Aufbruch und Abbruch der Initiative für unabhängige Gewerkschaften in der „Wende“ – DDR 1989/ 90

oder  Martin Jander’s Abwicklung der DDR – Opposition –  Teil 4 (1)
von Bernd Gehrke

Martin Jander benutzt Hannah Arendt als Zeugin gegen die DDR-Opposition, um zu belegen,
„daß totalitäre Herrschaft neben der Allgegenwart des Terrors für ihre Reproduktion auf die ständige Reproduktion totalitärer Denk- und Handlungsformen durch die Individuen selbst angewiesen sei.“ (S.36f).2 Um sich aus totalitärer Herrschaft praktisch herauszuarbeiten, also freies Handeln herzustellen, muß sich politisches Denken von der totalitären Vorstellungswelt selbst befreien. (S.37). Mit diesem Gedanken Hannah Arendts will Jander begründen, weshalb er nicht nur die Ideen und Handlungsentwürfe der DDR-Dissidenten als Erklärungsmuster ihres politischen Verhaltens wichtig findet, sondern auch, weshalb ihre politischen Ideen und Konzepte an die Traditionen und Denkformen der SED gebunden sind, aus denen sie sich erst schrittweise herausarbeiten (S.37). Dem von Hannah Arendt aufgenommenen Gedanken muß zunächst nicht nur zugestimmt, sondern er muß sogar auf alle Systeme ausgedehnt werden. Es gibt kein gesellschaftliches System, welches zu seiner Reproduktion nicht auf die zu ihm gehörenden Denk- und Handlungsformen der Individuen „angewiesen“ ist. Richtiger gesagt: ohne diese Denk- und Handlungsformen der Individuen gibt es gar kein gesellschaftliches System.

Doch diese plausible Überlegung in abstracto wird dort zur Crux, wo die konkreten Gegenstände betrachtet werden, denn Jander benutzt sie, um der DDR-Opposition Reste totalitären Denkens zu unterstellen (S.36ff). Zwar will er diesen Vorwurf “nicht als endgültig und umfassend betrachtet” relativieren (S.36), aber sowohl die Überlegungen Hannah Ahrendts, als auch alle folgenden Thesen dienen der Abstützung dieser sich im gesamten Buch durchziehende Argumentation. Unter Berufung auf ost- und westeuropäische Kritiker der DDR-Opposition, wie der westdeutschen Linken konstatiert Jander den Vorwurf, daß die Positionen der Dissidenten in Ost und West wegen der Scham über die fehlende Selbstbefreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus (!) „politische und kulturelle Restbestände totalitären Denkens in ihren Konzeptionen sichtbar machte“ (S.36). Sofern nun die Analyse in den Begriffen der Totalitarismusdoktrin überhaupt akzeptiert wird und die stalinistischen Strömungen als Teil der Linken definiert werden, ist dies bei einer so gefaßten Auffassung der Linken in Ost und West kaum auszuschließen. Doch gerade um die Kritik am Stalinismus geht es Jander nicht. Seine Kritik richtet sich gegen die demokratisch-sozialistische und radikaldemokratische Opposition in der DDR und deren Bündnispartner in Westdeutschland. Behauptet werden denn auch „antidemokratische, an einen deutschen Sonderweg zwischen Demokratie und Diktatur erinnernde Elemente“, denen von Anfang an die „republikanische Dimension“ fehlte. „Träumende ost- und westdeutsche Sozialisten seien häufig davon ausgegangen, daß ein national- oder zweistaatliches Deutschland nicht im demokratisch-kapitalistischen Westen, sondern im sozialistisch-totalitären Osten verankert werden sollte.“ (ebenda). Dieser Traum hätte oft antiwestliche, antiamerikanische und undemokratisch romantische Traditionen mit sich geschleppt. Dieses allzu bekannte Argumentationsmuster der herrschenden Klassen des Westens und ihrer ideologischen Wasserträger gegen die Vertreter eines radikaldemokratischen und demokratisch-sozialistischen dritten Weges im Westen, fand sein Pendant bei den Herrschenden im Ostblock gegen die Vertreter dieser Anschauungen dort. Hier lautete der Vorwurf natürlich stets umgekehrt: antisozialistisch, antisowjetisch und reaktionär. Beiden gemeinsam war allerdings stets der Vorwurf der Romantik. Gegen die demokratisch-sozialistischen Hoffnungen der „romantischen Illusionäre“ eines Sozialismus, „wie ihn Marx beschrieben hatte“, wurde in den 60er Jahren schließlich von den herrschenden Stalinisten, die die sozialistische Bewegung ermordet und eingesperrt hatten, das Propagandawort vom „real existierenden Sozialismus“ erfunden. Die ideologischen Vorturner Janders hatten dafür schon lange vor ihm die real existierende Demokratie der Bundesrepublik, in der die herrschende Klasse der deutschen Raubmörder von Anfang an das Sagen hatte, der „Traumrepublik“ eines neuen Deutschlands ihren Hohn entgegengeschleudert.

Bislang zielten solche Vorwürfe auf die Oppositionellen im Herrschaftsbereich des jeweiligen Blockes. Da es nun nur noch einen einzigen, kapitalistischen, gibt, gebürt Jander der Verdienst, sich zum Sprachrohr des westdeutschen Establishments gemacht zu haben und diesen Vorwurf nun konsequenter Weise auch gegen die ehemalige DDR-Opposition zu richten. Daß sich solche Herrschaftslogik wenig um elementare Logik und die wirkliche Geschichte schert, wird daran deutlich, daß von Seiten Janders erst gar nicht der Versuch eines Beweises gemacht wird. Wo hat die demokratisch-sozialistische DDR-Opposition je den Versuch gemacht ganz Deutschland in den stalinistischen Ostblock zu integrieren? Wo hat die demokratisch-sozialistische DDR-Opposition je den Versuch gemacht, ein „sozialistisch-totalitäres“ Regime auf Westdeutschland auszudehnen? Solch klarer Nachweis erübrigt sich in Janders Darstellung, denn für ihn sind eben Sozialismus überhaupt und Basisdemokratie jene Rudimente des Totalitarismus! Daß es auch bei einer solchen Position ein logischer Widerspruch ist, wenn er die DDR-Opposition zwar durchgängig als demokratisch-sozialistisch charakterisiert, ihr aber dennoch die Demokratiefähigkeit abspricht, bleibt dabei außer Betracht.

Entsprechend dünn gerät seine Grundsatzkritik am „Sozialismus schlechthin“. Unter Bezugnahme auf Leszek Kolakowski formuliert er: „Es scheint sich bei der Verwendung des Begriffs ‚Sozialismus‘ um eine diffuse Gemeinschaftsvorstellung zu handeln, die von osteuropäischen Kritikern nicht selten als romantische Tradition charakterisiert wurde, als Kern antidemokratischen Denkens und Handelns“ (S.51). Dieser Satz enthält Janders gesamtes Credo. Die „reaktionäre Romantik“ ist der historische Bezugsrahmen des Sozialismus und dieser ist der Kern antidemokratischen Denken und Handelns. Doch obgleich ihm Kolakowski eine solche Ableitung aus seinem Buch durchaus leichtmachen würde, erweist sich Janders Umgang mit seiner Quelle auch hier in schon gewohnter Weise als verfälschend. Denn Kolakowski bezieht sich nicht auf den Sozialismus schlechthin, wie Jander, sondern auf den Marxismus.3 Und: Jander unterschlägt, daß Kolakowski den Marxismus als eine in sich widersprüchliche Erscheinung faßt, die im Unterschied zu Jander’s Behauptung nicht nur auf der einen Quelle der Romantik beruht, sondern auf drei „Hauptmotiven“4, wie Kolakowski formuliert: dem romantischen, dem prometheisch-faustischen und dem aufklärerisch-deterministisch-rationalistischen. Daß bei Kolakowski aber der Hauptakzent auf dem prometheisch-faustischen Motiv Marxens liegt, hatte seinerzeit sogar Ernst Nolte bemerkt.5

Dem Janderschen Hauptmotiv: Sozialismus = reaktionäre Romantik entspricht auch die Qualität aller anderen Ableitungen. Die Romantik ist bei ihm nichts weiter, als ein konservativer Gegenschlag gegen die Industriegesellschaft. Dieses Urteil über sie könnte Jander den frühen Lehrbüchern der „totalitären DDR“ entnommen haben.6 Daß bei soviel „diffuser Gemeinschaftsvorstellung“ des Autors unter der Hand aus dem Sozialismus eine kommunistische Utopie wird, fällt dem Autor dann auch nicht weiter auf und wird nur jene Sozialisten ärgern, die mit Gemeineigentum oder Marxismus nichts am Hut haben. Aber letzterer ist wohl gemeint, auch wenn er durch Janders Feder nicht wiederzuerkennen ist. So läßt uns Jander wissen, daß die kommunistische Utopie „sich als romantische Zukunftsprojektion eines verschwundenen Paradiesgartens verstehen“ läßt (S.51). Die Janders dürfen sogar jede andere Gesellschaftutopie so verstehen. Und in der Tat, gibt es eine Reihe kommunistischer Utopien, in denen das Paradies eine große Rolle spielt. Sie gibt es, seit es Ausbeutung gibt und noch immer ist Karl Kautsky’s Buch über die Vorläufer des Neueren Sozialismus lesenswert. Diese Utopien erhielten denn auch den Namen utopischer Sozialismus oder Kommunismus von einer Strömung des 19. Jahrhunderts, die sich von ihnen ebenso scharf abgrenzte, wie von der Romantik. Denn sie stellte den Anspruch, den Sozialismus oder Kommunismus wissenschaftlich zu begründen durch die Erkenntnis der wirklichen Gesellschaftsgeschichte und jener Gesetzmäßigkeiten, die ihrer Entwicklung zu Grunde lagen. Natürlich ist der Marxismus gemeint. Durch die von ihm begründete dialektisch-materialistische Geschichtsauffassung hat er allerdings auch jenes theoretische Rüstzeug geliefert, welches es verschiedenen Generationen von Marxisten immer wieder gestatten, den Marxismus selbst in seinen verschiedenen Ausformungen und Ideologisierungen als Produkt bestimmter historischer Bedürfnisse und Interessen der radikalen, d. h. emanzipatorischen und wissenschaftlichen Kritik zu unterziehen. Hierdurch wurde es möglich, sowohl den Zusammenhang zwischen dem mechanistisch-ökonomistischen Weltbild des Marxismus der II. Internationale und der bürgerlichen Emanzipation des Proletariats im Kapitalismus aufzuzeigen, wie die Funktion der im ML zum Religionsersatz mutierten marxistischen Wissenschaft für die nachholende bürgerliche Revolution und die „jakubinistisch-terroristische“ Industrialisierung Rußlands durch die stalinistische Nomenklatura.7 Nun kann und soll hier aus Platz- und Zeitgründen nicht einmal die Andeutung eines Versuches der Darstellung des modernen und antiromantischen, marxistischen Sozialismus und seiner Geschichte, wie auch seiner Differenzen zu anderen sozialistischen Richtungen gemacht werden. Was aber getan werden muß, ist die Zurückweisung der Unterstellungen, derer sich Jander auf Grund seiner eigenen diffusen Vorstellungen vom Sozialismus bedient. Nach ihm soll die romantische Zukunftsutopie des Sozialismus darin bestehen, „daß jegliche Vermittlung zwischen Individuum und menschlicher Gattung aufgehoben sein wird“. Diesen Unsinn hat Jander bei Kollakowski abgeschrieben, der ihn freilich auf den Marxismus bezog. Was er aber unter menschlicher Gattung versteht, unterstellt Jander bloß. Einen Begriff von ihr gibt er nicht. So bleibt unklar, ob sie nur die abstrakte Gesamtheit der Individuen, die Summe ihrer Beziehungen oder den Reichtum ihrer gesellschaftlichen Geschichte impliziert. Doch wie man auch immer den Gattungsbegriff entwickelt, eine Gesellschaft, in der es keine gesellschaftliche Vermittlung der Individuen oder der Individuen zur Gattung gibt, ist undenkbar und wurde von keinem sozialistischen „Utopisten“ je behauptet. Gäbe es die Gesellschaft etwa ohne Sprache? Für den Marxismus jedenfalls ist Gesellschaft ohne „Vermittlungen“ undenkbar, denn für ihn ist die Gesellschaft gerade das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht nur der Kontakt der Individuen. Doch die Auflösung dieser unsinnigen Unterstellung findet sich in der bornierten Gleichsetzung der bestehenden, bürgerlichen Formen solcher Vermittlung mit jeglicher gesellschaftlichen Vermittlung überhaupt. Worum es Jander in seiner Darstellung des Problems also geht, ist die Behauptung der universellen Gültigkeit der bürgerlichen Formen für alle Zukunft. Die Unterstellung einer „kommunistischen Utopie“, die jegliche Vermittlung zwischen Individuum und menschlicher Gattung aufheben wolle, wird zum Synonym mit der Aufhebung „solcher vermittelnden Institutionen“ wie „Recht, Gewaltenteilung, Verfassung, Staat etc.“ (S.51). Doch das „Recht“ als gesellschaftliche Vermittlungsform hat es freilich immer gegeben, seit der Urgesellschaft. Allerdings waren Inhalt und Formen seiner Existenz stets so verschieden wie die Gesellschaft, deren Ausdruck es war. Der Staat allerdings ist erst mit den sozialen Klassen entstanden. Und mit ihnen wird er auch wieder vergehen. Da Jander solche Gedanken nicht entwickelt, bilden sie nur die Ideologeme zur Denunziation jeglicher Kritik an diesen bürgerlichen Formen als reaktionär und antidemokratisch.

Nun war die Staatstheorie ebenso, wie die Ideologietheorie zweifellos eine relativ wenig entwickelte Hinterlassenschaft des Marxschen Werkes – im Verhältnis zu seiner ökonomischen Theorie. Und die Verbrechen des Stalinismus haben in aller Schärfe die Dringlichkeit der Ausarbeitung einer Theorie der sozialistischen Demokratie gestellt. So sah sich die sozialistische Kritik in Ost und West an den gesellschaftlichen Verhältnissen im Stalinismus in mehrfacher Hinsicht vor die Aufgabe gestellt, demokratische Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft einzufordern. Doch Janders Kritik richtet sich gerade an die Adresse des demokratischen Sozialismus. Wäre es ihm um eine wissenschaftliche Kritik, statt um eine ideologisch-doktrinäre Abkanzelung demokratisch-sozialistischer Hoffnungen der DDR-Opposition und des Sozialismus überhaupt gegangen, so hätte er die Kritiken, Konzeptionen und Vorschläge die die verschiedenen antistalinistischen-Strömungen des marxistischen und nichtmarxistischen Sozialismus für eine demokratische sozialistische Gesellschaft hervorgebracht haben, überhaupt zur Kenntnis nehmen müssen. Er hätte nicht nur bemerken können, daß der Marxismus gerade in schärfster Abgrenzung vom romantischen und utopischen Sozialismus entstanden war, sondern daß er selbst auch vom anarchistischen Sozialismus als Staatssozialismus bekämpft wurde, während er seinerseits den Lassalleanismus als Staatssozialismus kritisierte. Dem entsprechen Traditionslinien, die bis heute wirken und verschiedene Konzeptionen einer demokratischen sozialistischen Gesellschaft hervorbrachten. Seit der Oktoberrevolution und erst recht seit der stalinistischen „zweiten“ Revolution gab es eine Fülle radikal demokratischer Kritiken und Vorschläge von sozialistischen Richtungen, wie Vorschläge für die Ersetzung der stalinistischen Diktatur durch ein demokratisches Regime. Sei es von Seiten des reformistischen Sozialismus der Bernsteinschen Richtung, die angesichts der Janders heute allerdings geradezu ultraradikal erscheint, des Austro-Marxismus, des revolutionären Sozialismus der Rosa Luxemburgschen Richtung, des Syndikalismus oder Trotzkismus. Dabei brauchte er nicht einmal so weitschweifige Ausflüge in die lange Geschichte sozialistischer Strömungen zu unternehmen, denn auch die jüngere Geschichte, insbesondere die der Ostblockstaaten selbst und ihrer sozialistischen Oppositionen, haben eine Vielzahl von Richtungen hervorgebracht. 8

Hätte Jander vom Sozialismus nicht nur diffuse Gemeinschaftsvorstellungen und wäre er nicht nur auf die ideologische Abkanzelung des Sozialismus als „Kern antidemokratischen Denken und Handelns“ fixiert, sondern wäre er der realen Geschichte sozialistischer Bewegungen nachgegangen, so hätte er nicht nur feststellen können, daß die Durchsetzung demokratischer Rechte und Freiheiten im 19. und 20. Jahrhundert ganz wesentlich der sozialistischen Arbeiterbewegung zu verdanken ist9. Hätte er noch näher hingeschaut, hätte er sogar feststellen können, daß gerade jene sozialistische Richtung, die mit der Oktoberrevolution in Rußland an die Macht kam, im schärfsten Kampf gegen die soziale Romantik der Volkstümlerbewegung entstanden war, um die nachholende Industrialisierung und Modernisierung Rußlands bedingungslos und anti-romantisch durchzusetzen. Der ML wurde deshalb nur zur etatistisch-industriellen und szientistischen Variante einer ideologischen Peitsche für die ursprüngliche Akkumulation und das modern-blutige Bauernlegen. Der aufgeklärte Absolutismus und der Liberalismus hatten ihm diese Funktion mit der Niedermetzelung und Versklavung kolonialer Völker ebenso vorgemacht, wie mit der gewaltsamen Proletarisierung und Pauperisierung der arbeitenden Klassen Europas.

Daß sich bei der Suche nach Alternativen zum despotischen Parteistaat in der DDR-Opposition wohl die gesamte Breite und Vielfalt sozialistischer Richtungen widerfand, ist evident. Doch dominant waren gerade in den 80er Jahren die Richtungen des menschenrechtlichen Sozialismus in der Tradition der radikaldemokratischen Linken von 1848. Der Marxismus war minoritär vertreten. Doch alle diese Richtungen wußten nicht nur um die antidemokratischen Defizite und Verbrechen des sogenannten „real existierenden Sozialismus“, sondern auch um die Demokratiedefizite und Verbrechen der „real existierenden kapitalistischen“ Gesellschaften. Und durchaus nicht nur wegen der Verbrechen des deutschen Faschismus. Daß der I. Weltkrieg ein verbrecherisches Massenmorden war, daß von den bürgerlichen Demokratien veranstaltet wurde war ebenso gegenwärtig wie der Krieg der USA gegen das vietnamesische Volk. Gegenwärtig war nicht nur der blutige Krieg der Sowjets in Afghanistan, sondern auch die blutigen Massaker der US-Demokratie gegen die lateinamerikanischen Völker, sei es in Chile, sei es in Nicaragua. Die Ausplünderung der Zweidrittelwelt durch die bürgerlich-demokratischen Staaten in den kapitalistischen Metropolen war in den 80er Jahren noch deutlich. Daß die bürgerlichen Demokratien auf den außerdemokratischen Voraussetzungen des ausbeutenden Privateigentums und der Klassenherrschaft der Bourgeoisie trotz freier Wahlen gegründet sind oder darin ihre Schranke finden, war eine durchaus verbreitete Erkenntnis. Ebenso, daß die parlamentarisch-demokratischen Staaten als Zuchtmeister einer Gesellschaft, die auf den Wolfsgesetzen von Konkurrenz und Profit beruht, noch jedes Mal in die Enteignung des bürgerlich-demokratischen Individuums durch seine Degradierung zum Stimmvieh umschlagen.
Die real existierenden Verbrechen beider Systeme, in Ost, wie in West, war die Grundlage der Erkenntnis, daß eine radikale Kritik am Stalinismus, die Kritik an jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung einschließen muß. Das Ziel einer radikalen Demokratisierung der Gesellschaft bestimmte über lange Jahre den Konsens innerhalb der DDR-Opposition. Und in diesen Konsens paßte auch der marxistische Sozialismus innerhalb der DDR-Opposition. Denn was Jander nicht weiß, ist, daß der Begriff der Aufhebung bürgerlicher Verhältnisse nicht nur deren Überwindung meint, sondern auch deren Weiter- und Höherentwicklung auf neuer Grundlage. Gerade der Marxismus unterscheidet sich von den romantischen Kritiken am Kapitalismus dadurch, daß er die historischen Errungenschaften dieser Gesellschaft nicht zurückdrehen, sondern deren klassengesellschaftliche Schranken überwinden will. Daß die Überwindung der bürgerlichen Arbeitsteilung für den Marxismus nicht den Rückfall in vorbürgerliche Gemeinschaftsformen bedeutet, war gerade ein Hauptgegenstand von Rudolf Bahro’s Buch Die Alternative. Hätte Jander einmal hineingeschaut, hätte er feststellen können, daß es dabei eben nicht um die Aufhebung arbeitsteiliger Prozesse „an sich“ geht, sondern um die Aufhebung einer solchen gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die ihren Ausdruck im sozialen Gegensatz, vor allem dem von Herrschenden und Beherrschten findet. Ausführlich sind hier auch die gesellschaftlichen Bedingungen einer solchen Überwindung diskutiert. Insofern war auch für alle Richtungen des oppositionellen DDR-Sozialismus klar, daß die Gestaltung einer Demokratie in der DDR auch die Überwindung der Schranken der bürgerlichen Demokratie bedeuten muß. Und dies bedeutete trotz aller Differenzen vor allem: Ausdehnung von Demokratie und Selbstverwaltung auf die Wirtschaft oder Einführung der Wirtschaftsdemokratie und Ausgestaltung einer solchen Demokratie, die die demokratischen Entscheidungsprozesse im Lebensalltag der Massen verankert, die Massen in die Demokratie also einbezieht, statt ausgrenzt. Dieser Konsens einer radikalen, statt bornierten Demokratie als Ausdruck der Überwindung von Klassenherrschaft einte das Gros der sozialistischen Richtungen der DDR-Opposition und verband sie mit dem Gros der nicht unbedingt sozialistischen, aber radikal demokratischen Oppositionsrichtgen.

Hätte sich Jander um eine Analyse der wirklichen Widersprüche und Probleme der DDR-Opposition bemüht, dann hätte er allerdings feststellen können, daß die systematische Aneignung demokratischer sozialistischer Gestaltungskonzepte durch die DDR-Opposition nicht eben weit verbreitet war. Gerade deren Abwesenheit hätte angesichts des von ihm ja behaupteten Sozialismus der Opposition für eine wissenschaftliche Analyse besonders auffallen müssen. Dann hätte Jander allerdings auch nach den Ursachen hierfür fragen müssen. Doch mit diesen Niederungen der wirklicheren Widersprüche hat er sich an keiner Stelle seines Buches eingelassen. Im Gegenteil, immer dann, wenn die Wirklichkeit seine ideologischen Globalbehauptungen lügen strafte, hat er sie schlichtweg unterschlagen. Denn ihm geht es allein um die Denunziation dieses demokratischen Sozialismus. Die romantische Idee, die der Sozialismus im Allgemeinen sein soll findet nach Jander in der DDR-Opposition ihren Ausdruck darin, daß sie „das Idealbild – das sich die Diktatur von sich selbst machte und für ihre Wirklichkeit hielt“, nämlich ein antifaschistischer Staat zu sein, einforderte, statt zu kritisieren (S. 51). Das Jander die Forderung nach einer antifaschistischen Demokratie für eine „romantische Idee” hält, sagt nur etwas über ihn aus. Die DDR-Opposition hat allerdings nicht wegen der „Selbstrechtfertigung der Diktatur“ an der Notwendigkeit eines antifaschistischen deutschen Staates festgehalten, sondern wegen der Erfahrungen mit der herrschenden Klasse Deutschlands, die nicht nur zwei Weltkriege, sondern auch die Shoa zu verantworten hat und in der Bundesrepublik noch immer an der Macht blieb. Diese Kritik Janders sagt aber nicht nur über ihn etwas aus, sondern auch über die DDR: sie war eben nicht nur eine Diktatur, sie hatte auch eine gegen die Diktatur arbeitende Opposition, die an der Existenz der DDR und eines antifaschistischen Deutschlands interessiert war. Daß Jander nicht nur die Legitimität einer antifaschistischen Demokratie bestreitet, sondern das Eintreten hierfür zur Akzeptanz der Selbstrechtfertigung einer Diktatur verstümmelt, macht ihn zum apologetischen Sprachrohr der Herrschenden in der BRD. Die DDR-Opposition hat ihren Antifaschismus nicht aus der SED bezogen, sondern aus dem Wissen um die Wurzeln von Krieg und Faschismus im Kapitalismus und der besonders reaktionären Rolle der deutschen Bourgeoisie. Solches Wissen war nach dem Untergang des dritten Reiches zum Gemeingut der deutschen Arbeiterbewegung und breiter demokratischer Kreise geworden. Deshalb hat sie den Verrat der SED an den Idealen eines antifaschistischen neuen Deutschlands angeprangert. Das Eintreten für eine radikale Demokratie war deshalb nicht nur eine Antwort auf den Faschismus, sondern auch auf die SED-Diktatur und den demokratischen Kapitalismus. Doch Janders Kritik dient gerade der Konstruktion des Gegensatzes von Demokratie und Sozialismus. Alles Entgegenstehende wird ausgeblendet oder verfälscht. Weil sie einem demokratischen Sozialismus anhing, konnte sich die DDR-Opposition nicht auf die Gestaltung einer Demokratie vorbereiten, ist ja der zentrale Vorwurf Janders. Doch ausgerechnet jene oppositionelle Gruppierung, die nach Janders Maßstäben des demokratisch-kapitalistischen Westens am wenigsten einer ordentlichen demokratischen Opposition entspricht, die Initiative für eine vereinigte Linke, hat als einzige von allen oppositionellen Gruppierungen bereits am Beginn des revolutionären Prozesses im Herbst 1989 mit dem Anhang zur Böhlener Plattform nicht nur einige Pauschalforderungen, sondern ein ausgefeiltes Programm radikal demokratischer Forderungen und institutioneller Vorschläge in die Debatte der oppositionellen Gruppierungen geworfen. Von den bürgerlichen Verfälschern der Oppositionsgeschichte wie von denjenigen ehemaligen Bürgerbewegten, die sich diesem Programm entgegengestellt hatten, wird es aus gutem Grunde verschwiegen. Auch Jander hat sich alle Mühe gegeben, um die Tatsache seines Inhaltes herumzureden. Obgleich zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung Anfang September 1989 mangels bisheriger öffentlicher Diskussion unklar war, welche Vorstellungen über die Form der gewählten Interessenvertretungen von der Mehrzahl der Linken favorisiert werden würde, also z. B. ob das höchste Organ der Demokratie ein zentral gewähltes Parlament, ein Rätekongreß oder ein Kongreß von demokratischen Vertretern der Kommunen sein sollten, wurde ein Paket von Mindestanforderungen aufgestellt, die in jedem Falle verwirklicht werden sollten, gleich, wie dies durch Debatte und praktische politische Entwicklung entschieden werden würde. Die sozialistische Demokratie wurde in diesem Programm als Ausdruck der Volkssouveränität durch die Volksmacht verstanden und diese als Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des werktätigen Volkes präzisiert. Hierfür wurden folgende politische Grundsätze als Mindestanforderungen formuliert:

1) Sicherung individueller und kollektiver Freiheitsrechte entsprechend der UN-Menschenrechtscharta (einschließlich ungehinderter Reisefreiheit und Streikrecht)
2) Rechtsstaatlichkeit (einschließlich individueller und kollektiver Einklagbarkeit der Freiheitsrechte sowie gesetzliche Verantwortlichkeit der Behörde und ihrer Funktionsträger gegenüber den Bürgern)
3) Funktionelle Gewaltenteilung auf der Grundlage der Volkssouveränität (einschließlich Verfassungskontrolle und Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Wahrnehmung der Volkssouveränität gegenüber den rechtsprechenden und vollziehenden Apparaten)
4) Starke basisdemokratische Verankerung der staatlichen Gewalt mittels Volksabstimmungen sowie politischer Rechte für Betriebsräte und Wohnbezirksräte
5) Selbstverwaltung aller territorialen politischen Gemeinschaften (Gemeinden, Kreise usw.) einschließlich der Bildung ihrer Rechtspflege- und Polizeiorgane durch sie selbst bei ausschließlich gerichtlicher Kontrolle ihrer von staatlicher Aufsicht freien Tätigkeit
6) Bundesstaatlichkeit auf der Grundlage der Länderstrukturen von 1949 sowie des Landes Berlin (DDR) und Bildung einer Länderkammer nach dem Senatsprinzip aus den Volksvertretungen der Länder
7) Politische und Meinungspluralität einschließlich Parteienpluralität auf der Grundlage freiheitlich-demokratischen Verfassungsrechtes
8) Verhältniswahlrecht
9) Recht von Gesetzesinitiativen und geregelte Vetorechte für demokratische Massenorganisationen (Gewerkschaften usw.)
10) Förderung von vielfältigen Bürgerinitiativen und Sicherung ihrer breiten Einbeziehung in die staatlichen Entscheidungsprozesse
11) Umbildung der Massenmedien aus Organen der monopolisierten Regierungsgewalt in Medien der Öffentlichkeit durch die Anwendung des öffentlichen Rechts und unter Sicherung des Medienzugangs für jeden Bürger
12) Informationsfreiheit in allen öffentlichen Angelegenheiten und Rechtsschutz gegen den „gläsernen Menschen“ (Datenschutz)10

Diese „rein politischen“ Grundsätze einer sozialistischen Demokratie, zu denen noch zahlreiche Vorschläge einer sozialistischen selbstverwalteten Wirtschafts- und Sozialordnung gehörten, wurden 1989/90 nicht verwirklicht. Sie sind gewiß einer kritischen Diskussion zu unterwerfen. Jedoch fanden sich etliche dieser Vorschläge in den Diskussionen anderer Bürgerbewegungen
und Initiativen wieder, wie auch in den Debatten der Arbeitsgruppe neue Verfassung des zentralen Runden Tisches. Doch wer wie Jander und alle bürgerlichen Abwickler der DDR-Opposition behauptet, diese hätte keine Konzepte für eine demokratische Gesellschaft hervorgebracht, kann nur der plumpen Geschichtslüge und der Apologetik westdeutscher Herrschaftsverhältnisse geziehen werden.

Janders Apologetik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesreublik erreicht aber dort ihren Höhepunkt, wo er das Eintreten für sie zum Maßstab dafür macht, ob es sich bei der DDR-Opposition überhaupt um eine politische Opposition handelte.

Fortsetzung folgt

Anmerkungen:
1 Siehe Martin Jander, Formierung und Krise der DDR-Opposition. Die „Initiative für unabhängige Gewerkschaften“ – Dissidenten zwischen Demokratie und Romantik, Akademie Verlag Berlin, 1996 und die Teile 1 bis 3 dieser Kritik, in Telegraph Nr. 7/8 bis 10/1996
2 Jander bezieht sich auf Arendts Abschnitt Ideologie und Terror: eine neue Staatsform, in: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, op. cit.; er gibt aber die Seitenzahlen falsch an: dieser Abschnitt beginnt S. 944 ff
3 Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, München 1981, S. 466 ff
4 Kollakowski erklärt den Marxismus aus den Motiven Marxens. Ein ebenso problematisches Verfahren, wie dasjenige Janders. Als ließe sich die Relativitätstheorie mit den Motiven Einsteins erklären oder die Geschichtsmächtigkeit des Christentums aus den Motiven des Jesus von Nazareth. Eine Methode, die für Jander durchaus gute Anknüpfungspunkte böte, wenn er sich auf dieses Thema denn ernsthaft einließe.
5 Ernst Nolte, Prometheus und sein Traum von der Macht, FAZ vom 3.4.1978
6 Daß Jander in seinem Urteil über die „reaktionäre Romantik“ nicht nur eine sehr deutsch-zentrierte Sicht formuliert, weiß er vermutlich ebenso wenig, wie er wohl kaum die klassizistisch-stalinistische Aufklärungstradition kennen dürfte, die das anti-romantische Bild seiner osteuropäischen Quellen ebenso geprägt hat, wie die offizielle Position der DDR-Lehrbücher über viele Jahre hinweg. Doch die Vorstellungen, die sich Aufklärung und bürgerliche Revolutionäre von 1789 über die Antike machten, waren ebenso illusorisch, wie die der Romantiker vom Mittelalter. Die Rolle, die diese Illusionen in der Geschichte spielten, hing also nicht so sehr vom illusorischen Blick in die Vergangenheit ab, sondern davon, welche Bedürfnisse sie in der Gegenwart artikulierten und welche Funktion sie unter den gegebenen Kräfteverhältnissen ausübten. Dem entsprechend war die Rolle, die die Romantik in den verschiedenen europäischen Ländern spielte, auch durchaus unterschiedlich. Die Geburt der modernen Nationen im 19 Jahrhundert und die 1848er Revolution ist von der europäischen Romantik ebenso wenig zu trennen ist, wie die Entstehung der modernen sozialen Bewegung und die Revolten der künstlerischen Moderne seit dem l’art pour l’art. Dies hatte sich seit dem Ende der 70er Jahre sogar in der DDR mehr und mehr herumgesprochen. Daß auch die deutsche Romantik nicht nur unter das Verdikt „reaktionär“ gestellt werden darf, sollte spätestens seit Christa Wolfs Beschäftigung mit der Günderode und der „frühen Romantik“ bekannt sein. Siehe Christa Wolf, Kein Ort. Nirgends, Berlin und Weimar 1979; dieselbe, Der Schatten eines Traumes, in: Fortgesetzter Versuch. Aufsätze, Gespräche, Essays, Leipzig, 1979
7 Den Gedanken, den Marxismus auf den Marxismus selbst anzuwenden, hatte bekanntlich Karl Korsch schon Anfang der 20er Jahre geäußert. In der Kritik am Leninismus wurde er vor allem vom Räte-Kommunismus aufgenommen.
8 Als Einstieg sei Jander empfohlen: Christian Fenner, Johannes Kandel, Fritz Vilmar und Wedigo de Vivanco-Luyken, Ausgewählte Bibliographie zur Theorie des Demokratischen Sozialismus, in: Autorenteam der HDS, Zur Einführung in die Theorie des Demokratischen Sozialismus, Köln und Frankfurt a. M. 1977 oder auch Udo Bermbach, Franz Nuscheler, Sozialistischer Pluralismus, Hamburg 1973
9 Den noch immer breitesten Überblick über die Geschichte der sozialistischen Bewegung gibt die vielbändige Geschichte des Sozialismus von Jean Chesneaux, Jaques Droz, Claude Mosse, Albert Soboul, die 1974 bei Ullstein erschien.
10 Dokumente der Initiative vereinigte Linke, DIE AKTION Nr. 60/63, Januar 1990

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