aus telegraph 1/1999
von Norbert (Knofo) Kröcher
Arme Leute wenden ihre Hemden. Auf der Straße wendet ein Auto. Und es gibt einen Vogel, der Wendehals heißt. Warum aber der November 1989 als „Wende“ bezeichnet wird, ist mir schleierhaft. Ebensowenig kann von einer Revolution die Rede sein, denn da pfeifen in der Regel die Kugeln, verlieren Denkmäler ihre Köpfe, werden Panzerbesatzungen von der Menge in ihren Fahrzeugen gegrillt. Was war also los?
1961 war ich 11 Jahre alt. Bis dahin gab es für mich als Kind nur ein Berlin. Die Hälfte meiner Verwandtschaft wohnte im Osten, die Hälfte meiner Spielkameraden wohnte im Osten, die Hälfte meiner Zeit verbrachte ich dort. Die Sektorengrenze bestand für mich aus schwer durchschaubaren Merkwürdigkeiten: am Ende der Schlesischen Straße in Kreuzberg hielt die Straßenbahn kurz vor der Freiarchenbrücke an, Fahrer und Schaffner stiegen aus und ihre Kollegen aus dem Osten übernahmen die Bahn, die Fahrgäste blieben einfach sitzen; nächste Haltestelle Puschkinallee. Irgendwo standen Uniformierte herum und taten wichtig. Manchmal mussten sich die Leute beim Passieren der Sektorengrenze in ihre Taschen sehen lassen. Ich musste auch einmal meine Hosentaschen nach außen wenden, weil mich ein Volkspolizist verdächtigte, in einem Ost-Hausflur eine Glühbirne geklaut zu haben.
Die grenznahen Kinos im Westen lebten vom Ostpublikum. Wer einen Ost-Personalausweis an der Kasse zeigte, kam für die Hälfte rein. Wir Kinder hatten keine Personalausweise. Als Ostkind galt man, wenn man einen noch gültigen Kinderfahrschein Ost vorweisen konnte. Die sammelten wir ergo an der Grenzhaltestelle ein oder erbettelten sie von aussteigenden echten Ostkindern oder von aus dem Osten zurückkehrenden Westkindern.
Am 13. August 1961 peste ich auf meinem Fahrrad zum Fußballspielen im Treptower Park. Kurz vor der Freiarchenbrücke steigt die Schlesische Straße etwas an. Auf dem Höhepunkt öffnet sich der Blick Richtung Puschkinallee. Und der hatte es diesmal in sich: kurz hinter der Brücke lagen quer über die Straße Spanische Reiter. Es wimmelte von bewaffneten Soldaten. Andere Soldaten, teilweise mit freiem Oberkörper, buddelten am Ufer des Schleusenkanals Zaunpfähle ein und spannten Stacheldraht. Auf beiden Seiten der Grenze hatte sich einiges Volk angesammelt und beobachtete ungewöhnlich schweigsam die Einzäunung des Ostens. Später wurde der Zaun durch eine Mauer ersetzt, die fortan den Blick in die Puschkinallee verhinderte.
Rund eine Generation später das umgekehrte Erlebnis, diesmal auf meinem Motorradgespann: plötzlich war da ein riesiges Loch in der Mauer, an deren Anblick wir uns so gewöhnt hatten, und dahinter die Puschkinallee.
Ich war nie ein Freund der DDR. Als ich alt genug war, politische Systeme zu begreifen, war die DDR bereits Lichtjahre vom Sozialismus entfernt. Gleichwohl musste ich sie verteidigen, wenn reaktionäres Gesindel sie angriff: natürlich ist die Mauer eine Schweinerei, aber seht euch mal das Gesundheitssystem an, die billigen Lebensmittel, die niedrigen Mieten, die Solidarität mit den Befreiungsbewegungen der 3. Welt etc. Außerdem war die bloße Existenz der DDR sowas wie eine Permanent-Backpfeife für den Westen, dessen System wir mit allen Mitteln bekämpften. Eine Art von Schadenfreude. In gewisser Hinsicht war vielen von uns West-Linksradikalen die DDR sogar ein wichtiges Beispiel. Nämlich dafür, dass der Sozialismus etwas Erstrebenswertes, etwas Erkämpfenswertes sei, und die DDR das Beispiel dafür war, was wir absolut nicht wollten. Deutlich wurde das nicht zuletzt dadurch, wie mißtrauisch uns die wir uns als Sozialisten verstanden die DDR-Obrigkeit beäugte. Das Ergebnis dieser merkwürdigen Beziehung waren eine haarsträubende Stasi-Akte (plus eine vom Großen Bruder KGB), willkürliche Einreiseverbote sowie demütigende Filzereien, wenn ich dann doch mal wieder ins gelobte Land durfte. Ich bedankte mich dafür mit zwei klandestin arbeitenden anarchistischen Lesezirkeln im Prenzlauer Berg. Das letzte Einreiseverbot erhielt ich übrigens am Morgen des 9. November 1989. Ein Freund aus der Marienburger Straße hatte Geburtstag. Obwohl ich im Besitz eines Passierscheines war, wies mich der wachhabende Offizier nach längerer Wartezeit am Übergang Invalidenstraße zurück: Ihr Aufenthalt in der Deutschen Demokratischen Republik, Herr Kröcher, ist zur Zeit nicht erwünscht. Dieter Kunzelmann und meine damalige LABV (Lebensabschnittsbe-voll-mächtigte) Angelika durften einreisen. Ich schäumte vor Wut und krakeelte solange herum, bis mich zwei Grepos rechts und links unterhakten und über den Grenzstrich schleiften. Am gleichen Abend las Schabowsky etwas in der Volkskammer vor, und ein paar Stunden später forcierte ich auf dem Motorrad mehrere Grenzübergänge einfach nur so. Es folgten drei tolle Tage der Anarchie, dann war die Luft raus.
Eigentlich wollte ich damals gerade Deutschland endgültig verlassen und nach Norwegen auswandern. Das war mit dem Fall der Mauer, quasi über Nacht, passé geworden. Nachdem ich im Westen jahrelang dazu aufgefordert worden war, doch gefälligst rüber in den Osten zu gehen, wenn es mir im Westen nicht gefiele, tat ich das auch, sobald es möglich geworden war. Zusammen mit Morten, dem Sohn von Ulrich Plenzdorf, und Karl, einem überaus geschickten Landmaschinenschlosser aus Templin bei Seelow, gründete ich in Alt-Rosenthal im Oderbruch eine Art Fuhrunternehmen, d.h. wir pumpten uns 20.000 Mark zusammen, kauften dafür einen uralten 40-Tonner Sattelzug sowie einen nahezu antik zu nennenden 16-Tonner-MAN und fuhren fortan im Schichtbetrieb Kies und Schwarzdecke für das VTK (Verkehrs- und Tiefbaukombinat) Potsdam, wie das Land Brandenburg damals hieß. Ein halbes Jahr lang baute ich im Oderbruch Straßen und war nur an den Wochenenden in Berlin. Die Straßenbaubrigade, mit der ich mein Brot teilte, sowie die Brigade der Bitumenmischanlage in der Nähe von Eisenhüttenstadt verschafften mir in dieser Zeit intimste Einblicke ins sozialistische Arbeitsleben, das häufig aus Trinken und Gammeln bestand, weshalb es verblüffende Ähnlichkeiten mit den paradiesischen Zuständen aus Marxens Frühschriften aufzuweisen hatte.
Anfang 1990 besetzte ich in der Kollwitzstraße eine leerstehende Wohnung, für die ich im September 1990 von der KWV einen Mietvertrag bekam, in dem ich mich mit meiner Unterschrift zu sozialistischem Wohnverhalten verpflichtete. Mittlerweile hatte ich mich von Morten trennen müssen, weil der das Ding mit dem „freien Unternehmertum gänzlich anders als ich verstand und nur noch mit Dollarzeichen in den Augen herum lief (wenig später feuerte er Karl). Ich wusste, dass ich im Osten bleiben würde. Warum? Ostberlin war für mich wie eine Reise in meine eigene Kindheit. Ostberlin war das Berlin meiner Kindheit. Seltsam nah und fern zugleich. Aber das wichtigste für mich war etwas Anderes: man mag darüber lachen, aber die Ostler erschienen mir als die besseren Deutschen. Sicher, auch ich hatte mich für sie geschämt, wenn sie brav in der Schlange nach ihrem sogenannten Begrüßungsgeld anstanden oder sich an der Grenze mit Südfrüchten bewerfen ließen oder mit Tränen in den Augen in Schaufenster glotzten, aber unterm Strich war die menschliche Atmosphäre im Osten einfach wärmer, es gab eine unbändige Lebenslust, jede Menge Zukunftsoptimismus und Solidarität. Meine Kontakte zu denen, die mit ihrer Beharrlichkeit im 89er Herbst den Rückzug des hoffnungslos verkalkten Regimes eingeläutet hatten, verführten mich zum Träumen: jetzt ist die Chose genug durchlüftet, jetzt ist die Chance da, einen neuen Versuch in Sachen Sozialismus zu unternehmen. Im friedlichen Wettstreit mit dem Westen, vielleicht in einer Art von Föderation. Spätestens am 3. Oktober 1990 war diese Seifenblase geplatzt. Durch Ostberlin rollten keine Panzer, sondern etwas Schlimmeres: die gepanzerten Limousinen mit den alten Westbonzen und den neuen Ostbonzen, die soeben ihr Land an den Westen verscherbelt hatten. Ich ging nach Hause und heulte vor Wut. Die, die etwas Besseres wollten, waren wieder einmal in der Minderheit. Ich blieb dennoch, fand viele neue Freunde und bereue nichts. Vom besseren Deutschen ist in den letzten zehn Jahren Einiges abgebröckelt, der Ellenbogen als Fortbewegungsmittel hat auch im Osten seinen Einzug gehalten. Das beklagen alle, aber natürlich will`s keiner gewesen sein. Stattdessen wird krankhaft aufgearbeitet. Altes Ostunrecht wird mit neuem Westunrecht zugeschüttet. Nicht die Mauertoten, nicht die Spitzelei, nicht die Misswirtschaft waren das wirklich Schlimme. Wenn wir der alten Ostblock-Nomenklatura etwas vorzuwerfen haben, dann dies: Ihr Arschlöcher habt die Idee des Sozialismus auf nicht absehbare Zeit diskreditiert. Und nur dafür gehört ihr bis ans Ende eurer Tage in eine Ein-Raum-Platte nach Magedeburg Nord.
Meine Westfreunde, die ich nur noch selten sehe, werfen mir mittlerweile halb scherzhaft vor, dass ich bereits hoffnungslos ver-ostet sei. Mag sein. Und wenn der Osten morgen sezessionieren würde ich würde bleiben. Hic Rhodos, hic salta.
Norbert Knofo Kröcher, Krahnfahrer, Photograph, Publizist, Gründungsmitglied der „Bewegung 2.Juni“ Westberlin
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