereitet und gegeben habe diesen Befehl der jetzt gewählte Staatsratsvorsitzende Krenz. Von einem aktiven Einsatz polizeilicher Kräfte und Mittel sei nur bei Gewaltanwendung der Demonstranten die Rede gewesen. Schußwaffengebrauch war grundsätzlich verboten. In Dresden, Leipzig und Berlin sei es am 7. und 8. Oktober aber eindeutig zu Ausschreitungen gegen die staatliche Sicherheit und Ordnung gekommen und das Zusammenleben der Bürger gefährdet worden. Die Bilanz – 106 Verletzte unter den Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsorgane, 46 bei den Demonstranten. Die Berliner Demonstration habe mit dem Ruf „Auf zum Brandenburger Tor“ begonnen, was als Aufruf zum bewaffneten Grenzdurchbruch gewertet werden mußte. Leider seien aber auch Unbeteiligte zu Schaden gekommen. Gegenüber „Zugeführten“ kam es zu Überschreitungen, zu nichtrechtmäßigen Handlungen der Schutz- und Sicherheitsorgane. Mit den betroffenen Bürgern seien persönliche Gespräche geführt worden. 83 Anzeigen und Mitteilungen würden gegenwärtig überprüft, 4 Ermittlungsverfahren seien eingeleitet worden. Vor dem Gesetz, wurde versichert, seien alle gleich.
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