Offener Brief der Mitarbeiter des Staatsschauspiels Dresden

aus telegraph 1/1989 (#01)

Wir treten aus unseren Rollen heraus.
Die Situation in unserem Lande zwingt uns dazu.
Ein Land, das seine Jugend nicht halten kann, gefährdet seine Zukunft.
Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig.
Eine Parteiführung, die ihre Prinzipien nicht mehr auf Brauchbarkeit untersucht, ist zum Untergang verurteilt.
Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden.
Die Wahrheit muß an den Tag.
Unsere Arbeit steckt in diesem Land. Wir lassen uns das Land nicht kaputt machen.

Wir nutzen unsere Tribüne, um zu fordern:
1. Wir haben ein Recht auf Information.
2. Wir haben ein Recht auf Dialog.
3. Wir haben ein Recht auf selbständiges Denken und auf Kreativität.
4. Wir haben ein Recht auf Pluralismus im Denken.
5. Wir haben ein Recht auf Widerspruch.
6. Wir haben ein Recht auf Reisefreiheit.
7. Wir haben ein Recht, unsere staatlichen Leitungen zu überprüfen.
8. Wir haben ein Recht, neu zu denken.
9. Wir haben ein Recht, uns einzumischen.

Wir nutzen unsere Tribüne, um unsere Pflichten zu benennen:
1. Wir haben die Pflicht, zu verlangen, daß Lüge und Schönfärberei aus unseren Medien verschwinden.
2. Wir haben die Pflicht, den Dialog zwischen Volk und Partei- und Staatsführung zu erzwingen.
3. Wir haben die Pflicht, von unserem Staatsapparat und von uns zu verlangen, den Dialog gewaltlos zu führen.
4. Wir haben die Pflicht, das Wort Sozialismus so zu definieren, daß dieser Begriff wieder ein annehmbares Lebensideal für unser Volk wird.
5. Wir haben die Pflicht, von unserer Staats- und Parteiführung zu verlangen, das Vertrauen der Bevölkerung wiederherzustellen.

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