Staatsapparat will antimilitaristischen Widerstand brechen Wehrdienstverweigerer werden ausgeliefert, Strafen verlängert

aus telegraph 10/1990
von Gerold Hildebrand

Der seit Anfang März in der Justizvollzugsanstalt Rottenburg einsitzende Totalverweigerer Gerhard Scherer erhielt Anfang Mai seinen zweiten Einberufungstermin vom Bundesamt für Zivildienst. Anfang Juni soll er nochmals gezwungen werden, zum Zivildienst anzutreten, den er bereits am 1. März 87 nach 9 Monaten abgebrochen hatte, als ihm der Zusammenhang zur Wehrpflicht deutlich wurde. Er war zu 5 Monaten Kast verurteilt worden und würde bei „guter Führung“ nach 2/3 Haftzeit entlassen – also gerade noch pünktlich zu seinem Sklavendienst erscheinen können. Das Zusammenspiel Militär-Justiz-Zivildienstbehörde wird damit einmal mehr offenkundig.

Zum anderen ist Gerhard seit Oktober 87 Bürger des durch Aliiertenrecht seit 1969 wehrpflichtbefreiten Berlins. Auch diesen Zusammenhang zu verdeutlichen war Anliegen eines Solidaritätskonzertes am Brandenburger Tor am 21. Januar und zweier Pressekonferenzen von Verweigerern aus Ost und West (am 17. Januar in der Umwelt-Bibliothek im Prenzlauer Berg und am 29. Januar im Schöneberger Rathaus. Dessenungeachtet lieferte der Senat Gerhard Scherer zur Wehrstrafverbüßung aus, dabei die Dramatik nicht scheuend: Scherer hatte am 5. März friedenspolitisches Asyl bei der Senatsfraktion der AL gesucht, unterstützt von einer Ankettaktion von Verweigerern aus der DDR, die den Wehrpflichtflüchtling Momper zum Gespräch aufforderten. Tags darauf wurde Gerhard Scherer in den Räumen der AL brutal verhaftet. Noch am Abend sollte er aus Tegel ausgeflogen werden, jedoch der Pilot weigerte sich, den Transport zu verantworten, nachdem Gerhard deutlich gemacht hatte, daß dies gegen seinen Willen geschähe. So wurde er erst am nächsten Morgen klammheimlich vom eigentlich von den Amerikanern militärisch genutzten Flughafen Tempelhof in eine 50 Personen fassende Chartermaschine verfrachtet, die diesmal nur ihn und vier Bewacher beförderte.

Inzwischen läuft bereits der Angriff auf den entmilitarisierten Status von Westberlin. Der ehemalige Verteidigungsminister Scholz, der sich in letzter Zeit gern als Retter „ungeborenen Lebens“ aufspielt, äußerte in einer SAT1- Talkrunde am 28. April, das einzige Hindernis zur Wiedereinführung der Wehrpflicht in Westberlin seien die Aliierten. Stoltenberg zog eine Woche später nach und kramte den Begriff „Wehrgerechtigkeit“ wieder hervor. und Anfang Mai wurde bereits wieder ein Verweigerer von Westberlin ausgeliefert.

g.h.