aus telegraph 1/1989 (#01)
In Leipzig verlief am 9.Oktober eine Massendemonstration im Anschluß an das montägliche Friedensgebet ohne Auseinandersetzungen mit den Sicherheitsorganen. Die Leipziger Gruppen hatten zur Gewaltlosigkeit aufgerufen. Das war schwierig genug, denn die Sicherheitsorgane waren mit starkem Aufgebot erschienen. Schützenpanzerwagen der Armee durchzogen am Nachmittag Leipzig. Kindergärten und Betriebe in der Innenstadt mußten bis 15 Uhr geräumt werden. Als sich der Markt mit Menschen füllte, wurde er von BePos mit Schutzmasken und Kampfgruppen umstellt. ELo`s mit Chemikalien standen bereit. Es gab mindestens zwei zentrale Truppenstützpunkte.
Erstaunlicherweise verlief die Demonstration dennoch friedlich. Mehr als 70.000 Menschen formierten sich nach Andachten in verschiedenen Kirchen zu einem Demonstrationszug, der über den Ring zog. Die Friedfertigkeit ging dann soweit, daß am Hauptbahnhof kleine Gruppen mit Polizisten diskutierten.
In den Kirchen, über Lautsprecher in der Innenstadt und über den lokalen Leipziger Sender war ein Aufruf von Profesor Kurt Masur, Dr.Peter Zimmermann, des Kabaretisten Lutz und der Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr.Kurt Meier, Jochen Pommert und Roland Wötzel verlesen worden.
Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns zusammengeführt. Wir sind über die Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchten nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterentwicklung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die genannten Leute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, daß dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.
Beobachter raten allerdings zur vorsichtigen Bewertung, da eventuell die riesigen Massen der Demonstranten die lokalen SED-Führer zu einer bloßen Beschwichtigungstaktik veranlaßt haben könnten.
In Dresden informierten sich am Abend des 9.Oktober mehrere tausend Menschen in vier großen Kirchen über die Gespräche von 20 Vertetern der Demonstranten und der Kirchenleitung mit Vertretern des Stadtrates, darunter der Oberbürgermeister von Dresden. Dem Stadtrat war ein 9-Punkte-Katalog vorgelegt worden, in dem es u.a. um die Zulassung des Neuen Forums, eine wahrheitsgetreue Berichterstattung in den DDR-Medien, Demonstrations- und Reisefreiheit, Wahlprobleme,Zivildienst und die Freilassung der Inhaftierten ging. Der Oberbürgermeister versprach, sich für weitere Gespräche einzusetzen und die angesprochenen Punkte pluralistisch zu lösen. Eine nächste Gesprächsrunde wurde für den 16.Oktober vereinbart.
In Ost-Berlin versammelten sich am Abend vor der Gethsemanekirche 3000 Menschen. Bischof Forck verlaß einen Aufruf der Kirchenleitung und des Gemeindekirchenrats der Gethsemanegemeinde:
„Fünf dringende Bitten
1. Alle Bürgerinnen und Bürger bitten wir dringend, ab sofort angstfrei Meinungsfreiheit auszuüben, damit das Gespräch über unsere Zukunft in Gang kommt.
2. Die Staats- und Parteiführung der DDR bitten wir dringend, umgehend deutliche und glaubhafte Schritte einzuleiten, damit eine breite Übereinstimmung für eine rechtsstaatliche, demokratische, sozialistische Perspektive der DDR gefunden wird.
3. Die Ordnungs- und Sicherheitskräfte bitten wir dringend, der Ungeduld kritischer Bürger, die sich auf den Straßen zeigt, mit größtmöglicher Zurückhaltung zu begegnen, damit nicht wieder gutzumachender Schaden vermieden wird.
4. Die beunruhigten Menschen unseres Landes bitten wir dringend, jetzt von nicht genehmigten Demonstrationen auf den Straßen abzusehen, damit die politisch Verantwortlichen nicht sagen können, sie ließen sich im Blick auf anstehende Veränderungen nicht unter Druck setzen.
Berlin, den 9. Oktober 1989, 17 Unterschriften“
Die in der Umgebung der Kirche aufgezogenen Sicherheitskräfte hielten sich zurück.
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