Aus telegraph 01/1990, vom 8. Januar
Das Timing war exakt. Genau zur 5. Runde des Runden Tisches, zu der die Opposition Rechenschaft über die Auflösung des Amtes für Nationa¬le Sicherheit und die Rückstellung der Pläne für Verfassungsschutz und Nachrichtendienst bis zu den Wahlen verlangt hatte, wurden der Öffentlichkeit Sachzwänge zur Neuanstellung der alten Stasi-leute serviert.
Angeblich waren es 250.000 Menschen, die am 3. Januar vor dem Treptower Ehrenmal gegen Neofaschismus in der DDR demonstrierten. Sie folgten einem Aufruf der SED-PDS, des Komitees Antifaschistischer Widerstandskämpfer und anderer Altparteien und organisationen. Daß sich Vertreter der Vereinigten Linken bereitgefunden hatten, an dem Spektakel teilzunehmen, kann man ebensososehr peinlich wie typisch finden. Anlaß der M-anifestation war die Be¬sprühung des sowjetischen Ehren¬mals mit Inschriften national¬isti-schen Inhalts. Der SED-PDS-Vorsit¬zende Gysi rief zur Bildung einer „Ein¬heitsfront gegen Rechts“ auf. Die Öffnung der Grenzen, so Gysi, habe das Land mit Neonazis über¬s¬chwemmt. Deshalb brauche das Land wieder staatliche Autorität und „rechtsstaatliches, demokrati-sches aber entschiedenes Handeln unserer Sicherheitsorgane“.
Die Teilnehmer skandierten „Nazis raus!“ und forderten „Verfas¬sungs¬schutz, Verfas-sungsschutz!“. Begleitend hatten die offiziellen Presseorgane plötzlich entdeckt, daß es in der DDR Neonazis gibt. Vertreter von Altparteien und -organisationen forderten unisono die sofortige Einrichtung des besagten Verfassungsschutzes. Der Presse¬sprecher des in Auflösung befindlichen Amtes für Nationale Sicher¬heit, Stephan Roahl, klagte ADN sein Leid. Infolge der Schlie¬ßung von 250 Stasi-Kreisämtern könnten die BRD-Anführer einer neonazistischen Bewegung in der DDR nicht einmal observiert werden. Das Ministerium des Inneren bemühe sich ja, verfüge aber nicht über die notwendigen nachrichtendienstli-chen Mittel und Methoden. Auch gehe es um die Bekämpfung von Terror, Sabotage, Veruntreuung von Volkseigentum und Drogenkriminalität. „Das Sicherheitsbedürfnis ist da, die Fachkräfte und Akten sind da, dürfen aber nicht arbeiten.“
Wir möchten immerhin in wenigen Stichpunkten auf diese Unverschämtheiten eingehen:
– Diejenigen Parteien und Organisationen, die jetzt über einen angeblich importierten Neofaschismus in der DDR schreien, sind verantwortlich für die Zerstörung einer lebendigen Kultur und eines schöpferischen Geisteslebens und damit einer geistigen Identität und haben durch Entmündigung von der Schule an die Funda¬mente für die neofaschistische Bewegung in der DDR gelegt.
– Diejenigen „Fachkräfte und Akten“, die jetzt zur Bekämpfung des Neofaschismus zu Hilfe gerufen werden, haben in der Vergangen¬heit durch ihre Repressionsarbeit jeglichen sozialistischen Ansatz diskre¬ditiert und darüber hinaus neonazistische Aktivitä¬ten mindestens begünstigt, z.B. durch Duldung in stasieigenen Sportclubs und durch die Verfolgung der Antifa-Gruppen. Daß darüber hinaus die Staatssicherheit mit Skin¬gruppen regel¬recht arbeitete, kann bis jetzt noch nicht bewiesen werden. Es ist aber bekannt, daß linken Oppositions¬grup¬pen oft von Stasi-Leuten mit einem Überfall von Nazis-Skins gedroht wurde. Vom Überfall auf das Konzert in der Zionskirche im Jahr 1987 wußten die Sicherheitskräfte vorher und hatten auch Kräfte bereitgestellt. Mischten sie sich deshalb nicht ein, weil die Aktion in ihrem Sinne lief? Bevor diese Art von „Fachkräften“ gegen Neonazis einge¬setzt werden, sollte erst einmal anhand ihrer „Akten“ überprüft werden, wieweit sie in die Neonazi-Szene verstrickt sind.
– Wirklich greifende Gegenarbeit gegen die Neonazis wurde, abgesehen von den Basisgruppen, in den letzten Jahren nur von der Kriminalpolizei geleistet. Diese Arbeit litt allerdings stark darunter, daß die Staatssicherheit viele Fälle der Kripo wegnahm, um ihre eigenen Ziele zu verfol¬gen. Bei einer Presse¬konferenz der Kripo-Abtei¬lung „Arbeitsgrup¬pe zur Bekämpfung rechtsradikal motivierter Kriminalität und Selbstjustiz“ verlangten die Oberstleutnante Bernd Wagner und Klaus Wichert nicht den Aufbau eines Verfassungsschutzes, sondern den Zugang zu den einschlägigen Erkennt¬nisunterlagen der versiegelten Ämter für Nationale Sicherheit. Sie wollten Kontakt zu der neugebilde¬ten Arbeitsgruppe Sicherheit des Runden Tisches und antifaschi¬stischen Basisgruppen aufnehmen und begrüßten die Erklärung des Runden Tisches vom 27. November zur gewachsenen neofaschisti¬schen Gefahr.
– Niemand von den alten Organisationen und Parteien ist vermutlich die tiefe Symbolik aufgefallen, die in der Versammlung am Treptower Ehrenmal lag. Der nach 1945 in Sklavenarbeit von deutschen Kriegsgefangenen aufgebaute Komplex ist eine einmalige Manifestation stalinistischen Geistes. Mit dem Hinweis auf die rechte Gefahr wollen die alten Kräfte zur stalinistischen Hierarchie zurück. Und schon ist auch verschiedentlich die Argumentation zu hören, es ginge gegen jede Art von Radikalis¬mus, gegen den von rechts und gegen den von links. In Zukunft sollen offenbar politisch Andersdenkende nach bewährter westli¬cher Manier unter dem Prädikat „Radikalismus“ bekämpft werden.
Natürlich geht es um den Kampf gegen die neofaschistische Gefahr und natürlich muß dieser Kampf auch mit polizeilichen Mitteln geführt werden. Aber die Vergiftung ganzer Generation, wie bisher unter „realso¬zialistischen“ Verhälnissen geschehen, ist nur durch permanen¬te Aufklärung, Erziehung zur Mündigkeit und eine neue kulturelle und geistige Identität zu erreichen. Dazu muß das Schulsystem demokrati¬siert werden. Dazu muß eine Presse geschaf¬fen werden, die nicht das Werkzeug von Parteien oder Konzernen ist, die nicht der Indoktrinie¬rung und Verdummung des Publikums dient. Darüber ist bisher bezeich¬nenderweise von den Wendehälsen der Altparteien nicht einmal in Ansätzen nachge¬dacht worden.
r.l.
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