Editorial

aus telegraph 10/1990, vom 31. Mai

Wenn der geneigte Leser in diesem Heft den hunderttausendsten Kommentar zum Staatsvertrag sucht, hat er die falsche Zeitschrift gekauft. Bei solchen Themen wird uns Übei und wir könnten das Heft mit allerlei Auswurf beschmutzen. Ist uns also die vielberufenePolitikfähigkeit verloren gegangen? Wir haben es einfach satt. Nehmen wir einmal an, ein Volk, beispielsweise das deutsche, hätte sich eine staatliche Einigung vorgenommen. In der bisherigen Geschichte und sogar unter dem Diktator Bismarck, war so etwas nur über eine von allen Bürgern gewählte verfassungsgebende Versammlung möglich. Anschließend wurde dann in den meisten Fällen noch einmal vom Volk selbst abgestimmt. Ober die neue Verfassung und über die Einigung. In Fällen, in denen sich solche Verfahren erübrigten, konnte man bisher zuversichtlich annehmen, daß es sich um eine Annexion handelt.

Natürlich ist es im Falle der DDR nicht ganz so einfach. Es handelt sich nicht direkt um eine Annexion, sondern mehr um die Liquidation einer Bankrott gegangenen Firma und die mehr oder weniger vollständige Übemahme der willigen Angestellten. Und leider sind die Bürger unseres Landes in ihrer übergroßen Mehrheit so schafsmäßig subaltem und bar jeder eigenen Idee, daß einem Widerstandswilligen auch der Aufruf zu einer Volksabstimmung im Halse stecken bleibt. Bestenfalls würde das Unternehmen am Widerstand vieler Bundesbürger scheitern, die um ihren Wohlstand fürchten.

Welche Argumente gibt es noch, nachdem das Volk der DDR in so augenfälliger Welse das Selbstbestimmungsrecht ablehnt? Die alten Ideen und Sehnsüchte, die seit den Propheten des alten Testaments datieren und in jeder Zeit von tapferen Menschen und Völkern neu formuliert lind weiter entwickelt wurden: die Ideen von Gleichheit, Freiheit. Solidarität, die Idee einer auf der Basis von Gemeineigentum von unten organisierten Gemeinschaft und Gesellschaft.

Die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen.weisen in den meisten Fällen in die Gegenrichtung. Wie es aussieht, werden wir noch nicht einmal einen ’sozialisierten” Kapitalismus bekommen, sondern mehr einen aus dem 19. Jahrhundert. Der Staat wird nicht schwächer, sondern wird bis an die Zähne aufgerüstet. Einzig allein in der Föderalisierung und größeren Selbstständigkeit der Kommunen könnte ein Stück Hoffnung liegen, wenn nicht die völlig im Dunklen liegende Finanzierungsfrage wäre, die für weitere Sachzwänge zur Privatisierung öffentlichen Eigentums sorgen wird. Mehr Hoffnung könnte darin liegen, daß die verarmten Schichten der Bevölkerung wie Rentner, Arbeitslose und Frauen einerseits und die zunehmend unter Druck gesetzte politische Opposition andererseits einen gemeinsamen Weg finden.

Wir versuchen uns der Zeit zu stellen, indem wir den Aufbau des neuen Repressionssystems beobachten und die paar verbliebenen Hoffnungen diskutieren. In dieser Ausgabe haben wir deshalb alternativen Projekten und Gruppen in verschiedenen Städten der DDR, Ihren Problemen, Möglichkeiten und Grenzen und ihrem Kampf mit den Behörden und dem Kapital die meiste Beachtung geschenkt.

Wir bitten die Leser nochmals um Entschuldigung, daß es technisch noch nicht so recht klappt. Statt eine Sehschwachen-Schrift wie beim letzten Mal, haben wir diesmal eine zu kleine gewählt. Demnächst Besserung)

Redaktion „telegraph“