Grabgesang auf Weimar: Hitler greift nach der Macht

5.Teil des Artikels: „Geschichtlicher Abriß über die Entstehung von Faschismus und den antifaschistischen Kampf in Deutschland“

von Dietmar Wolf
aus telegraph 1/1996 (#92)

Ab Januar 1933 spitzen sich für Kurt von Schleicher die Probleme zu. Franz von Papen untergräbt seinen stand bei Hindenburg und strebt geheime verhandlungn mit Hitler an. Des Kanzleramts ledig, kehrte Papen wieder zu seiner Linie, der Wiederherstellung der „Harzburger Front“, zurück. Auf diesem Wege konnte er hoffen, nochmals in das Zentrum der Macht zu gelangen und zugleich zu beweisen, daß er für eine Zähmung des Nationalsozialismus viel besser geeignet war als der Mann, der ihn zu Fall gebracht hatte: Schleicher. Für Hitler stehen die Zeichen günstig. Das von ihm anvisierte Ziel, die Kanzlerschaft, rückt immer mehr in greifbare Nähe.

Januar 1933: Reichskanzler Kurt von Schleicher gerät ins Wanken

Am 4. Januar 1933 traf sich der ehemalige Reichskanzler im Haus des Kölner Bankiers Kurt von Schroeder mit dem Führer der NSDAP. Papen, von dem die Initiative zu dem Gespräch höchstwahrscheinlich ausging, hatte sich schon nach der Reichstagswahl vom 6. November für eine Kanzlerschaft Hitlers ausgesprochen; es war nicht sein, sondern Hindenburgs Wille gewesen, daß er drei Wochen später vorübergehend als Anhänger einer Konfrontation mit den Nationalsozialisten erschien. Bei dem Kölner Gespräch, das entgegen den Absichten beider Seiten nicht geheim blieb, dürfte es Papen um die Vorbereitung einer Art von Triumvirat zwischen Hitler und ihm selbst gegangen sein, wobei er das Kanzleramt schon deshalb für sich reservieren wollte, weil Hindenburg noch immer entschlossen war, Hitler nicht zum Chef eines Präsidialkabinetts zu ernennen. Hitler beharrte auf seinem Anspruch, Reichskanzler zu werden, konnte aber fürs erste froh sein, daß ein enger Vertrauensmann des Reichspräsidenten sich um ihn bemühte und bereit war, Hindenburgs tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber dem „österreichischen Gefreiten“ abbauen zu helfen. Was dem Vorhaben Papens zusätzliches Gewicht verlieh, war die Unterstützung durch Teile der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie: Eine Verständigung zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten, aus der eine Regierung Papen-Hitler hervorging, wäre aus der Sicht von Reusch, Springorum und Vögler eine durchaus erstrebenswerte Alternative zum „staatssozialistischen“ Kabinett von Schleicher gewesen.

Vor der Öffentlichkeit war Papen bestrebt, der aufsehenerregenden Kölner Begegnung nachträglich einen anderen Sinn zu geben: Das Gespräch habe keinerlei Spitze gegen den Reichskanzler und die gegenwärtige Regierung gehabt, sondern sei im Gegenteil ein Versuch gewesen, eine Verständigung zwischen Hitler und Schleicher herbeizuführen und die NSDAP in die nationale Konzentration einzugliedern. Entsprechend äußerte sich Papen am 9. Januar auch dem Kanzler gegenüber, und dieser hielt es für richtig, den Eindruck zu erwecken, als schenke er den Beteuerungen seines Vorgängers Glauben: Ein amtliches Kommunique‘ nannte Behauptungen, es gebe Gegensätzlichkeiten zwischen dem Reichskanzler und Herrn von Papen, völlig haltlos.

Eine erste Folge der Begegnung zwischen Hitler und Papen blieb der Öffentlichkeit vorenthalten: Schleicher wagte nicht, den aus dem Urlaub zurückgekehrten Gregor Strasser zu seinem Vizekanzler und Arbeitsminister zu machen. Hindenburg, der den ehemaligen Organisationsleiter der NSDAP auf Schleichers Wunsch am 6. Januar empfing und einen positiven Eindruck von ihm gewann, wäre mit der Ernennung einverstanden gewesen. Aber nachdem Papen Hitler zu einer neuen politischen Zukunft verholfen hatte, konnte Schleicher kaum noch hoffen, daß ein Vizekanzler Strasser in der Lage sein würde, die NSDAP oder größere Teile von ihr ins Regierungslager hinüberzuziehen. Der Kanzler ließ seine Absicht nicht fallen, aber er wollte zunächst einmal abwarten, bis die politische Lage wieder überschaubar wurde.

Zu Schleichers Gesprächspartnern in der ersten Januarwoche gehörte neben Strasser auch ein prominenter Sozialdemokrat: Otto Braun. Nach außen drang über die Unterredung vom 6. Januar nur, daß sich der Kanzler und der preußische Ministerpräsident, wie schon bei einer ersten Begegnung am 8. Dezember, über den schwelenden Konflikt zwischen der Regierung Braun und der Regierung der Kommissare ausgesprochen hätten und daß der preußische Ministerpräsident die Aufhebung der Notverordnung vom 20. Juli 1932 gefordert habe. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich trug Braun, seinen Erinnerungen zufolge, Schleicher einen kühnen Plan zur Lösung der deutschen Staatskrise vor: „Heben Sie die Verordnung über den Reichskommissar in Preußen auf. Ich will dann ohne Rücksicht auf meine Gesundheit die Führung der Staatsgeschäfte wieder fest in die Hand nehmen. Sie lösen den Reichstag auf, ich führe die Auflösung des Landtags herbei. Wir schieben die Wahlen bis weit in das Frühjahr hinaus, regieren inzwischen mit Verordnungen und führen einen einheitlichen nachdrücklichen Kampf gegen die Machtansprüche der Nationalsozialisten. Diese haben bei der Novemberwahl bereits zwei Millionen Stimmen verloren, haben ihren Höhepunkt überschritten und befinden sich im Rückgange. Wir brauchen nur noch nachzustoßen, um ihnen bei Frühjahrswahlen eine vernichtende Niederlage zu bereiten … Ist der nationalsozialistische Spuk zerstoben, dann bekommen wir arbeitsfähige Parlamente und können der schwierigen Probleme Herr werden, um so mehr als auch die Wirtschaftskrise offenbar ihren Höhepunkt überschritten hat und Aussicht auf Besserung der Wirtschaftslage besteht.“

Wie sich die SPD zu diesem Vorstoß verhalten würde, war im Augenblick kaum abzuschätzen, aber letztlich auch ohne Belang. Denn Schleicher konnte Brauns Anregung gar nicht aufgreifen. Selbst wenn er persönlich bereit gewesen wäre, einen Pakt mit dem preußischen Ministerpräsidenten abzuschließen, hätte er Hindenburgs Zustimmung hierzu nicht erhalten. Die Aufhebung der Notverordnung vom 20. Juli 1932 mußte dem Reichspräsidenten als Kapitulation nicht nur vor Braun, sondern vor der Sozialdemokratie insgesamt erscheinen. Es war undenkbar, daß der Reichspräsident hierin einwilligte, und eben deshalb war Brauns Gedankenspiel wirklichkeitsfremd.

Zwei Tage später mußte Schleicher erkennen, daß eine Interessengruppe, der Hindenburg bisher stets sein Ohr geliehen hatte, systematisch auf den Sturz der Regierung hinarbeitete. In Gegenwart des Reichspräsidenten forderte der der NSDAP nahe stehende Reichslandbund am 11. Januar in einer Besprechung mit dem Kanzler sowie den Ministern von Braun und Warmbold abermals die sofortige Durchführung des Butterbeimischungszwangs für Margarine und außerdem einen umfassenden Zoll- und Vollstreckungsschutz für die Landwirtschaft. Kurz nach dem Empfang veröffentlichte der Bundesvorstand des Reichslandbundes eine bereits vor der Unterredung gefaßte Entschließung, die das Kabinett von Schleicher in bislang beispielloser Schärfe angriff. Die Verelendung der deutschen Landwirtschaft und insbesondere der bäuerlichen Veredelungslandwirtschaft, so hieß es darin, habe unter Duldung der derzeitigen Regierung „ein selbst unter einer rein marxistischen Regierung nicht für möglich gehaltenes Ausmaß“ angenommen.

Am 13. Januar schrieb der Leiter des agrarpolitischen Apparates, Richard Walther Darr einem Offenen Brief an Schleicher. Der Reichskanzler wurde darin belehrt, daß nur eine willensstarke „Regierung von Männern“ das Staatsruder in Richtung des Binnenmarktes herumwerfen könne, nicht aber eine Regierung, „die vor lauter Zweifeln nicht weiß, wohin sie sich drehen und wenden soll“. Das Schreiben endete mit einer historischen Anspielung auf Bismarcks exportfreundlichen Nachfolger. „Mit dem General von Caprivi fing die Leidenszeit der deutschen Landwirtschaft an. Wolle Gott, daß der General von Schleicher der letzte Vertreter dieser unglückseligen und landwirtschaftsfeindlichen Zeit- und Wirtschaftsepoche ist.“

Die Reichsregierung konnte den Brief Darrs ignorieren, nicht aber sich den Affront des Reichslandbundes gefallen lassen. Noch am 11. Januar ließ Schleicher amtlich bekanntgeben, daß die Reichsregierung angesichts der illoyalen Handlungsweise des Reichslandbundes fortan keinerlei Verhandlungen mehr mit Vorstandsmitgliedern dieses Verbandes führen werde. Hindenburg schloß sich der Sanktion des Kabinetts nicht an. Am 17. Januar schrieb er dem Präsidium des Reichslandbundes, er hoffe, daß die von ihm am gleichen Tag unterzeichnete Verordnung über einen verbesserten Vollstreckungsschutz zur Beruhigung der Landwirtschaft beitragen werde.

Die deutschnationale Presse beteiligte sich zunächst nicht an der Kampagne von Reichslandbund und NSDAP. Als Vertreter der DNVP erklärte der Abgeordnete Hergt am 11. Januar im Haushaltsausschuß des Reichstags vielmehr ausdrücklich, auch der Regierung von Schleicher müsse eine „Bewährungsfrist“ gegeben werden. Zwei Tage später bot Hugenberg dem Kanzler sogar eine offizielle Regierungsbeteiligung der DNVP an – freilich unter einer Bedingung, auf die Schleicher sich nicht einlassen konnte, ohne Industrie, Gewerkschaften und Verbrauchermassen gegen sich aufzubringen: Der Parteivorsitzende der Deutschnationalen wollte den Dauerstreit zwischen Wirtschafts- und Ernährungsministerium dadurch lösen, daß er beide Ressorts in einer, nämlich seiner Hand vereinigte. Außerdem verlangte Hugenberg, das neugebildete Kabinett müsse für die Dauer von mindestens einem Jahr ungestört arbeiten können, was nichts anderes bedeutete als Zwangsvertagung des Reichstags oder Aufschub von Neuwahlen.

Die Nazis sind wieder im Kommen

Den Nationalsozialisten ging es in der ersten Januarhälfte vor allem um den Nachweis, daß sie wieder im Kommen waren. Eine Chance, die Scharten der letzten Reichstagswahl und der thüringischen Gemeindewahlen, vom 4. Dezember auszuwetzen, boten die Landtagswahlen in Lippe am 15. Januar. Die NSDAP ließ über den norddeutschen Kleinstaat eine Welle von Kundgebungen hinwegrollen, wie man sie in dieser Wucht noch nirgendwo erlebt hatte. Allein Hitler sprach zwischen dem 3. und 14. Januar auf 16 Großveranstaltungen; dazu kamen zahllose Einsätze anderer bekannter Nationalsozialisten, darunter Goebbels, Göring, Frick und Prinz August Wilhelm von Preußen. Das Ergebnis wurde als großer Erfolg gefeiert. Der „Lippische Kurier“, das regionale Organ der NSDAP, überschrieb seinen Bericht mit den Schlagzeilen: „Abtreten, Herr von Schleicher! Hitler siegt in Lippe! – Gewaltiger nationalsozialistischer Stimmengewinn von 34,7 auf 39,6 v. H. gegen letzte Reichstagswahl.“ Goebbels notierte abends in sein Tagebuch: „Die Partei ist wieder auf dem Vormarsch. Uns allen fällt ein Stein vom Herzen.“

Tatsächlich gewannen die Nationalsoziafisten gegenüber der Reichstagswahl vom 6. November knapp 6 000 Stimmen dazu; verglichen mit der vorangegangenen Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 verloren sie jedoch fast 3 500 Stimmen. Die Gewinne der NSDAP gingen in erster Linie auf das Konto der Deutschnationalen, die gegenüber der Novemberwahl 4 000 Stimmen einbüßten. Die Sozialdemokraten, die Partei des seit 1920 regierenden Landespräsidenten Heinrich Drake, verbesserten sich gegenüber dem 6. November um 4 000 Stimmen, während die KPD um 3 500 Stimmen schlechter abschnitt. Von einer Niederlage der „Marxisten“ konnte also keine Rede sein. Rudolf Breitscheid meinte sogar, das Ergebnis der lippischen Wahl gebe der Sozialdemokratie „weit mehr als den Hitlerleuten das Recht, einem neuen Appell an das Volk mit größter Zuversicht entgegenzusehen“.

Bei einer Reichstagswahl hätten die Nationalsozialisten in der Tat nicht entfernt so intensiv für sich werben können wie im kleinen Lippe. Insofern waren die Kommentare der NSDAP durchsichtige Propaganda. Aus Hitlers Sicht hatte die Wahl von Lippe jedoch einen doppelten Vorteil: Innerhalb der NSDAP war seine Position gegenüber der Gregor Strassers erheblich gestärkt, und gegenüber dem konservativen Teil der sich neu formierenden „Harzburger Front“ konnte er nun sehr viel härter auftreten als vor dem 15. Januar. Für die Verhandlungen mit Papen, die bald danach wieder aufgenommen wurden., war der Ausgang der lippischen Landtagswahl daher in jeder Hinsicht eine Trumpfkarte Hitlers.

Das Kabinett plant den Staatsnotstand

Das Reichskabinett befaßte sich am 16. Januar erstmals im neuen Jahr mit der allgemeinen politischen Lage. Der Kanzler meinte eingangs, „daß es sich im wesentlichen um zwei Fragen handele, nämlich um die Fragen, ob es gelinge, die Nationalsozialisten zur Mitarbeit zu gewinnen oder ob diese den Kampf gegen das Reichskabinett wünschten. Bei der Mitarbeit gebe es natürlich noch gewisse Formen; denkbar sei eine aktive Mitarbeit im Reichskabinett, denkbar sei auch die Form der Tolerierung des Kabinetts oder etwas Ähnliches.“ Sollten aber bei der bevorstehenden Sitzung des Reichstags die Mißtrauensvoten als erster Punkt auf die Tagesordnung gesetzt werden, werde er dem Reichstag eine schriftliche Auflösungsorder schicken.

Dann kam Schleicher auf die schon vom Kabinett Papen mehrfach erörterte Lösungsmöglichkeit zurück: den Aufschub von Neuwahlen über die verfassungsmäßige Frist von 60 Tagen hinaus. Anders als am letzten Tag von Papens Kanzlerschaft sprach sich jetzt kein Minister gegen die Erklärung des Staatsnotstands aus. Reichsinnenminister Bracht sah den entscheidenden Unterschied zum vorangegangenen Kabinett darin, daß jetzt zumindest eines erreicht sei: „Eine Einheitsfront gegen das Kabinett bestehe nicht mehr.“ Strittig war hingegen, ob die von Schleicher angeregte Erweiterung der Regierungsbasis, „vielleicht von Strasser bis zum Zentrum einschließlich“, wirklich notwendig sei. Außenminister von Neurath äußerte Bedenken, „weil man auf diese Weise den Gedanken des Präsidialkabinetts verlasse und zu einem Parteienkabinett gelangen werde“. Schleicher erwiderte, „daß auf die Dauer in Deutschland nicht regiert werden könne, wenn man nicht eine breite Stimmung der Bevölkerung für sich habe“. Zu dem Einwand von Staatssekretär Meissner, „daß er in einem Verlassen des Gedankens des Präsidialkabinetts eine Gefahr für die Stellungnahme des Herrn Reichspräsidenten erblicke“, meinte der Reichskanzler lediglich, „daß er hierüber eingehend mit dem Herrn Reichspräsidenten gesprochen habe“.

Bemerkenswert optimistisch war das Urteil mancher Kabinettsmitglieder, was die Bereitschaft der in Aussicht genommenen Parteien und Parteiführer anging, sich an einer verbreiterten Regierung Schleicher zu beteiligen. Arbeitsminister Syrup sah bei Strasser und beim Zentrum „keinerlei Schwierigkeiten“, hatte aber in bezug auf Hugenberg „gewisse Bedenken“. Schleicher beharrte darauf, daß man Hugenberg gewinnen müsse, wenn man auf seine Partei rechnen wolle. Strasser werde gern ins Kabinett eintreten, werde aber wahrscheinlich nicht viel Anhang mitbringen. Hitler selbst wolle gar nicht an die Macht, sondern strebe nur noch nach dem Reichswehrministerium, das ihm Hindenburg aber nicht geben werde.

Als Termin der Neuwahl zum Reichstag schlug Bracht den 22. Oktober oder 12. November vor. Ob Hindenburg bereit war, den vom Kabinett vorgesehenen Weg zu gehen, war alles andere als sicher. Otto Braun gegenüber hatte Schleicher am 6. Januar gesagt, der Reichspräsident werde ihm die Auflösung des Reichstags abschlagen. Brüning hörte gegen Ende der zweiten Januarwoche aus Landbundkreisen, daß der Reichskanzler „für eine Reichstagsauflösung überhaupt keine Vollmachten mehr vom Reichspräsidenten bekommen würde“. Hingegen erfuhr Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk am 17. Januar von Schleicher, „der alte Herr wolle nicht mehr warten, sondern dränge auf die Auflösung des Reichstags“. Vermutlich hatte sich Hindenburg einmal so und einmal anders geäußert. Sichere Anhaltspunkte dafür, daß der Reichspräsident wie Ende August und im Spätherbst 1932 entschlossen war, notfalls die Verantwortung für eine Durchbrechung der Reichsverfassung zu übernehmen, hatte Schleicher am 16. Januar jedenfalls nicht.

Die Regierung Schleicher gerät ins Straucheln

Die politischen Weichen wurden in der zweiten Januarhälfte in einer Dahlemer Villa gestellt. Im Hause des erst kürzlich der NSDAP beigetretenen Sektkaufmanns Joachim von Ribbentrop, wo Hitler und Papen schon einmal, am 10. Januar, zusammengetroffen waren, fanden am 18. und 22. Januar zwei weitere Begegnungen zwischen dem Führer der NSDAP und dem ehemaligen Reichskanzler statt. Beim ersten dieser beiden Gespräche bestand Hitler erneut auf seiner Kanzlerschaft, was Papen zu der Entgegnung veranlaßte, das durchzusetzen, übersteige seinen Einfluß bei Hindenburg. Die Unterredung vom 22. Januar hatte besonderes Gewicht dadurch, daß an ihr, neben einigen der engsten Vertrauten Hitlers, auch Staatssekretär Meissner und Oskar von Hindenburg teilnahmen. Mit dem Sohn des Reichspräsidenten sprach Hitler zwei Stunden lang unter vier Augen. Oskar von Hindenburg war, einem späteren Zeugnis Meissners zufolge, von Hitlers Ausführungen sehr beeindruckt, und auch Papen gab zu erkennen, daß er nunmehr alles tun werde, um die Kanzlerschaft Hitlers durchzusetzen.

Der Reichspräsident hatte sein Einverständnis damit erklärt, daß sein Sohn und Meissner hinter dem Rücken Schleichers mit Hitler verhandelten, aber als Papen ihm am folgenden Tag berichtete, der Führer der Nationalsozialisten beharre nach wie vor auf der Kanzlerschaft, lehnte er es erneut ab, diese Forderung zu erfüllen. Wenig später empfing Hindenburg den Reichskanzler. Schleicher legte dem Reichspräsidenten dar, daß der Reichstag voraussichtlich am 31. Januar zusammentreten werde. „Die Reichsregierung müsse von diesem Reichstag ein Mißtrauensvotum und die Aufhebung der Notverordnung (vermutlich gemeint die Margarineverordnung vom 23. Dezember 1932) erwarten. Er schlage deshalb vor, den Reichstag aufzulösen. Da aber eine Neuwahl des Reichstags die Lage nicht verändern würde, somit ein Notzustand des Staates geschaffen würde, bliebe wohl nichts anderes übrig, als die Neuwahl auf einige Monate hinauszuschieben.“

Hindenburgs Antwort war ein kaum verschlüsseltes Nein in der Hauptsache: Der Reichspräsident erwiderte laut amtlichem Protokoll, „daß er sich die Frage einer Auflösung des Reichstags noch überlegen wolle, dagegen die Hinausschiebung der Wahl über den in der Verfassung vorgesehenen Termin zur Zeit nicht verantworten könne. Ein solcher Schritt würde ihm von allen Seiten als Verfassungsbruch ausgelegt werden; ehe man sich zu einem solchen Schritt entschließt, müsse durch Befragen der Parteiführer festgestellt werden, daß diese den Staatsnotstand anerkennen und den Vorwurf eines Verfassungsbruchs nicht erheben würden.“ Mit Hindenburgs Entscheidung war nicht nur der Plan, den Staatsnotstand auszurufen, gescheitert, sondern zugleich mit diesem Plan auch die Kanzlerschaft Schleichers.

Die Offentlichkeit erfuhr von dem Ausgang der Besprechung zwischen Präsident und Kanzler nur, daß sie stattgefunden hatte. Schleicher ließ am folgenden Tag durch die Reichspressestelle sogar offiziell erklären, daß er sich die Theorie des „staatlichen Notstandes“ nicht zu eigen gemacht habe und daß die Regierung bestrebt sein werde, alles zu tun, um die Verfassung aufrechtzuerhalten. Doch das Dementi fand keinen Glauben. Am 25. Januar erhoben der Parteivorstand der SPD und der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion „schärfsten Protest gegen den Plan der Proklamierung eines sogenannten staatlichen Notstandsrechts“. Die Verwirklichung dieses Plans würde auf den Staatsstreich hinauslaufen, „der dem Volk seine verfassungsmäßigen Rechte raubte und jenen Cliquen zugute käme, die ohne Rücksicht auf die Gesamtheit und vor allem auf die Arbeiterklasse ihre Sonderinteressen vertreten und dabei die Kritik des Parlaments zu scheuen allen Grund haben. Ein solcher Staatsstreich würde einen rechtlosen Zustand schaffen, gegen den jeder Widerstand erlaubt und geboten ist.“

Am 26. Januar meldete sich das Zentrum zu Wort. In einem Brief an Schleicher warnte der Parteivorsitzende Kaas, „die Hinausdatierung der Wahl wäre ein nicht zu leugnender Verfassungsbruch mit all den Konsequenzen rechtlicher und politischer Natur, die sich daraus ergeben müßten. Wer die Geschichte der innenpolitischen Entwicklung seit dem Sturz des Kabinetts Brüning rückschauend prüft und sachlich wertet, wird zu dem Ergebnis kommen müssen, daß von einem echten Staatsnotstand gar nicht geredet werden kann, sondern höchstens von dem Notstand eines Regierungssystems, das durch die Begehung eigener und durch die Duldung oder gar Ermunterung fremder Fehler in die heutige schwierige Lage in steigendem Tempo hineingeglitten ist … Die Illegalität von oben wird die Illegalität von unten in einem Maß Auftrieb bekommen lassen, das unberechenbar ist. Meine politischen Freunde werden daher, wenn die Frage ihrer Beratung und Beschlußfassung unterbreitet werden soll, ohne jeden Zweifel die Beschreitung solcher Wege ablehnen und verurteilen.“ Auf Brünings Anregung hin beschloß die Reichstagsfraktion des Zentrums am gleichen Tag, eine Abschrift des Briefes dem Reichspräsidenten zuzustellen.

Da Hindenburgs grundsätzliche Entscheidung bereits gefallen war, konnten die Stellungnahmen von SPD und Zentrum nichts mehr bewirken. Aber sie warfen doch ein bezeichnendes Licht auf die Lagebeurteilung der beiden Parteien. Als die eigentliche Gefahr galt ihnen die Verletzung eines Artikels der Reichsverfassung, nicht deren totale Beseitigung. Von einem Reichskanzler Hitler, der sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützen konnte und auf diese Mehrheit angewiesen war, erwartete man eine solche Verfassungsvernichtung nicht. Die Kampagne gegen Schleichers Staatsnotstandspläne schloß mithin die logische Konsequenz in sich, daß eine nicht offen verfassungsfeindliche „Hitler-Lösung“, verglichen mit dem Vorhaben des „sozialen Generals“, als das kleinere Übel erschien.

Die Kommunisten demonstrieren

Die Berliner Kommunisten antworteten am 25. Januar mit einer Demonstration auf dem Bülowplatz auf den Aufmarsch der Nationalsozialisten am gleichen Ort drei Tage zuvor. Die „Rote Fahne“ sprach von 130 000 Teilnehmern. „Sie marschierten durch die Hauptstadt des Reiches, im Zentralpunkt der faschistischen Diktatur der Schleicher und Bracht! Die Sturmbataillone der proletarischen Kampfeseinheit entfalteten ihr leuchtendes rotes Banner! … Was scherte diese Kämpfer für den Kommunismus der klirrende Frost! Da zogen in endlosen Zügen die grauen Kolonnen der Stempelbrüder, notdürftig gekleidet, weil Schleichers Winterhilfe sie hungern und frieren läßt, weil Schleichers Politik eine provozierende Hilfe, ein glänzendes Geschäft für die Kapitalisten und die Junker ist. . . Da marschierten in den Kampfbataillonen des roten Berlin ganze Gruppen uniformierter Reichsbannerproleten gegen die Spalter und Saboteure der SPD. 130 000 Antifaschisten jubelten dem Zentralkomitee und dem Genossen Thälmann zu! Nahezu vier Stunden dauerte der Vorbeimarsch. Die Marschstraßen waren umsäumt von jubelnden Massen. Das war der gewaltigste Massenaufmarsch gegen die Schleicher-Bracht-Diktatur!“

Selbst der „Vorwärts“ war beeindruckt. Friedrich Stampfer räumte ein, seine Beobachtungen am Ort des Geschehens seien für ihn ein „Erlebnis“ gewesen. „Auch das schärfste Urteil über die Politik der kommunistischen Führung kann nichts ändern an der Hochachtung, dje diese Massen verdienen. Durch klirrenden Frost und schneidenden Wind zogen sie in abgeschabten Mänteln, in dünnen Jacken, in zerrissenen Schuhen stundenlang. Zehntausende blasser Gesichter, aus denen die Not sprach, aus denen aber auch der Opfermut sprach für die Sache, die sie für die richtige halten. Aus ihren rauhen Stimmen klang der Haß, der tausendmal berechtigte Haß gegen eine Gesellschaftsordnung, die sie zu Not und Elend verdammt, der Protest, der tausendmal berechtigte Protest gegen den grotesken Wahnsinn, die schreiende Ungerechtigkeit unserer sozialen Zustände. Der wäre kein Sozialist, der diesen Haß, diesen Protest nicht mitempfände!“

Mehr Lob hatten die Kommunisten vom „Vorwärts“ noch nie zu hören bekommen. Aber die Bemühungen des sozialdemokrafischen Parteiorgans waren, soweit sie der Kommunistischen Partei galten, vergeblich. In derselben Ausgabe, in der sie vom Aufmarsch am Bülowplatz berichtete, setzte sich die „Rote Fahne“ auch mit der Frage des „Vorwärts“ auseinander, warum zwischen den Parteien der zweiten und der dritten Internationale nicht ein ähnliches Verhältnis möglich sein sollte, wie es zwischen Sowjetrußland und kapitalistischen Ländern bestehe – im Sinne von Nichtangriffspakten nämlich. Das Zentralorgan der KPD nannte das Ansinnen, „daß wir Kommunisten mit den Goebbels-Wegbereitern aus der SPD-Führung einen Nichtangriffspakt‘ abschließen, eine infame Verhöhnung des antifaschistischen roten Berlin.“ Der Nichtangriffspakt, wie die SPD ihn vorschlage, sei in Wahrheit ein „Angriffspakt gegen die Werktätigen“ und diene nur der „Sicherung des kapitalistischen Ausbeutersystems und seiner sozialdemokratischen Stütze“.

An eine, wenn auch nur begrenzte Aktionseinheit war unter diesen Vorzeichen nicht zu denken. Die KPD blieb bei der Parole vom „Hauptfeind Sozialdemokratie“ und sah eben darin den einzig konsequenten Antifaschismus. Stampfer hatte recht, als er am Schluß jenes Artikels, mit dem er um die kommunistischen Arbeiter warb, die Last des Kampfes für die Freiheit, ohne die es keinen Sozialismus gebe, ganz auf den Schultern der Sozialdemokratie ruhen sah. „Wir führen ihn für die ganze Arbeiterklasse, auch für jene Massen, die sich heute noch zu unseren Gegnern scharen, und wenn wir am nächsten Sonntag marschieren, marschieren wir auch für sie!“

Schleichers Rücktritt

Um 11 Uhr 30 trat das Kabinett zusammen. Schleicher erklärte eingangs, die Reichsregierung werde am 31. Januar, dem Tags zuvor vom Ältestenrat endgültig festgesetzten Termin der Plenarsitzung, nur dann eine Regierungserklärung vor dem Reichstag abgeben können, wenn der Reichspräsident ihm, dem Reichskanzler, die Auflösungsorder gebe. Nach seiner Kenntnis der Dinge werde Hindenburg das nicht tun. Ohne eine solche Order vor den Reichstag zu treten, sei aber völlig zwecklos, denn hinter der Regierung stehe keine parlamentarische Mehrheit.

Für die nächste Zukunft befürchte er, sagte Schleicher weiter, das Schlimmste. „Die Schwierigkeiten würden vielleicht nicht so groß sein, wenn der Herr Reichspräsident sich bereit finden könnte, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Dazu sei der Herr Reichspräsident nach seiner Kenntnis aber nach wie vor nicht entschlossen. So bleibe also nur die Bildung eines anders zusammengesetzten Präsidialkabinetts übrig, dem, nach ihm bisher bekannt gewordenen Nachrichten, von Papen und Hugenberg angehören sollten. Ein derartiges Kabinett könne, da es nun einmal die Stimmung der breiten Massen in stärkster Weise gegen sich haben werde, bald eine Staats- und eine Präsidentenkrise zur Folge haben.“ Er wolle Hindenburg hierüber nachher ganz offen seine Meinung sagen. Sollte er die Auflösungsorder, wie zu erwarten, nicht erhalten, wolle er dem Reichspräsidenten sein eigenes Rücktrittsgesuch und das des Kabinetts überreichen.

Nachdem er sich der vollen Zustimmung aller Mitglieder des Kabinetts versichert hatte, unterbrach Schleicher um 12 Uhr 10 die Sitzung, um mit dem Reichspräsidenten zu sprechen. Hindenburg gegenüber nannte der Reichskanzler drei mögliche Lösungen der Krise: erstens ein Mehrheitskabinett Hitler, das aber kaum zustandekommen werde; zweitens ein Minderheitskabinett Hitler, das jedoch nicht der bisherigen Haltung des Reichspräsidenten entspreche; drittens die Beibehaltung des bisherigen Präsidialkabinetts, das allerdings nur dann arbeiten könne, wenn es das Vertrauen und die Vollmacht des Reichspräsidenten hinter sich habe. Eine Lösung schied Schleicher kategorisch aus: „Gegen eine Regierung auf der schmalen Basis der Deutschnationalen usw. ohne Nationalsozialisten wären 9 von 10 des deutschen Volkes; das würde zu revolutionären Erscheinungen und zu einer Staatskrisis führen.“

Hindenburg ließ sich auf eine Diskussion der verschiedenen Möglichkeiten gar nicht erst ein, sondern bemerkte zu Schleichers nochmaliger Feststellung, die jetzige Regierung benötige, um vor den Reichstag treten zu können, die Auflösungsorder: „Das kann ich bei der gegebenen Lage nicht. Ich erkenne dankbar an, daß Sie versucht haben, die Nationalsozialisten für sich zu gewinnen und eine Reichstagsmehrheit zu schaffen. Es ist leider nicht gelungen, und es müssen daher nun andere Möglichkeiten versucht werden.“ Von der Anregung des Kanzlers, der Reichspräsident möge doch noch andere Reichsminister anhören, wollte Hindenburg nichts wissen. Er bat Schleicher, den Mitgliedern des Kabinetts seinen Dank zu übermitteln, und versicherte dem Kanzler auf dessen Bitte hin ausdrücklich, daß er nicht daran denke, das Reichswehrministerium einem Anhänger Hitlers zu übertragen.

Nach etwa einer Viertelstunde war die Unterredung beendet. Um 12 Uhr 35 kehrte Schleicher in das Kabinett zurück, erstattete Bericht und verlas das in seiner Gegenwart abgefaßte Protokoll über das Gespräch. Finanzminister von Krosigk notierte in sein Tagebuch, „Schleicher habe das Gefühl gehabt, daß er gegen eine Wand gesprochen habe, der alte Herr habe seine Argumente gar nicht in sich aufgenommen, sondern eine eingelernte Walze abgeleiert. Wir waren alle durch diesen Bericht tief erschüttert. Das Kabinett Schleicher nach zwei Monaten gestürzt durch die Entziehung des Vertrauens des Reichspräsidenten.“

Unmittelbar nach dem Rücktritt des Kabinetts von Schleicher erhielt Papen von Hindenburg den Auftrag, „durch Verhandlungen mit den Parteien die politische Lage zu klären und die vorhandenen Möglichkeiten festzustellen“. Offiziell wurde dazu mitgeteilt, der Reichspräsident habe dem ehemaligen Reichskanzler gegenüber den Wunsch ausgesprochen, er möge die Lösung „im Rahmen der Verfassung und in Übereinstimmung mit dem Reichstag“ suchen. Wenig später verlautete, Papen habe noch am Nachmittag Fühlung mit dem nationalsozialistischen Parteiführer Hitler aufgenommen.

Der 30. Januar 1933

Während Sozialdemokraten und Kommunisten demonstrierten und gegeneinander agitierten, fielen die Würfel über das Schicksal Deutschlands. Am Vormittag des 29. Januar gegen 11 Uhr traf sich Papen mit Hitler zu einem langen Gespräch. Der Führer der NSDAP verzichtete bei dieser Gelegenheit auf das Amt des Reichskommissars für Preußen – einen Posten, den die NSDAP bislang für sich beansprucht hatte, der aber nach dem Willen Hindenburgs in jedem Fall auf Papen übergehen sollte. Dafür wollten die Nationalsozialisten mit Göring den Kommissar für den Bereich des preußischen Innenministeriums stellen. Was die Reichsregierung anging, so bestand die NSDAP nur auf einem, für die „Machtergreifung“ allerdings ausschlaggebenden Ressort: dem Reichsinnenministerium, an dessen Spitze Frick treten sollte. Einwände des Reichspräsidenten waren hiergegen nicht zu erwarten. Offen war zu diesem Zeitpunkt aber noch, ob Hindenburg, falls er sich zur Ernennung Hitlers entschloß, seinen Widerstand gegen eine zentrale Forderung der Nationalsozialisten aufgeben würde: die Auflösung des Reichstags und Neuwahlen.

Am Nachmittag des 29. Januar konnte Göring, nach einem Gespräch mit Papen, seinem „Führer“ melden, „daß alles perfekt sei“. Das hieß: Hindenburg hatte sich mit der Kanzlerschaft Hitlers einverstanden erklärt und somit jene Lösung akzeptiert, die er bisher immer strikt abgelehnt und zuletzt noch am 26. Januar den Generälen von Hammerstein und von dem Bussche-Ippenburg gegenüber mit den Worten zurückgewiesen hatte: „Sie werden mir doch nicht zutrauen, meine Herren, daß ich diesen Österreichischen Gefreiten zum Reichskanzler mache.“ Drei Tage später war Hindenburg anderen Sinnes geworden und nunmehr auch bereit, Hitlers Forderung nach Neuwahlen zu erfüllen.

Hindenburgs Entschluß folgte zum einen daraus, daß er seinen Kanzlerkandidaten Franz von Papen nicht zwingen konnte, an die Spitze der neuen Regierung zu treten. Zum anderen gab es in seiner Umgebung niemanden mehr, der ihm gegen Hitler den Rücken stärkte. Daß sein Sohn Oskar, Staatssekretär Meissner, alte Freunde aus den Reihen der ostpreußischen Gutsnachbarn und, was mit das Wichtigste war, auch Papen Hitlers Kanzlerschaft für unvermeidbar erklärten, bewog Hindenburg schließlich, nachzugeben: Gegen alle, denen er vertraute, an seinem Mißtrauen gegenüber dem Führer der Nationalsozialisten festzuhalten, dazu reichten die geistigen und moralischen Kräfte des Greises nicht mehr aus.

In der Öffentlichkeit hielt sich freilich bis zum Vormittag des 30. Januar die Meinung, es könne doch noch zu einem Kabinett Papen-Hugenberg kommen. Auch Schleicher und der Chef der Heeresleitung, General von Hammerstein, waren dieser Ansicht. Beide waren sich am 29. Januar auch darin einig, daß diese Lösung mit der Gefahr des Generalstreiks, wenn nicht des Bürgerkriegs verbunden sei, während eine Kanzlerschaft Hitlers das viel geringere Risiko darstelle. Hammerstein suchte Hitler sogar zu einer Unterredung auf, um herauszufinden, ob der Reichspräsident überhaupt ernsthaft mit den Nationalsozialisten verhandle. Vermutlich über Werner von Alvensleben, einen Mittelsmann zwischen Schleicher und der NSDAP, gelangte dann am Abend des 29. Januar das Gerücht in Umlauf, Schleicher und Hammerstein wollten die Potsdamer Garnison mobilisieren und Vater und Sohn Hindenburg sowie Staatssekretär Meissner verhaften lassen. Tatsächlich gab es bei der Reichswehrführung keinerlei konkrete Putschabsichten, aber die Gerüchte reichten doch aus, um Hindenburg und seine Umgebung in erhebliche Nervosität zu versetzen.

Das Mißtrauen, das Hindenburg gegenüber dem amtierenden Reichskanzler empfand, war allerdings ohnehin kaum noch zu steigern. Mittlerweile kam für ihn Schleicher auch als Reichswehrminister nicht mehr in Frage. Bereits am Morgen des 29. Januar hatte der Reichspräsident den von ihm als Nachfolger in Aussicht genommenen General von Blomberg, der sich zur Zeit als technischer Berater der deutschen Delegation bei der Abrüstungskonferenz in Genf aufhielt, telegraphisch nach Berlin beordert. Als Blomberg am nächsten Morgen gegen 9 Uhr 30 auf dem Anhalter Bahnhof eintraf, wurde er sofort von Oskar von Hindenburg zum Reichspräsidenten gebracht, über die Putschgerüchte informiert und anschließend als neuer Reichswehrminister vereidigt. Da der Reichspräsident Reichsminister nur auf Vorschlag des Reichskanziers ernennen durfte, war dieses Verfahren ein eindeutiger Verfassungsbruch.

Zur gleichen Zeit, als in der Wilhelmstraße die letzten Hürden auf dem Weg zur Kanzlerschaft Hitlers beseitigt wurden, tagte im Reichstagsgebäude der Parteivorstand der SPD zusammen mit Vertretern der Reichstagsfraktion und des ADGB. An Stelle des erkrankten Otto Wels – er mußte sich in Ascona wegen zu hohen Blutdrucks einer Kur unterziehen – legte Rudolf Breitscheid die politische Lage dar. Wenn Hitler Kanzler werden sollte, werde der Reichstag wahrscheinlich durch Notverordnung vertagt oder aufgelöst werden. „Wir würden damit in eine neue Phase des Nationalsozialismus treten und vor die Notwendigkeit gestellt werden, die Faschisten aus der Macht zu vertreiben.“ Die größten Schwierigkeiten würden hierbei die Kommunisten bereiten. „Mit ihnen irgendwelche politische Gemeinschaft zu bilden, erscheine unmöglich, sie würden nach zwei oder drei Tagen uns doch wieder als Verräter bezeichnen, die diesen Zustand geschaffen haben, und dadurch würde der Reaktion Gelegenheit gegeben, die Arbeiterbewegung niederzuzwingen.“ Eine Verständigung von Partei zu Partei scheide daher aus. Von einer Erörterung konkreter Kampfmaßnahmen wollte der Fraktionsvorsitzende aber ohnehin vorerst absehen. Alles, was die SPD nach seiner Ansicht jetzt tun konnte, war, „Entschlossenheit zu dokumentieren“.

Mit dieser Empfehlung rief Breitscheid den lebhaften Widerspruch Siegfried Aufhäusers hervor, der sich gegen „weiteres Abwarten“ aussprach. „Heute hänge alles davon ab, ob die Masse für das Parlament kämpfe. Von uns müße die Parole herausgegeben werden: Neuwahl, und die Gewerkschaften müßten mit aller Deutlichkeit Hindenburg sagen, daß sie gewillt seien, für den verfassungsmäßigen Weg einzutreten. Nach draußen müßte es sichtbar erscheinen, daß wir zu dem Abwehrkampf bereit seien. Wir dürften ihn nicht den Kommunisten überlassen, sonst würden die Arbeiter in den Betrieben den Kommunisten folgen. Der 20. Juli war nicht der Zeitpunkt zu großer Aktion, aber heute scheine es, daß er gekommen sei. Er mache jedenfalls die Politik des Abwartens nicht mehr mit.“

Mehr oder minder deutlichen Zuspruch erhielt Aufhäuser von Löbe, Stampfer, Crispien und dem stellvertretenden Berliner Bezirksvorsitzenden Carl Litke, der am entschiedensten „Massenaktionen“ verlangte. Der stellvertretende Vorsitzende des ADGB, Wilhelm Eggert, warnte hingegen vor außerparlamentarischen Aktionen. „Wenn Hitler und Papen zunächst auf verfassungsmäßigem Wege das Kabinett führen, sei dagegen nichts von Bedeutung zu machen.“ Otto Braun, der es für eher unwahrscheinlich hielt, daß die ostelbische Herrenklasse den „Malergesellen“ an die Macht lassen werde, sprach sich ebenfalls ausdrücklich für das Abwarten aus. „Wir könnten uns nicht in eine Situation hineinstürzen, deren Sklaven wir dann seien.“ Ähnlich argumentierte Hilferding: „Sollen wir einen Präventivstreik machen? In dem Augenblick würde die SA sicher in die Reichswehr eingereiht, und es komme zum bewaffneten Aufstand. Ich halte es für falsch, wenn wir schon jetzt sagen würden: Wir werden rufen. Soweit ist es noch nicht.“ Es scheint daß doch zunächst die Regierungsfrage der Lösung harre, wobei ein Beamtenkabinett, etwa unter Krosigk oder Syrup, zustande kommen könne, das die SPD nicht gleich stürzen dürfe. Die „außerparlamentarischen Fragen“ stünden jedenfalls noch nicht im Vordergrund.

Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Anwesenden einigen konnten, war ein von Stampfer verfaßter Aufruf, der in der Abendausgabe des „Vorwärts“ erscheinen sollte. Darin versicherte die SPD, sie werde vorbehaltslos jede Regierung unterstützen, die sich das Ziel setze, die Anarchie im Lande zu beenden und rechtsstaatliche, verfassungsmäßige Zustände wiederherzustellen. Doch zur Veröffentlichung kam es nicht mehr. Als Stampfer in der nächsten Telefonzelle nach dem Hörer griff, um den Text an die Redaktion weiterzugehen, hörte er „draußen auf dem Gang ein wildes Rennen und Rufen. Hitler war ernannt.“

Quelle und Zitate:
Geschichte der Arbeiterbewegung, Band4
Tiergarten 1933 – 1994
telegraph Ausgabe 4 und 5 / 1996

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