Aus telegraph 01/1990, vom 8. Januar
Die polnische Revolution von 1980 wurde von den Arbeitern gemacht, allen voran denen der Danziger Lenin-Werft. Sie schufen sich in der SOLIDARNOSC ein mächtiges Werkzeug, das mehr war als nur eine Gewerkschaft, sondern die Vertretung der ganzen polnischen Nationen, die sich um die Arbeiter zusammenschloss. Nur die Verhängung des Kriegsrechts konnte das stalinistische System vor dieser Kraft noch einmal retten. Die alten Kräfte um Jaruzelski und Rakowski aber hatten der Gesellschaft nichts besseres mehr zu bieten als die immer schnellere Talfahrt in die wirtschaftliche und soziale Krise. Wieder waren es die Arbeiter, die 1988/89 in den Streik traten, Solidarnosc wieder aufbauten und das alte Regime zum faktischen Abdanken zwangen. Wenn es jemand in Polen gab, der gegen das Chaos des „realen Sozialismus“ eine neue Ordnung setzte, dann waren es die in aller Welt so verleumdeten polnischen Arbeiter.
Szenenwechsel: heute gibt es niemanden in Polen, der weniger Einfluß auf die Geschicke des Landes hätte als die Arbeiter. Sie haben die Last des Kampfes getragen und müssen jetzt die Folgen jener Sozialpolitik ausbaden, die ihre eigene Führung, die sie 1981 auf dem ersten und bisher einzigen SOLIDARNOSC-Kongreß gewählt hatten, heute auf Geheiß des Internationalen Währungsfonds gegen sie beschließt. Noch sind der Entbehrungen nicht genug: Das Jahr 1990 beginnt für das polnische Volk, das schon jetzt am Rande des Existenzminimums lebt, mit Preiserhöhungen, die im Durchschnitt einen zwanzigprozentigen Einkommensverlust bedeuten. Entbehrungen kann man ertragen, wenn sich ein Lichtstreifen am Horizont zeigt, der wenigstens Hoffnung verheißt. Das aber ist in Polen nicht der Fall.
Im vorigen Frühjahr fragten wir einige SOLIDARNOSC-Führer, warum sie nicht schleunigst einen Kongreß ihrer Gewerkschaft abhalten, damit die Arbeiter mitreden können bei den politischen Veränderungen, die am runden Tisch vorbereitet wurden. Damals bekamen wir zur Antwort, daß ein Kongreß zwar nötig, die Vorbereitung auf den Wahlkampf aber noch viel nötiger sei. Im Herbst, gleich nach den Wahlen solle der Kongreß stattfinden. Bis heute steht der Termin für seine Einberufung in den Sternen. Der Grund dafür ist offensichtlich: Die Führer der SOLIDARNOSC wollen sich dem Angesicht ihrer Basis nicht gerne stellen, weil sie inzwischen Realpolitik gelernt haben, welche sagt, daß der Westen nur Kredite gibt, wenn die Lebensmittelsubventionen gestrichen werden. Sie fürchten, von den Arbeitern in die Pflicht genommen zu werden. Die würden sagen: Ohne unseren Kampf bestünde die Regierung Mazowiecki nicht, also soll sie doch gefälligst auch unsere Interessen vertreten, statt das Volk einer Hungerkur zu unterziehen.
Das aber geht nicht, wegen der „Sachzwänge“, wegen des IWF, der neue Kredite vom Abbau der Subventionen und folglich Preiserhöhungen abhängig macht, wegen des Marktes, der angeblich allein in der Lage ist, alle wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Es ist, als würde die Regierung Mazowiecki sagen: Ihr Arbeiter konntet zwar gut kämpfen, um die Stalinisten aus der Regierung zu vertreiben, jetzt aber bleibt bei Euren Leisten und überlaßt Wirtschaft und Staat denen, die was davon verstehen, und das sind allein die westlichen Banken und Unternehmen. Und Ihr von der Lenin-Werft: haltet gefälligst die Klappe, sonst kauft die amerikanische Milliardärin mit der polnischen Abstammung den bankrotten Laden am Ende doch nicht.
Was ist aus SOLIDARNOSC geworden? Die unabhängige Vertretung der Arbeiter, oder eine neue Staatsgewerkschaft, deren Zweck es ist, ihre Mitglieder ruhig zu stellen und sie vom Kampf gegen jene Maßnahmen abzuhalten, die ihnen die Lebensgrundlagen rauben? Und wer ist eigentlich Walesa? Ein Gewerkschaftsführer, oder der Kandidat für den verwaisten Posten des Generals Pilsudskis der zwanziger Jahre, der dann wieder besetzt werden muß, wenn diese Lümmel von polnischen Arbeitern in ihrer Verzweiflung erneut die Fahne der Schwarzen Madonna hissen, die Fabriktore verriegeln und dieses unanständige Wort herauschreien: Streik!
p.h.
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