VERGANGENEGRENZÜBERSCHREITUNG

aus telegraph 1/1999
von Helmut Dietrich

Die Öffnung
1987-90 waren für mich Jahre großer sozialer und politischer Neuentdeckungen, und damit meine ich in keiner Weise die staatsfixierten Diskussionen über Ost-West, Glasnost und nicht erfolgten DDR-Umbau.

Wir sind fast jedes Wochenende zum „Polenmarkt“ gepilgert. Er fand an dem Ort statt, wo heute „debis“ und der Mendelssohn-Bartholdy-U-Bahnhof steht. Westdeutschland hatte Visumspflicht für Polen erlassen, Westberlin auf Druck der Westalliierten hingegen nicht, so dass jedes Wochenende Hunderte, dann sogar Tausende in Autos und Bussen in die leere Mitte von Westberlin kamen, um durch den Verkauf von Lebensmitteln und Spirituosen, von Handwerkszeug und optischen Waren, von Kleidung und allem möglichen mehr, ihren verfallenden Lohn aufzubessern. Wir gingen dort hin um zu gucken, zu hören und wenn möglich zu sprechen, mit ihnen, die aus dem vermauerten und verstaatlichten Mittel- und Osteuropa wieder auftauchten, in einer Zeit der Deregulierung und der drastischen Reallohnsenkungen, die die polnische Regierung sehr früh durchzusetzen begann.

Ich sage „wieder“-auftauchten, denn sie brachten vieles mit, das mich an Eindrücke aus meiner Kindheit erinnerte, als es vor der Zeit der konsumorientierten Sozialstaatsfassade noch Armut bei den Nachbarn gab, Musik, Alkohol, das Sich-Durchschlagen und bei vielen der unbedingte Glaube an den Aufstieg zumindest der nachfolgenden Generation. Und es entstand „wieder“ ein Mittel- und Osteuropa, auf den Straßen und in den U-Bahnen Berlins, von dem wir nur aus Geschichtsbüchern und politischen Diskussionen eine Ahnung hatten. Sie waren mit ihren Ansprüchen und Erwartungen im Westen angekommen, bitterarm, und wir hatten uns in aller sozialen und politischen Dimension mit ihnen auseinanderzusetzen. So kehrte für uns übrigens auch die politische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der während des Kalten Kriegs verschlossenen Welt zurück, mit dem NS-Vernichtungskrieg, der kommunistischen Nachkriegsgeschichte, den ArbeiterInnen der raschen Industrialisierung, der Solidarnosc. Die alten sozialrevolutionären Ausgangssituationen des Jahrhunderts waren wieder da, auch wenn von Revolution in keiner Weise etwas zu spüren war.

Wir beobachteten mit Argwohn, dass die Westberliner Polizei an den Kontrollpunkten der Westberliner Grenze Extraspuren für Menschen aus Polen anlegte, Razzien am Rande des Polenmarkts durchführte und in Ostberliner Kaufhäusern mit Lautsprecherdurchsagen und in den Läden mit Schildern gegen PolInnen gehetzt wurde. Wir befürchteten noch vor dem Anschluss und der Wiedervereinigung des „Volks“ das Umschlagen der sozialrassistischen Ausgrenzung in große offene Attacken und waren uns darüber im Klaren, dass es kaum noch eine Linke gab, die eingreifen konnte, über punktuelle Gegenangriffe hinaus.

Ab ungefähr 1987 besuchten uns mehrmals Leute aus Brasilien, die in Moskau studierten. Ihre Fahrt bis nach Westberlin war durch die Ausreiselockerungen der Sowjetunion möglich geworden. Sie deckten sich in der Kantstraße mit Kassettenrekordern ein. Wir halfen ihnen dabei, die Ware nach Ostberlin zu bringen. Sie bekamen in Moskau dafür einen Gegenwert, den sie in jeweils einen Flugschein nach Brasilien umtauschen konnten. Die erste Hälfte der 80er Jahre hatten sie in den Semesterferien nie nach Brasilien zurück gekonnt. Das letzte Mal, dass sie in dieser Sache bei uns waren – Anfang der 90er – , berichteten sie von rassistischen Übergriffen in der Ukraine und in Polen auf Mitreisende und auf sie selbst.

In diesem großen sozialen Kontext habe ich die langen Schlangen gesehen, die sich in und vor „Aldi“ bildeten – zuerst standen dort Menschen aus Polen, dann aus der DDR – und den Run auf die improvisierten Bananen- und Hifi-Verkaufsstände in der Nähe der neuen Grenzübergänge an der zerbröckelnden Mauer. Das Proletariat war wieder da, mitten in einem Berlin, in dem der politische Brückenschlag zur ArbeiterInnengeneration der MigrantInnen Ende der 70er Jahre sang- und klanglos gescheitert war und sich die deutsche politische Szene in Lifestyles aufgelöst hatte – bei aller Liebe zur Hausbesetzerbewegung, zu radikalen Aktionen und großen militanten Demonstrationen. Denn je mehr sich ein autonom-alternativer Alltag als Lebensform konstituiert hatte, desto selbstbezogener war die Szene geworden. Manche meiner Freund-Innen verabschiedeten sich, als Menschen aus Polen und der DDR ankamen, und zogen nach Westdeutschland, es sei ihnen „zu voll“ geworden.

Ich begann wieder zu fotografieren, zum ersten Mal nicht soziale und politische Bewegungen im Ausland, sondern vor der Haustür. Eine Art chronologische Fotoreportage entstand, zwischen angegriffener und abgetragener Mauer, wilden Märkten und den Warteschlangen in Berlin SO 36, dem hinteren Teil Kreuzbergs. Am meisten bleibt mir die Hundert-Mark-Schlange in Erinnerung: Menschen aus der DDR erhielten im Westen hundert Mark als sogenanntes Begrüßungsgeld der Bundesregierung. Die Schlange bei mir um die Ecke begann an der Ausgabestelle der Post in der Skalitzer Straße und ging dann rund um die Häuserblocks. Nie wieder habe ich eine solch merkwürdige Ansammlung gesehen, für die es eigentlich keinen Grund gab. Denn man konnte sich die besagten hundert Mark auch Tage und Wochen später abholen.

Damals arbeitete ich in einer Ladenwohnung in unmittelbarer Nähe des Checkpoint Charlie in der Kochstraße und in einem internationalen Stadtteilzentrum im hinteren Kreuzberg, ich unterrichtete Deutsch als Fremdsprache. Im Lauf der 80er Jahre hatte sich die Zusammensetzung der Kurse stark verändert: Waren es anfangs Leute aus Westeuropa, Polen und der Türkei, so kamen jetzt Flüchtlinge und MigrantInnen aus der ganzen Welt. Viele Diskussionsthemen waren die gleichen wie in unserer politischen Szene: Arbeit, Rassismus, Stadtpolitik, Aktuelles. Ein Unterschied ist mir im Gedächtnis haften geblieben. In jenen Jahren wurde „Shoah“ von Claude Lanzmann in einer vierteiligen Serie im Fernsehen gezeigt. Sehr viele KursteilnehmerInnen sahen die Filmabende, wir diskutierten in mehreren Klassen am Tag nach jeder Sendung darüber. Von meinen FreundInnen und politischen Bekannten haben nur ganz wenige den Film gesehen, er stieß bei den meisten nicht auf Interesse.

In den Unterrichtspausen ging ich zur Mauer und sah nach, wie weit die Demontage vorangeschritten war und was sich so tat an dem Kontrollpunkt. Als es dann große Mauerlöcher gab, fuhr ich gerne auf meinem Arbeitsweg mit dem Rad auf der Ostberliner Seite entlang und guckte, was ich nicht kannte und was sich veränderte.

Nie zuvor und nie wieder danach habe ich in Berlin so viel Ausflüge gemacht: Wir fuhren unter der Woche und am Wochenende sowieso nach Ostberlin, in die Umgebung und bis an die Ostsee, zuerst noch mit Passierschein, dann fuhren wir einfach ohne Erlaubnis über die Ostberliner Grenzen hinaus (als WestberlinerIn konnte man spontan – ohne Antrag an den Vortagen – am selben Tag nur nach Ostberlin). Es waren unendlich viele Fahrten voller Neugier. Die Landschaft, die Seen, die Dörfer, die kleineren Städte – es war ein großes Kennenlernen und ein Genießen. Ein Reiz war sicher, dass die Stadt- und Dorflandschaft im Vergleich zu Westberlin nicht so befestigt und funktional durchorganisiert war. Hinzu kam bei uns der Versuch zu verstehen, was sich warum wie verändert, bei den Menschen, in den Diskussionen. Und da war auch immer wieder die Enttäuschung: Vieles war furchtbar deutsch, und das, was es an Sozialleistungen gab – billige Lebensmittel, Mieten, betriebliche Versorgungsstrukturen und Beförderungstarife – , wurde oftmals nicht verteidigt, sondern als Grund des wirtschaftlichen Übels denunziert.

Die Besuche
1983 lernten wir über eine Freundin, die an der Humboldt-Universität Deutsch lernte, einen Kreis von Ostberliner StudentInnen kennen, die Texte westeuropäischer autonomer Bewegungen lasen. Unsere Neugier, wechselseitig eine kritische Ost-West-Diskussion unter uns selbst in Gang zu setzen, wurde zum Ausgangspunkt unserer Freundschaft und beflügelte uns, immer mehr Menschen einzubeziehen: Zunächst FreundInnen und Angehörige, dann ganze Gruppen, die aus verschiedenen Ländern auf dem Weg lockerer linksradikaler Netzwerke nach Kreuzberg zu Besuch gekommen waren. Ich glaube, es war schon das darauffolgende Jahr 1984, dass wir zu gut zwanzig Personen die Grenzkontrollen passierten, italienisch-spanisch-französisch-deutsch sprechend. Wir machten eine Mischung aus Besichtigung der Stadt und Treffen in Kneipen mit den Ostberliner Freun-dInnen und landeten schließlich dichtgedrängt in der Wohnung einer Familie, die uns eingeladen hatte. Die Forderung nach Reisefreiheit bildete meist den Anfangspunkt der Diskussion. Die kulturelle Selbstorganisation in Ostberlin – so würde ich das heute nennen – hatte für uns etwas Faszinierendes: Statt gewohnter Flüchtigkeit in Beziehungen und Ausdrücken stand uns eine Genauigkeit im sprachlichen und menschlichen Umgang entgegen, die sich, so erklärte ich mir, aus zwei Quellen speiste: Da war das aktuelle kulturoppo-sitionelle, sprachkritische Ambiente, und dann die andere historische Tradition, die in der Erfahrung kommunistischer, aber „linksabweichender“ Intellektueller stand, wenn sie auch mehrfach gebro-chen war, nach dem Spanischen Bür-ger-krieg, dem Widerstand, der Emigration und dem durch Konflikte gezeichneten Arrangement im neuen Staat. Beides gab es nicht ansatzweise in der politischen Szene des Westens.

Weder im Westen noch im Osten gab es damals ein gesellschaftlich und politisch relevantes Wissen aus erster Hand über die jeweils anderen. Fast alles, was über den Eisernen Vorhang kam, war gefiltert und über die jeweilige Staats- und Parteienoptik vermittelt. So waren unsere Gruppentreffen nicht nur wegen der Verabredungen, Vorbereitungen und – vor allem für unsere Ostberliner FreundInnen – mühsamen Suchaktionen nach geeigneten Treffpunkten, an denen wir bewirtet werden und ungehindert miteinander sprechen konnten, jedes Mal ein aus dem Alltag herausgehobenes Ereignis. Ich erinnere mich an regelrechte Exkursionen mit der Straßenbahn ganz an den Rand der Stadt, in entlegene Ausflugslokale, in denen das aus der Norm fallende Gruppen-Mittagessen halb privat bestens vorbereitet war. Wir sprachen viel, übersetzten, erklärten, aßen dabei und zogen dann in der Stadt umher in dem Bewusstsein, dass solche Möglichkeit des kritischen Austauschs etwas Seltenes war, das immer nur für einen Tag andauerte.

Immer wieder kam die Rede auf die heutige Bestimmung von antifaschistischen und sozialen Gesellschaftsstrukturen; unsere Freun-dInnen betrachteten ihre Umgebung und die künftige Perspektive mit großer Skepsis, nicht nur angesichts des wachsenden Einflusses beispielsweise der bundesrepublikanischen Medien, vielmehr sahen sie die Machtpolitik der SED als Ursache für zunehmende Entpolitisierung vieler Menschen in der DDR, die die sozialen Gestaltungsmöglichkeiten auf die Familie und den Zusammenhalt mit ihren FreundInnen beschränkten. Aus persönlicher Erfahrung ihrer Generation wussten sie: wer unpolitisch und anpasslerisch Karriere machen wollte, fand seinen/ihren Weg rasch in die SED.

Zu unserer Überraschung äußerten sich die kritischen Geister, die wir in jenen Jahren kennenlernten, uns gegenüber ganz offen und ohne das im Westen so oft beschriebene Klima der Angst. Das lag sicherlich daran, dass unsere Treffen genau in die Kategorie der halb familiären, halb privaten Atmosphäre fielen. Außerhalb solch abgezirkelter Rahmen gab es für sie Mitte der 80er Jahre keine politisch ernstzunehmenden Foren, die sich ihren Platz hätten erstreiten und der Repression trotzen müssen – und die auf die Wünsche und Bedürfnisse „von unten“ hin hätten entstehen müssen. – Die Welt der alten Westexilierten, die vor den Nazis geflohen und nach 1945 in die entstehende DDR zurückgekommen waren, aber keinen Platz in der Partei und im Staat hatten finden wollen und können, klang nach, wenn sich die Mutter der besuchten Familie an die politische Arbeit im Berlin vor dem Mauerbau erinnerte. Waren es langlebige gesellschaftliche Nischen, die unserer politischen Randexistenz im Westen ähnelten? Subjektiv sicher nicht, wir erzählten uns immer wieder aus unserem jeweiligen Alltag, so unterschiedlich war das doch.

Jeden Sommer wiederholten wir Gruppenfahrten dieser Art, setzten unsere Diskussionen unsystematisch, assoziierend fort, die genau andersherum liefen als es die Klischeerichtung eigentlich vorgab – aus dem Westen kamen nicht die Pakete des Konsums, sondern wir trafen jedes Mal bei unseren Ostberliner FreundInnen und Familien auf eine Gastfreundschaft und Bewirtung, die wir kaum erwidern konnten.

Wir – in Kreuzberg – hatten uns Babylonia ge-nannt, waren in der Haus-be-set-ze-rIn-nenbewegung, als internationales Stadtteilzentrum entstanden und hatten anfangs nicht einmal eine gemeinsame Sprache zur Verständigung untereinander. Einerseits hatten wir uns auf das Innenleben Kreuzbergs ausgerichtet, wir wollten mit unserer Initiative MigrantInnen, Flüchtlinge und interna-tionalistisch-solidarische Linke ansprechen und ihnen Räume öffnen, wo sie sich treffen könnten. Andererseits bauten wir ein lockeres politisches Netzwerk nach Italien, Spanien, Euskadi, Frankreich und Portugal auf, mit dem Ziel, Gegeninformation über alternative und radikale Initiativen und Bewegungen auszutauschen. Manchmal fuhren wir selbst auf diesem Weg zu Vortrags- und Informationsreisen los, in andere Länder; dann wiederum machten wir politische Veranstaltungen mit dem Besuch, der gerade da war. Berichte über Knäste in verschiedenen Ländern, über Streiks der Bergarbeiter aus Britain, über die französischen und algerischen Jugendaufstände, über populäre Hausbesetzungen in Italien – im Nachhinein entsteht aus dieser Skizze ein Bild, das überhaupt nicht mit dem heute so oft verwendeten „Getto“-Schlagwort zu kennzeichnen ist. Sicher: Wir lebten nicht im Wirtschaftswunder-Glück, sondern in ökonomischer Armut und häufig auch in politischer Bitterkeit. Wir waren überzeugt, dass auf absehbare Zeit keine Revolution ins Haus stehen würde. Juppisierung und Rassismus zerfraßen ringsum jedes Vertrauen auf entscheidende gesellschaftliche Veränderungen zum Positiven. Dennoch verkrochen wir uns nicht in Rückzugsnischen, sondern lebten politisch extrovertiert.

Das Mittel, mit dem wir unseren Laden ökonomisch aufrechterhielten, und das Medium unserer Verständigung waren die Fremdsprachen. Unterrichten und dabei selbst lernen, lehren und gegen die LehrerInnenrolle ankämpfen, das war unsere permanente Auseinandersetzung. Mal war es viel Arbeit, dann wiederum wurden die Kurse zu Orten, an denen das Leben anderer Klassen und Kontinente zur Diskussion kam, in erster Person.
In dieser chaotischen Gemengelage gingen wir dann in den Sommermonaten jeweils für einen Tag im Monat rüber zu Besuch, in großen Gruppen, und trafen dort unsere FreundInnen. Es hatte etwas Surrealistisches. Wir lebten in der Überzeugung, dass wir uns unsere politischen Diskussionen durch keine Paranoia kaputtmachen lassen würden, auch wenn wir davon ausgingen, dass wir in West wie in Ost überwacht wurden, und zehrten von dem Überschwang munterer Grenz-gängerInnen. Dennoch: dass wir die Grenzen nur in eine Richtung überwinden konnten, hatte etwas Bedrückendes, es brachte immer wieder ein Ungleichgewicht in unsere Beziehungen. Wir schmuggelten Bücher, Zeitungen und Flugblätter, manchmal gab es völlig absurde Szenen bei der Grenzkontrolle.

Wenn wir die zeitintensiven und ärgerlichen Grenzkontrollen hinter uns hatten und schließlich in Ostberlin waren, atmeten wir auf, weil der westdeutschen Repression und Überwachung hier eine territoriale Grenze gesetzt war. Und wenn wir auf der Rückfahrt in die westliche U-Bahn an der Friedrichstraße einstiegen, atmeten wir auf, weil wir die vermutete Stasi-Überwachung loswaren und wieder in einer metropolitan-gemischten, nicht so deutsch-homogenen U-Bahn-Gesellschaft saßen.

Zwischen der Währungsunion und dem Anschluss veranstalteten wir vom 1. bis zum 9. September 1990 ein „internationalistisches Treffen“ in Blankensee, im dortigen Jugendzentrum „Werner Lamberz“. Es war nicht einfach: Wir wussten in der Planungsphase ja nicht, ob es im Herbst noch dieses Haus, genauer: dessen staatlichen Träger – die DDR – geben würde. Die Leute, die wir von auswärts erwarteten, und wir selbst hatten nicht das Geld für irgendein Ausweichquartier. Zudem gab es damals noch die Visumspflicht für die DDR für alle Anreisenden. Aber wir hatten Glück.

Ich zitiere aus der 72-seitigen Dokumentation dieses Treffens: „Anfang September 1990 haben wir in Blankensee, in der Nähe von Potsdam, ein zehntägiges Treffen mit Teil-nehmerInnen aus spanischen, baskischen, französischen, italienischen, englischen, polnischen und ostdeutschen Gruppen organisiert. Als wir Ende 1989 mit den Vorüberlegungen für das Treffen begonnen hatten, stand im Mittelpunkt der Versuch, den ausländischen Gruppen einen direkten Kontakt mit Leuten aus der DDR zu ermöglichen, um sich aus erster Hand über die Veränderungen im Osten zu informieren, und um selbst Kontakte mit Osteuropa zu knüpfen. Die Themen reichten von der Frauen-, Patriarchats- und Rassismusdiskussion bis hin zur Debatte über Ökologie- und unabhängige Gewerkschaftsbewegung.“

Es war ein verrücktes und ausgelassenes Treffen mit über 50 TeilnehmerInnen. Wir hatten natürlich keine SimultandolmetscherInnen, und die Unterschiede zwischen den Kämpfen, Erfahrungen und Perspektiven konnten kaum größer sein als zu jenem Zeitpunkt. Es war ein Verständigungsversuch, als große Un-gleichzeitigkeiten in Europa herrschten. Aus Ostberlin kamen viele aus den linken oppositionellen Gruppen angereist, meist allerdings nur für ein oder zwei Tage – so groß war dort der Drang, jetzt Veränderung zu schaffen. So gaben die OstberlinerInnen, wenn ich mich richtig erinnere, viel in die Diskussion hinein, nahmen aber wenig Anstöße mit. Die Vernetzung blieb eine westliche, die auch von den Erfahrungen aus dem Osten lernte. Ach, wahrscheinlich irre ich mich, und wir haben mehr an kritischen Ideen in die Diskussion hineingegeben, als ich mir spontan vorstelle. Ich weiss es nicht, weil wir das nie aufgearbeitet haben. Obwohl wir begannen, in „einer Welt“ zu leben, ohne Ost-West-Blöcke, und wir in Westeuropa zunehmend von oben wirtschaftlich vereinheitlicht wurden, also die Un-gleichzeitigkeiten abnahmen, gewannen die sozialen wie politischen Auflösungsprozesse in Ost wie in West rasch an Fahrwasser. Orte der Diskussion schwanden.

Das Pogrom in Hoyerswerda
In den 80er Jahren erlebte ich die Gesellschaft im Westen als Roll-back, als den Beginn einer langanhaltenden Restauration. Sicher, da waren die HausbesetzerInnenbewegung und das Entstehen einer vielgliedrigen Welt der Autonomen, die ich in der politischen Kampfansage an den Neoliberalismus und gegen das Drängen der Bundesregierung auf die weltpolitische Bühne richtig und in der ich mich zurecht fand. Aber es war deutlich geworden, dass die radikale Linke in Westdeutschland auf absehbare Zeit eine Minorität sein würde. Das Modell einer Gesellschaftsveränderung von oben durch immer stärkere rassistische Ausgrenzung der Flüchtlinge nahm damals widerliche Gestalt an.

Mit dem Einigungsvertrag wurde den DDR-VertragsarbeiterInnen aus Vietnam, Mo-cambique, Angola und Kuba die Fortsetzung ihrer Arbeit und ihr Aufenthaltsstatus verweigert. Sie wurden nicht den sogenannten GastarbeiterInnen der BRD gleichgestellt. In Berlin bekamen wir die Diskussionen zur dramatischen Verschlechterung der Lage der Viet-namesInnen mit, die mit ihrer Entlassung und der sofortigen Vervielfachung ihrer Mieten in die Illegalität gedrängt worden waren. Aber auch aus anderen Städten der ehemaligen DDR drangen erschreckende Meldungen durch, die meist in keiner Zeitung Niederschlag fanden. Als MocambiquanerInnen von ihrem Betrieb in Hoyerswerda und Umgebung nach ihrer Entlassung auch noch die gesetzlich garantierte Abfindung verweigert wurde und ihre Abschiebungen begannen, versammelten sie sich, demonstrierten für ihre Rechte und bestanden darauf, nicht vor Auszahlung ihrer Abfindung abgeschoben zu werden. In dem Moment, im September 1991, begannen Lehrlinge aus ihrem Betrieb und ihre Nachbarn mit dem Pogrom. Nach Tagen immer massiveren Angriffs, als die Mo-cam-bi-quanerInnen „evakuiert“, d.h. auf einen russischen Armeeflughafen abtransportiert und ein großer Teil von ihnen sofort abgeschoben worden waren, zog der Mob in Hoyerswerda weiter gegen das Haus in der Thomas-Münzer-Straße, in dem Flüchtlinge, vor allem Roma aus Rumänien und Afrika-nerInnen, untergebracht waren.
Zweimal haben wir damals in Hoyerswerda demonstriert: Mit einer Spontandemonstration aus Berlin fuhren wir gegen Ende des Pogroms dort hin, und schließlich mobilisierten wir bundesweit. Auch in den folgenden Monaten bin ich häufiger dort gewesen, um die neuen offen rassistischen Konstellationen zu begreifen und nach Ansatzpunkten für eine politische Gegenbewegung zu suchen.

Symptomatisch nicht nur für Hoyerswerda erschien mir der Schulterschluss der offiziellen Gesellschaft: Von den stadtverwaltenden Parteien, von CDU bis PDS, von der LAUBAG-Betriebsleitung bis zu den Repräsentanten der Wende reichte der Mantel der Vertuschung. Viele Befragte verteidigten gar das Pogrom und seine Hintergründe. Manche äußerten mir in Interviews ihre gefühlsmäßige Überzeugung, dass sie die Angriffe als Fortsetzung der Wende-Mobilisierungen auf der Straße erlebt hätten. Als störend wurden die empfunden, die es wagten, Kritik offen zu äußern und sich öffentlich zu treffen, wie die jugendlichen Antifas.
Aber im Unterschied zur Öffnung der Mauer, die beziehungsweise deren Folgen ich mir an jenem Novemberabend in unserer Wohngemeinschaft ab und zu mit einem Blick auf die Fernsehmattscheibe ansah, war jetzt eines anders: 1989 waren wir Zaungäste. Die Geschichte spielte sich damals zwischen den Straßendemonstrationen vor allem in Leipzig und der Bundesregierung ab, die das Tempo der Veränderungen immer mehr beschleunigte. Wir standen daneben. Jetzt, nach Hoy-erswerda, begannen wir hingegen eine Kampagne für das Bleiberecht der Ver-trags-arbeiterInnen vor Ort, zusammen mit denen, die die Bundesregierung abschieben wollte und die auf den Straßen angegriffen wurden, und zusammen mit denen, die sich bereits in der ehemaligen DDR für deren Interessen eingesetzt hatten.

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