von Knobi
aus telegraph 1/1996 (#92)
Herbstzeit bedeutet im Buchhandel auch Kalenderzeit, und die Linken produzieren da einiges was dann als Signalgeber zur richtigen politischen Einstellung durch Jahr führen soll: Da wäre z.B. der Graswurzelkalender (nach einem Jahr Pause) mit dem Schwerpunkt Arbeit & Faulheit (Verlag Graswurzelrevolution Bremen / über 275 S. / 12,80 DM). Für hartgesottene Fans und Feinde: Der pech-raben-schwarze-Anarcho-Kalender (Kramer Vlg. Berlin / über 267 S. / 14,80 DM) ohne Schwerpunkt dafür aber mit Sicherheit einiges, worüber sich „politisch Korrekte“ aufregen können. Außerdem: Antifa-Kalender (Unrast-Vlg. Münster / 240 S. / 12,–DM) mit Beiträgen zu den Themen Antifa, Rassismus und Sexismus. Natürlich gibt es noch Kalender für Frauen, Grüne, Hanflinge, GreenpeaclerInnen, FahrRadlerInnen usw. usf. Zeig mir Deinen Kalender und ich sag Dir wer Du bist – oder so ähnlich.
Ansonsten gab es mal wieder einen heißen Herbst in Deutschland – zumindest was den Bücherherbst betrifft. Ein Wellen von Literatur der Ex- und immernoch Gerillero/as rollt auf uns zu. U.a. Inge Viett, Einsprüche – Briefe aus dem Gefängnis (Nautilus Vlg. Hamburg / 159 S. / 26,–DM), wohl eine der interessantesten Frauen des westdeutschen bewaffneten Widerstandes, und eine starke Persönlichkeit. Außerdem erschienen noch Bücher von Birgit Hogefeld, die Memoiren von Till Meyer, Irmgard Möller (im Gespräch mit Oliver Tolmein) und die Nachauflagen von und über Ulrike Meinhof haben großen Zuspruch. Und im Verlag Schwarze Risse Berlin / Rote Straße Göttingen erschien in einer Gemeinschaftsausgabe mit mit Hamburger Verlag Libertäre Assoziation ein Interview-Buch von Mario Moretti, Rote Brigaden – Eine italienische Geschichte, welches den bewaffneten Kampf in Italien authentisch dokumentiert und analysiert (ca. 260 S. / 28,–DM). Anscheinend ist das Interesse an der Geschichte des bewaffneten Kampfes in Europa wieder hochaktuell.
Noch ein kleiner Ausflug in die Literatur: Thorsten Hinz; Hommages – Gedichte (Karin Kramer Verlag Berlin / 75 S. / 19,80 DM). Libertäre Gedichte über Afrika, Hedwig Lachmann u.a. Thorsten Hinz erhielt den Literaturpreis der schweizer Stadt Freiburg und arbeitet an einer Dissertation über Gustav Landauer.
Außerdem im gleichen Verlag erschien jetzt: Jörg André Dahlmeyer; Ist hier noch frei? (140 S. / 22,–DM). Eingeweihte wissen: es handelt sich hierbei um social-beat-stories vom Prenzlauer Berg. Mythen strickt man am besten früh, aber wer will schon den Abgesang auf eine Szene anstimmen, die noch gar nicht richtig abgehoben hat – trotz des Alkoholgenusses.
Erich Mühsam, als Schriftsteller und anarchistischer Agitator bekannt wird jetzt erstmals vorgestellt als ein Vorkämpfer für das Recht auf gleichgeschlechtliche Liebe: Erich Müsam; Die Homosexualität – Eine Streitschrift (belleville Verlag München / 111 S. / Preis ?). Mit einer Einführung von Walter Fähnders. Hierbei handelt es sich um einen Text und einigen Dokumenten aus den Jahren 1903 bis 1910. Für jemanden, der/die sich mit dieser Thematik beschäftigt sicherlich eine spannende Angelegenheit.
Bei den „Schwarzen Tagen“ in Bielefeld im Oktober habe ich ein literarisches Kleinod erstanden, welches schon etwas älter ist, aber nichts desto trotz eine wunderbare Lektüre darstellte: Alexandré-Marius Jocob, Die Lebensgeschichte eines anarchistischen Diebes (Syndikat-A Medienvertrieb Moers 1994 / 37 S. / 3,50 DM). Jacob (1879-1954) verübte schätzungsweise über 1000 Einbrüche, verbrachte 20 Jahre in der Hölle der französischen Strafkolonie, und war ein ungebrochener Kämpfer gegen jede Form des Unrechtes. Ein Illegalist, der das Leben liebte. Bevor der 75jährige sich und seinen altersschwachen Hund mit Hilfe eines Morphiumderivats das Leben nahm schrieb er einen Zettel: „Wäsche gewaschen, gespült, getrocknet, aber nicht gebügelt. War zu faul. Tut mir leid. Ihr findet zwei Liter Rosé neben den Brotschrank. Auf euer Wohl!“ …so sind sie, die Anarchisten.
Trotzt alledem.
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph