aus telegraph #101
von Wolfgang Kalek
Der aktuelle Streit um die Zukunft der Bundeswehr und der allgemeinen Wehrpflicht ist ein schaurig-schönes Beispiel dafür, wie irrational politische Diskussionen in Deutschland im Moment geführt werden. Allen voran radelt dabei auch dieses Jahr der ehemalige Jungsozialist und Nachrüstungsgegner Rudolf Scharping. Schon während des Kosovo-Krieges 1999 hatte er jeglichen Bezug zu rationalen Argumenten verloren. Die Mischung aus öffentlich verbreiteten Lügen (Völkermord, Konzentrationslager, Hufeisenplan) und moralischem Pathos gehörte zu den unangenehmsten Begleiterscheinungen des Krieges. Aber er kann auf die Vergeßlichkeit der Öffentlichkeit bauen. Was kümmert der Schnee von gestern? Eine öffentliche Diskussion über die sogenannte humanitäre Intervention der Nato findet in Deutschland jedenfalls nicht statt. Nur wenige versuchen aufzuklären, was letztes Jahr tatsächlich im Kosovo geschah und welche Folgen der Nato-Einsatz in Jugoslawien hatte.
Krisenintervention als neue Legitimation
Es verwundert daher nicht, dass in der Diskussion um die allgemeine Wehrpflicht und die Zukunft der Bundeswehr praktisch alle ohne weitere Begründung davon ausgehen können, dass es in dieser Welt verdammt viele Krisen gibt und dass es das selbstverständliche Recht der Bundesrepublik Deutschland ist, militärische Kriseninterventionskräfte aufzustellen und einzusetzen. Hatten sich noch vor einigen Jahren massenhaft Menschen gefragt, welchen Sinn Bundeswehr und Nato nach Wegfall der Blockkonfrontation zwischen Nato und Warschauer Pakt überhaupt noch haben, scheint sich die neue Nato-Doktrin ohne jegliche Widerstände durchsetzen zu können. So ist es denn auch kein Wunder, dass die eigentliche Frage „ Wofür braucht Deutschland im Jahre 2000 noch eine Armee? “ öffentlich nicht diskutiert wird.
Dabei könnte es sogar noch angehen, darüber zu diskutieren, wie viele Streitkräfte Deutschland bräuchte, um ein vermindertes Maß an Landes- oder Bündnisverteidigung zu garantieren, solange bis in Europa alle Armeen abgeschafft sind. Erschreckend aber ist, dass weite Teile der bundesdeutschen Öffentlichkeit akzeptiert haben, daß das selbstverständliche Recht der Deutschen, Westeuropäer und der Nato ist, dann auf die Art und Weise in den Ländern zu intervenieren, wenn sie es – aus welchen Gründen auch immer- für nötig halten. Weder die Eingriffsvoraussetzungen noch die Kompetenzen für die Durchführung solcher Einsätze noch die Ausgestaltung der Einsätze werden verbindlich definiert. Die USA können sich hinstellen und unangefochten ihr Credo „so lange mit der UN und mit dem Völkerrecht, wie es geht, aber auch ohne sie, wenn es unseren Interessen dient“, durchziehen.
Fast alle Kriege in der Vergangenheit waren ungerecht, bei fast allen wurde die Öffentlichkeit über die wahren Kriegsursachen getäuscht. Aber die Verpflichtung der Bundeswehr auf den Zweck der Landesverteidigung bedeutete wenigsten noch ein geringes Maß an Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Wenn jetzt Krisen jedweder Art zur Rechtfertigung militärischer Einsätze dienen können, sind alle Dämme gebrochen.
Sonderopfer Jugend?
Der zweite Aspekt, der in der öffentlichen Diskussion zu wenig behandelt wird, ist die Frage, mit welchem Recht der bundesdeutsche Staat auch noch im Jahr 2000 das Sonderopfer Jugend in Form der allgemeinen Wehrpflicht aufrecht erhält. Ernstzunehmende Leute bestreiten nicht, dass aus militärischen Gründen eine Wehrpflichtigen- Armee nicht mehr notwendig ist. Die Gründe für die Aufrechterhaltung der allgemeinen Wehrpflicht sind daher so vielfältig wie ungeeignet zur Rechtfertigung dieses Instituts. Nur absurd-komisch sind dabei die Versuche des Bundesverteidigungsministers, das Soziotop Bundeswehr vor Eingriffen zu stützen. Man müsse aus Fürsorgegründen den Soldaten und ihren Familien Planungssicherheit geben, sie nicht einfach je nach Erfordernissen versetzen und vor allem die von der Weizsäcker-Kommission vorgeschlagene Schließung der Hälfte aller Standorte sei sozial und strukturpolitisch unzumutbar.
Ahistorisch argumentieren viele, dass die Wehrpflicht das „legitime Kind der Demokratie“ sei, als wenn nicht Adolf Hitler 1935 die Wehrpflicht zuletzt eingeführt hätte und als wenn nicht die Wehrmacht, die dann halb Europa in Schutt und Asche gelegt hat, eine Wehrpflichtigen-Armee gewesen wäre. Die Reichswehr habe mit dafür gesorgt, die demokratische Weimarer Republik zu zerstören– mit dem Argument dürfte es auch keine Berufsrichter und keine Berufsbeamten geben, denn diese Institutionen waren nicht weniger undemokratisch.
Die Wehrpflicht war im 19. und 20. Jahrhundert aus militärischen Gründen notwendig, um die zur Kriegsführung benötigten Massenheere aufzustellen. Die preußische Armee mit ihrem brutalen Diszi-plinierungssystem hatte nichts mit Demokratie zu tun. Zurecht wird daher von der Wehrpflicht als „Kuckucksei der Demokratie“ (Detlef Bald) gesprochen.
Ja und dann noch die Angst vor dem Staat im Staat, vor den durchgeknallten Offizieren, die in einer Berufsarmee nicht mehr von den Wehrpflichtigen kontrolliert werden würden. Die Wehrpflichtigen steigen in den 10 Monaten ihrer Dienstzeit noch nicht einmal in den Rang des Unteroffiziers auf und haben ganz bestimmt auch jetzt keinerlei Einfluss auf die Einstellungen des Offizierskorps. Pikant ist dieses Argument aus dem Munde führender Politiker aller Parteien: wie wenig Vertrauen haben diese Herren auf einmal in ihre Offiziere? Reine Ablenkung von der eigenen Verantwortlichkeit: es muss an dieser Stelle daran erinnert werden, dass nicht die Militärs den Kosovo-Einsatz erdacht haben, sondern Politiker diesen geplant und angeordnet haben, die Militärs haben ihn lediglich umgesetzt. Politiker haben vom Einsatz von Bodentruppen schwadroniert, während Militärs, gerade in den USA höchste Militärs, davor gewarnt haben.
Fataler sind dann noch die Argumente der großen Koalition von rechts außen bis hin zu grün und links: Die einen mögen ungern auf die Bundeswehr als Schule der Nation verzichten und versäumen keine Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß Staatsbürger in diesem Land nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben. Aber auch die anderen offenbaren ein seltsames Staatsverständnis und ein seltsames Verständnis von Freiheits- und Grundrechten, wenn der Zivildienst nunmehr als Rechtfertigung der allgemeinen Wehrpflicht dienen soll. Man halte es für wichtig, dass junge Menschen sich mit den sozialen Probleme auseinandersetzen oder wie ein Bekannter -selbstverständlich nur im Scherz- meinte, es ginge doch nur darum, den jungen Bürgersöhnchen das letzte Karrierehindernis aus dem Weg zu räumen. All diese Diskutanten übersehen, dass es eben gerade nicht das selbstverständliche Recht eines wie auch immer gearteten Staates ist, sich der Lebenszeit seiner jungen männlichen Bürger je nach politischem Kalkül zu bedienen. Spätestens nach Wegfall der Blockkonfrontation ist die militärische Rechtfertigung für eine Massenarmee von Wehrpflichtigen weggefallen. Der hunderttausendfache Eingriff in die Grundrechte junger Wehrpflichtiger ist somit nicht weiter aufrecht zu erhalten. Der Masse der Wehrpflichtigen sowie der zukünftigen Wehrpflichtigen und ihrer Familien ist dies ohne weiteres einleuchtend, eine Reihe aufgeklärter Linker und auch konservativere Reformer sehen dies ähnlich. Niemand darf sich der Illusion hingeben, dass es mit der Abschaffung der Wehrpflicht getan ist, dass dann ein Zustand der paradiesischen Friedfertigkeit in diesem Lande herrschen wird. Es wird sich dann vielmehr zu erweisen haben, ob es in diesem Land auch politische Organisationsversuche jenseits von Betroffenenpolitik geben kann. Jahrelang hat sich die antimilitaristische Bewegung vor allem aus Kriegsdienstverweigerern, Total-verweigerer“, eben potentiell Betroffenen gespeist. Die antimilitaristische Bewegung von morgen sollte die staatliche Schützenhilfe bei der Rekrutierung von Nachwuchs nicht mehr nötig haben, sonder kraft ihrer Inhalte politische Mehrheiten in diesem Land gewinnen können.
Der Autor ist Strafverteidiger in dem Verfahren gegen den Totalverweigerer Volker Wiedersberg, das am 19.3.1999 vom Landgericht Potsdam ausgesetzt wurde. Das Gericht hatte sich der Argumentation der Verteidigung angeschlossen und die Wehrpflicht für verfassungswidrig gehalten und daher dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung dieser Frage vorgelegt. Dort ist ein Termin zur Entscheidung noch nicht vorgesehen.
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