von Wolfgang Kil
aus telegraph #102/103
Über die Häuser an sich müsste man eigentlich nicht schreiben. Zwei-, Drei- und Viergeschosser mit jeweils voll ausgebauten Mansarden, kleinstädtisch bieder, Extravaganzen aus dem Baumarktsortiment. Gnadenlos weiß die Dämmfassaden, die Ziegeldächer gnadenlos rot. Von Rankgerüsten umschmeichelte Containerstellplätze, Klettergerät für die Kleinen, sorgsam ausgepflasterte Parktaschen für das Auto vorm Haus. Als Siedlung sind sie ansehnlich gruppiert – ein äußerer Ring bildet friedliche Wohnstraßen, in der Mitte teilen drei Querblöcke den großzügigen Innenraum zu zwei angenehm geschnittenen Nachbarschaftshöfen. Von denen der größere enthält sogar ein „Feuchtbiotop“. Eine Siedlung aus einem Guss, wobei leichte Gestaltvariationen wohlkalkuliert jene merkwürdige Indifferenz erzeugen: keineswegs „Typeneinerlei“, aber auch kein einziges Haus, an dem sich irgendeine Besonderheit einprägen würde. Jede Haustür zeigt das Signet der Bauträgergesellschaft, zum Türgriff stilisiert. Architekturmagazine verbannen diese Stadtrandidyllen von ihren Seiten, während sie in den Prospekten der „Wohnpark“-Entwickler um so häufiger anzutreffen sind. Wie gesagt, darüber schreiben müsste man eigentlich nicht.
Aber die über dreißig strahlendweißen „Wohnheime mit gehobener Ausstattung, Tiefgaragen, üppigen Freiflächen, Sonder-AFA Ost und bester Vermietbarkeit“ für etwa tausend Bewohner stehen in Velten, einer Gemeinde kurz hinter Reinickendorf im engsten Speckgürtel im Norden Berlins. Und sie stoßen unmittelbar an das Wohngebiet Velten-Süd: Fünf- und Sechsgeschosser aus DDR-Tagen, bräunlicher Waschbeton, Typ WBS 70 der letzten, d.h. ziemlich ruppig hochgezogenen Generation. Auch hier lohnt es allenfalls, sich die stadträumlichen Figuren genauer anzusehen – lange Riegel, die breite Erschließungsstraßen und weite Innenhöfe nicht unintelligent, nur eben in harten Großformen umschließen.
Jene Höfe und Straßen aber sind das eigentlich Erschreckende dieser Siedlung aus den achtziger Jahren: Lieblos verlegte Gehplatten, zur Sandwüste niedergetrampeltes Gras, zu formlosen Clustern zusammengeschobene Abfallbehälter, von ungelenker Hand beschriftete Straßenschilder. Eine Verwahrlosung, die auf bedrückende Weise den nicht bewältigten Lebensbruch von annähernd dreitausend Mietern, überwiegend Arbeiterfamilien aus dem gleich nach der „Wende“ geschlossenem Stahlwerk Hennigsdorf, wiederzuspiegeln scheint. Zu gemeinschaftlicher Pflege der Freiflächen, wie früher üblich, regt sich heute keine Hand mehr, und die Wohnungsgesellschaft scheint mit schweren Sorgen anderweitig genug geplagt.
Noch immer wohnt man hier in der „Straße des Friedens“ oder der „Straße der Freundschaft“. Und ausgerechnet die „Straße der Solidarität“, Hauptader des Viertels mit Kaufhalle und zwei Grillkiosken, verengt sich an ihrem westlichen Endpunkt wie zu einer Grenzstation. Eingequetscht zwischen Fernheizbunker und Müllcontainern bleibt ein schmaler Durchschlupf, läuft die Asphaltbahn auf einen dicken Tempo-30-Buckel zu. Der gehört schon zur betulichen Kleinpflasterfläche dahinter, zur Privatstraßenwelt der Wohnparkidylle. Und zu allem Überfluss heißt diese Idylle auch noch … Kuschelhain.
Anstelle des Buckels sollte ursprünglich eine Mauer stehen. Die Stadtverwaltung hat es verhindert – wegen der „politischen Assoziationen“. Trotzdem haben sich genau solche Assoziationen unter den Bewohnern durchgesetzt, auf beiden Seiten. Wer noch Arbeit hat, versucht aus dem Süd-Viertel wegzukommen. Für nebenan muss es deshalb noch lange nicht reichen – 95 Prozent der Wohnungen in Kuschelhain (1000 Mark Miete für 60 Quadratmeter warm) gehören Zuzüglern oder Abschreibern aus dem Westen. Das Klima zwischen den beiden Nachbargesellschaften ist entsprechend. Auf „Protzendorf“ schimpfen die einen, vom „dreckigen Ghetto“ reden die anderen. Auffällig viele Erdge-schosswohnungen stehen in Kuschelhain leer, und auch die Häuser nahe beim „Grenzpunkt“ gehen nicht ganz so gut weg. Zerschmissene Scheiben, demolierte Autos, nächtliche Bikerrallyes durch die Vorgärten der „Westler“: Wovon die Zeitungen berichten, haben sogar wir flüchtige Besucher als latente Stimmung deutlich gespürt. Wer vom Süd-Viertel aus die Buckelpassage überquert, ist potentiell „einer von drüben“ und wird mit drohenden Kommentaren bedacht. Auch wenn die Trennwand an dieser Stelle amtlicherseits verhindert wurde, ist sie doch wie mit Händen zu greifen.
So drastisch ist die soziale Spaltung der Gesellschaft als rasanter Prozess wohl selten zu beobachten. Sobald sie ihrer Gründungszusammenhänge verlustig gehen, erleben viele DDR-Wohnsiedlungen eine radikale Entwertung. Velten-Süd ist dafür ein klassisches Beispiel – vom Charakter eine Werksiedlung, vom Habitus ein Durchschnittsmodell egalitärer Versorgungsansprüche. Geht der Gleichheitskonsens verloren, werden (zumindest die schlichteren) Plattenbauviertel bald unerträglich, und dies um so mehr, als ihnen die Alternative neubürgerlicher Behaglichkeit auch noch direkt vor der Nase steht. „Das war taktisch nicht klug, Kuschelhain so nah dabei zu bauen“, sagt eine Bewohnerin von Velten-Süd.
Das Konzept, Plattenbaugebiete durch Angebote für „Besserverdienende“ sozial intakt zu halten, funktioniert also nicht. Tatsächlich wird zumeist sogar das Gegenteil bewirkt: zusätzliche Degradierung und beschleunigte Segregation. Gerade im Interesse von Kuschelhain hätten Stadt und Bauträger zumindest auch über eine gemeinsame Strategie zur Aufwertung der Freiräume von Velten-Süd nachdenken sollen. Was nun stattdessen entstand, ist eine gebaute Provokation.
Erstveröffentlichung in der Kommune,1996.
Wolfgang Kil arbeitete in der DDR als Architekt und freiberuflicher Kritiker und Publizist zu den Themen Stadt, Kunst am Bau, Fotografie. Heute ist er als freier Autor in Berlin tätig.
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