Der Widerstand des Berliner Bündnisses gegen Sozialkürzungen, Ausgrenzung und Hauptstadtwahn
Während Berliner Autonome zur Zeit diskutieren, ob sich die soziale Frage auch für die Autonomen stellt, oder von vornherein als nationaler Verteilungskampf innerhalb der Logik des Kapitals zum Scheitern verurteilt ist, begannen bereits im November 1995 verschiedene linke Gruppen und Initiativen ein Bündnis von unten zusammenzuschweißen, daß von Gewerkschaften über von den Kürzungsmaßnahmen des Berliner Senats unmittelbar betroffene Behinderten- und Frauen-, Kinder- und Jugendprojekte, SchülerInnen und StudentInnen bis zu Stadtteil- und Politgruppen reichte. Unter dem Eindruck der wochenlangen Streiks und anhaltenden Massendemonstrationen gegen die Sparpläne der Regierung Juppé in Frankreich versammelten sich für Organisatoren und Staatsmacht gleichermaßen überraschend am 14.12.95 bei eisiger Kälte rund 10.000 Menschen zu einem Protestmarsch durch Kreuzberg und Friedrichshain. „Dies alles ist erst ein Anfang!“, so die abschließenden Worte des Bündnissprechers.
Bereits am 25.01.96 folgte eine weitere Demonstration mit ebenfalls fast 10.000 TeilnehmerInnen. Unter dem Eindruck der unerwartet hohen Mobilisierungskraft der Bündnisdemonstrationen konnte sich das Bündnis Zusehens verbreitern. Waren zunächst StudentInnen dominierend, so schlossen sich immer mehr Initiativen und Projekte an, so daß nicht mehr der individuelle vereinzelte Protest der Betroffengruppen, sondern das kollektive Auftreten mit gemeinsamen Forderungen in den Vordergrund trat: „SchülerInnen gegen Arbeitsplatzabbau, Lohnabhängige gegen Einsparungen im Bildungs- und Kulturbereich, Flüchtlinge und ImmigrantInnen gegen die Ausgrenzung von Behinderten, StudentInnen gegen Lohnverzicht, SozialhilfeempfängerInnen gegen Tiergartentunnel und Hauptstadtwahn, Behinderte gegen Mietwucher und für Hausbesetzungen“ – das war das idealtypische Motto eines gesamtgesellschaftlichen Widerstands, einer Verknüpfungslogik, die das Eintreten der einzelnen Betroffenengruppen für die jeweiligen Forderungen und Ziele des anderen zum Grundprinzip machen sollte. Diese Entwicklung muß als der große Verdienst des Bündnisses gewertet werden. Allerdings zeigte sich spätestens an diesem Punkt das Unvermögen, sowohl des Bündnisses als auch seines „inner circle“, eine gemeinsame längerfristige Strategie zu entwickeln, die sich eben nicht entlang einer Reihe von Demo-Highlights orientiert, sondern an einem inhaltlichen Profil und daraus resultierenden praktischen Handlungsoptionen feilt: das Bündnis war eine Art außerparlamentarische Institution mit dem Charakter eines Gemischtwarenladens für Anti-Sparmaßnahmen und diffuse Systemkritik geworden.
Inhaltliche Kontroversen wurden kaum ausgetragen und somit konkrete Forderungen (Existenzgeld von 1.500,- DM plus Miete, BVG-Nulltarif usw.) zu lange in allgemeinen Floskeln verwässert, um nicht den kleinsten (produktiven) Riß im Bündnis zu riskieren, denn Quantität, nicht Qualität schien das Gebot der Stunde zu sein. Besonders deutlich wird diese Mißverhältnis von Theorie und Praxis bei der Großdemonstration des Bündnisses gegen Sozialkürzungen am 27.03.96 anläßlich des Kürzungshaushaltsbeschlusses der Großen Koalition am nächsten Tag. Das Bündnis stand zu diesem Zeitpunkt in seinem Zenit: Rund 30.000 Menschen demonstrierten unter dem Motto „Den Haushalt Kippen – Für eine Umverteilung von Oben nach Unten“ vom Rosa-Luxemburg-Platz zum Roten Rathaus. Erstmalig war es nicht mehr möglich, die Aktivitäten des Bündnisses und die unerhörten Protestzahlen in den Medien zu verschweigen. Einzelne Berliner Bezirke machten Anstalten, dem Senat den Gehorsam zu verweigern. Die Diskussion um den Solidarpakt und das „Bündnis für Arbeit“ von DGB-Chef Schulte waren gesellschaftliches Thema. Es brannte ein bißchen in der Luft, aber für das Bündnis rächten sich die in den Monaten entstandenen strukturellen und strategischen Defizite.
Zwar konnte es seinen größten Mobilisierungserfolg verbuchen und die seit der NOlympia-Kampagne und WBA-Zeiten größte gesellschaftliche Mobilisierung in Berlin auf die Straße bringen, doch ging es von nun an stetig bergab. Das Bündnis war in sich noch immer nicht geschlossen und die Fliehkräfte nahmen überhand. Die Decke nach unten an die Basis, das Herzstück des Bündnisses, erwies sich als äußerst dünn. Zwar unterstützten zwischenzeitlich mehr als 100 Initiativen und Gruppen das Bündnis, doch hatte sich das Mittel der Großdemonstration als stumpfe Waffe erwiesen. Das Bündnis hatte über die Organisierung des sozialen Widerstands die Praktizierung desselben aus den Augen verloren. Zum einen waren kaum Initiativen vorhanden, die Widerstand auf lokaler Ebene kontinuierlich praktizierten und demzufolge die Möglichkeit eines real machbaren kollektivem Widerstands aufzeigen konnten, zudem gelang es nicht, den Widerstand auf einige kleinere Punkte zu fokussieren, um vor Ort konkrete Erfolge zur Stärkung nach Innen und Außen und als Beweis für den Erfolg von Widerstand zu erlangen.
Die Projekte zogen sich nach und nach zurück, dafür versuchten bekannte Politkader noch auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Symptomatisch für den absoluten Praxisverlust ist der Aktionstag am 9.5.96: Als breiter Aktionstag gegen Sozialkürzungen mit anschließender Kundgebung angekündigt, konnte auch die KundgebungsteilnehmerInnenzahl von 3.000 nicht darüber hinweg täuschen, daß konkret vor Ort – von wenigen Ausnahmen abgesehen (BVG-Aktion: kollektives Schwarzfahren mit Faltblatt „Tips und Tricks“ für Fahrgäste, Sozialamtsaktion, Besuch in Edelrestaurant mit Currywurst und Dosenbier) – so gut wie überhaupt nichts vorbereitet oder durchgeführt worden war – mithin sich die Worte des Bündnissprechers zum Abschluß der Demo am 27.03.96 als hohle Phrase erwiesen hatten: „Unser Widerstand muß praktisch werden…“ Praxis bezog sich auf die Mobilisierung von Menschenmassen, als mediales Ereignis und die Qualität von Widerstand blieb verbalradikal.
Daß das Bündnis seiner eigenen Logik folgend dazu nicht einmal symbolisch in der Lage war, hatte sich bereits im Vorfeld der März-Demo gezeigt, als ein Vorbeimarsch am gerade eröffneten Nobelkaufhaus Lafayette in der Friedrichsstraße in vorauseilendem Gehorsam einiger BündnisvertreterInnen verhindert wurde. Trotz nicht zu leugnender Verdienste des Bündnisses gegen Sozialkürzungen, Ausgrenzung und Hauptstadtwahn ist es ihm bisher in keiner Weise gelungen, die sich selbst gesteckten und öffentlich propagierten Ziele weiterzuentwickeln. Der Vollständigkeit halber sei noch eine weitere Demonstration des Bündnisses vom 08.07.96 mit ca. 200 TeilnehmerInnen und die letzte Aktion am 12.12.96 mit etwa 400 Menschen erwähnt. Wieder herrschten Minus-Grade und die abschließenden Worte des Bündnissprechers ließen mich aufhorchen: „Dies alles ist erst ein Anfang…“ Ob sich Geschichte wiederholt?
HO
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