Nett zum Massaker-Demokraten
von Klaus Hart
aus telegraph #102/103
Auch Rot-Grün hofiert – wie zuvor Kohl – Brasiliens Mitte-Rechts-Staatschef Cardoso. Ist er in Berlin bei Schröder, Fischer, Trittin & Co., unterbleibt Kritik an dessen Verantwortung für Todesschwadrone, Blutbäder an Landlosen, Massenfolterungen sowie Amazonasvernichtung komplett.
Sozialdemokrat Schröder wählte unter den Staatschefs dieser Erde den brasilianischen Präsidenten und „Social-Democrata“ Fernando Henrique Cardoso aus, um mit ihm in Hannover die EXPO zu eröffnen, ihn auf dem festlichen Bankett als einzigen ausländischen Ehrengast eine Rede halten zu lassen. Eine interessante Entscheidung – Cardoso, hieß es offiziell, repräsentiere durch seine Biographie, sein Land, seine Regierung die Hauptthemen der EXPO – Mensch, Natur und Technik. Er sei jene Persönlichkeit mit den besten Voraussetzungen, Lösungsvorschläge für die Probleme des nächsten Jahrhunderts zu machen. Tags darauf war Cardoso in Berlin einer von – laut Eigendarstellung der Teilnehmer – „fünfzehn fortschrittlichen“ Staatschefs, darunter auch Clinton und Blair, die im Kanzleramt auf der Konferenz „Modernes Regieren im 21.Jahrhundert“ ein gewichtiges Wort mitredeten. Präsident Cardoso kann den politischen Eliten der Ersten Welt in der Tat nützliche Ratschläge geben, wie man neoliberale Konzepte brutal durchsetzt und dennoch recht problemlos an der Macht bleibt. Kam der Großgrundbesitzer, Ex-Soziologe und FU-Berlin-Ehrendoktor zu Kanzler Kohl an den Rhein, schlugen ihm ebenfalls Freundlichkeiten und allergrößtes Lob für seine Wirtschaftspolitik entgegen. Brasilien ist schließlich Hauptempfänger deutschen Kapitals in der Dritten Welt, Deutschland zählt zu den vier wichtigsten Investoren in dem Tropenstaat, längst unter den zehn größten Wirtschaftsnationen der Erde. Sein Bruttosozialprodukt übertrifft das von Russland oder China – allein jenes von Rio de Janeiro das von ganz Chile, jenes von Sao Paulo das von ganz Argentinien.
Ebenso herzlich werden in Deutschland stets Cardosos Vize, der zwielichtige Diktaturaktivist Marco Maciel, und Kongresspräsident Antonio Carlos Magalhaes empfangen – niemand störte sich daran, dass beide die tonangebenden Leute in der Arena-Partei des Militärregimes waren und damals schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit deckten. Heute sind sie mit Cardoso politisch hauptverantwortlich für Massaker an Landlosen, die Verfolgung und Ermordung ihrer Führer. Todesschwadrone wüten schlimmer als zur Diktaturzeit. Vize Maciel ist bis heute Mitglied der archaischen Elite des von Massenarmut und mafiosen Strukturen gezeichneten, Rauschgift auch für Europa produzierenden, Nordost-Teilstaates Pernambuco. Maciel ließ sich in den Neunzigern mindestens einen Wahlkampf laut Experten nachweislich vom organisierten Verbrechen mitfinanzieren. Die deutschen Handelskammern in Rio und Sao Paulo, effiziente Polit-Instrukteure deutscher Auslandskorrespondenten, machen stets gute Vorarbeit – in den Medien erscheint keine Zeile über Maciels Vergangenheit, nur Lob und Hudel, Großfotos zeigen den Gast beim Händedruck mit Ex-Geheimdienstchef Klaus Kinkel.
Selbst im Menschenrechtsbericht des US-State Department für 1998 wird betont, dass Folter, außergerichtliche Exekutionen und Polizeigewalt unter Cardoso weiter zunahmen. Beamte der berüchtigten Militärpolizei betätigen sich laut Report, in der Freizeit als Berufskiller und Entführer.
Ungesühnte Massaker
Unvergessen ist, dass ein Internationales Tribunal, dem Persönlichkeiten der UNO und des Weltkirchenrates sowie Literaturnobelpreisträger Josè Saramago angehörten, Cardoso und dessen Mitte-Rechts-Regierung 1996 zu den Hauptverant-wortlichen zweier barbarischer Blutbäder an Landlosenfamilien erklärten: Im Amazonas-Teilstaat Parà befahl der Gouverneur Almir Gabriel, Intimus von Cardoso, mit dessen Wissen, den Militärpolizei-Einsatz von Eldorado de Carajas, bei dem laut offiziellen Angaben neunzehn, nach kirchlichen aber über dreißig Menschen getötet wurden. Ein anderes Massaker ereignete sich im Amazonas-Teilstaat Rondonia – beide Verbrechen sind weiterhin ungesühnt. Auch bei Massenvertreibungen ist Cardoso Spezialist: Seine neoliberale Politik, so der Landlosen-Führer Joao Pedro Stedile, zwang weit über 400 000 Kleinbauern und Landarbeiter, aus den Agrarregionen in die entsetzlichen Slums der Millionenstädte wie Sao Paulo und Rio de Janeiro zu migrieren. Das Drama der Indianerstämme ist hinreichend bekannt: Das offizielle Brasilien feierte im April mit viel Pomp in Bahia die „Entdeckung“ durch portugiesische Seefahrer und Eroberer vor fünfhundert Jahren – unweit der Tribüne Cardosos knüppelte die Militärpolizei demonstrierende Indianer und Menschenrechtsaktivisten äußerst brutal zusammen. Die nationale Bischofskonferenz schloss sich den Protesten an, verurteilte so heftig wie nie zuvor auch Cardosos Menschenrechtskurs.
Auch Grüne schweigen völlig
Wie zu Kohl-Zeiten bleibt der Berliner Ehrendoktor auch bei jüngsten Deutschland-Visiten völlig ungeschoren. Kurioserweise vermeiden die deutschen Journalisten jegliche kritische Anmerkung, während auf denselben Pressekonferenzen die mitgereisten brasilianischen Kollegen den hohen Staatsgast mit direkten Fragen zu Landlosen und Bischofskonferenz regelrecht in Rage bringen. Um so auffälliger das Schweigen der zuständigen deutschen Instanzen, darunter die menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen, Claudia Roth und der grüne Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Gerd Poppe, die bei Cardoso-Visiten stets passiv blieben. Poppe äußert sich gerne weitschweifig zur Lage in China, beklagte auch schwere Menschenrechtsverletzungen an Kosovo-Albanern durch die Serben. So seien, laut Berichten von Vertriebenen, wehrlosen Albanern die Kehle durchgeschnitten, die Augen ausgestochen, Nasen, Finger und Hände abgehackt worden. Frauen habe man die Brüste abgeschnitten, es gebe Massaker und systematische Vergewaltigungen. Poppe wurde aktiv, ging an die Öffentlichkeit, ohne Beweise in den Händen zu haben. Anders verfährt er im Falle Brasiliens. Da gibt es zahllose Beweise und Fotos von weit schlimmeren Greueltaten, ohne dass die Bundesregierung bis heute reagiert. Poppe selbst hat sich bereits 1996 mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages in Brasilien kundig gemacht. Auf telegraph-Anfrage drückt sich die Delegation vor klaren Positionen zu den immer krasseren Menschenrechtsverletzungen: “Wir kommen nicht, um uns einzumischen, um zu kritisieren, sondern um die helfende Hand zu reichen. “Cardosos Mitte-Rechts-Regierung werden guter Wille und Fortschritte bei den Menschenrechten bescheinigt. Mit der Delegation sitzt Poppe in der Luxusresidenz des Generalkonsuls von Rio de Janeiro an festlich gedeckter Abendtafel, verliert kein Wort über Greuel, die sich seinerzeit nur ein, zwei Kilometer entfernt ereigneten: Menschen im Slum „Morro de Coroa“ lebendig verbrannt, zerstückelt wurden. Die Delegation lobt Cardosos Politik, während danach an der Tafel ein in Rio tätiger, belgischer Menschenrechtler über die von den Regierenden täglich verantworteten, zugelassenen, tolerierten Menschenrechtsverletzungen berichtet, über Terror und Korruption. Man hört nur höflich zu, schweigt aber zu allem, wie auch der Generalkonsul. Bundespräsident Roman Herzog hält es an gleicher Stelle bei einem offiziellen Besuch Brasiliens genauso, vermeidet jegliche Position zur Menschenrechtssituation. „Ich weiß, dass sie hier gewisse Probleme mit der Kriminalität haben“, ist sein einziger Kommentar zu folgendem: In den Slums der brasilianischen Großstädte haben die Gewaltexzesse gegen schutzlose Bewohner die letzten Jahre für Europäer nahezu unvorstellbare Ausmaße angenommen – täglich werden ungezählte Opfer gefoltert, verstümmelt, geköpft, in Stücke gehackt, angezündet. Zeitungen zeigen die Verbrechen in Großaufnahme, telegraph hat zahlreiche Fotos vorliegen. Täter sind vor allem Banditengangs und Todesschwadrone, doch auch die Polizei agiert brutal. Die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slums, so betonen auch kirchliche Menschenrechtler, verhindert auf perfide Weise, dass deren Bewohner politisch für ihre Rechte kämpfen. Denn immer wieder werden engagierte Bürgerrechtler, die Slumassoziationen leiten und sich dem Normendiktat des, mit der Politik verzahnten, organisierten Verbrechens nicht beugen wollen, zur Einschüchterung ermordet. Ein katholischer Pfarrer sagte zum telegraph: “Die fortgesetzten Gefechte, Morde und anderen nahezu unbeschreiblichen Greueltaten, halten Kinder wie Alte in extremer Spannung und Angst – wer an den Hängen der Tijuca-Slums von Rio lebt, kann sich weder frei bewegen, noch frei sprechen. Um am Leben zu bleiben, müssen die Slumbewohner ihre wahre Meinung verstecken, den neofeudalen Banditenmilizen nach dem Munde reden. Niemand vertraut in den Staat – weil er die Rechte und Interessen der Slumbewohner nicht verteidigt, glauben diese, dass die Autoritäten mit den Verbrechersyndikaten auf irgendeine Weise liiert sind.“
Slumbewohner ohne Basis-Menschenrechte
Amnesty International betonte dazu, de facto befinde man sich in einigen Teilen Brasiliens noch im Mittelalter, Slumregionen Rios gehörten dazu. Die rund zwei Millionen Armen in den Favelas des, nach Sao Paulo, zweitwichtigsten wirtschaftlichen Ballungszentrums seien im Grunde Geiseln des organisierten Verbrechens und sämtlicher Basis-Menschenrechte beraubt. Für AI ist besonders schwerwiegend, dass die skandalöse Untätigkeit der Cardoso-Regierung vor allem in den unteren Bevölkerungsschichten das Gefühl des Ausgeliefertseins noch verstärke. Der Präsident habe im Ausland versichert, sich für die Menschenrechte der Unterprivilegierten einzusetzen – der Widerspruch zur tatsächlichen Lage sei eklatant. Anwalt James Cavallaro, Leiter des brasilianischen Human-Rights-Watch-Büros, sprach gegenüber der Zeitschrift ila wiederholt von „niederschmetternder Indifferenz“ der Cardoso-Regierung. Die Freiwilligenorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ agiert nicht nur in Afrika oder auf dem Balkan, sondern auch in Brasilien – ihr zufolge handelt es sich in Rio de Janeiro um „Guerra urbana“, Stadtkrieg.
Brasiliens Kindersoldaten
Yvonne Bezerra de Mello, eine der angesehensten Bürgerrechtlerinnen Brasiliens, prangert seit Jahren an, wie das organisierte Verbrechen mit Duldung der Politiker Straßenkinder rekrutiert, sie zu Kindersoldaten macht, die auch deutsche G-3 oder schweizerische Sig-Sauer-Sturmgewehre benutzen. Wer nicht mehr mitzieht, wird kurzerhand eliminiert, die Leichen lässt man meist verschwinden. In den Slums, so die, auch in Europa durch Buchveröffentlichungen bekannte, Expertin, gebe es Ställe mit Schweinen, die Überreste von Kindern auffräßen. Oder: “Ein Junge, oft nur dreizehn Jahre oder jünger, muss dem an einen Baum gebundenen Opfer, mit einer Rasierklinge solange ins Fleisch schneiden, bis es stirbt – sogar das Herz wird herausgetrennt, alles zur Einschüchterung auch der Slumbewohner.“ Nicht nur im deutschen Außenministerium dürfte bekannt sein, wie Yvonne Bezerra de Mello auch die Waffenexportgesetze der Ersten Welt scharf kritisiert: “Wenn mir in Rio ein Schweizer etwas über Neutralität erzählt, lache ich laut auf – Sig-Sauer-Sturmgewehre werden von den Gangstern jetzt am meisten importiert.“ Der linke Abgeordnete Carlos Minc aus Rio de Janeiro, Träger des Umweltpreises der Vereinten Nationen, nimmt jenen den Wind aus den Segeln, die das Kriminalitätsproblem in Drittwelt-Metropolen wie Rio oder Sao Paulo immer vorschnell-oberflächlich auf Armut, Elend zurückführen. Minc argumentiert: “In Rio de Janeiro sind Straftäter und Autoritäten Komplizen, das organisierte Verbrechen, das Drogenkartell herrscht in den Slums, pflegt enge Beziehungen zur Geschäftswelt, zur Stadtregierung, zu Polizei und Justiz, die daher Straffreiheit walten lassen, die Gesetze nicht anwenden, die Menschrechte der Bewohner missachten. Es reicht nicht, nur gegen die Ermordung von Straßenkindern zu protestieren – es muss verhindert werden, dass diese Kinder und Jugendlichen weiterhin perverserweise vom organisierten Verbrechen ausgenutzt, gegen die wehrlosen Stadtbewohner eingesetzt werden.“ Minc erinnert an die Ermordung von achtundvierzig Bürgerrechtlern, die zum Terror des Drogenkartells nicht schwiegen: “Die physische Eliminierung, wie seinerzeit durch die faschistischen Brigaden Mussolinis, darf nicht hingenommen werden.“ In Rio de Janeiro – weit über zwölftausend Morde pro Jahr – wird nur in acht Prozent der Fälle überhaupt ermittelt. Auch der grausam gefolterte, frühere militante Diktaturgegner Reinaldo Guarany, der in Deutschland Exiljahre verbrachte, in Bochum Betriebswirtschaft studierte, spart nicht mit Kritik an Brasiliens „Zivildiktatur“. Gegenüber dem telegraph spricht er von einer „Komplizenschaft des Staates mit dem organisierten Verbrechen“. FU-Berlin-Ehrendoktor Cardoso hat die Existenz rechtsfreier, de facto staatlicher Oberhoheit entzogener Slumviertel Rio de Janeiros, offensichtlich akzeptiert – bezeichnenderweise sagt er einen angekündigten Besuch im Elendsviertel Vigario Geral, wo 1993 Militärpolizisten einundzwanzig völlig unschuldige Bewohner erschießen, kurzfristig ab. Der im Slum aufgewachsene Soziologe und Men-schenrechtsaktivist Caio Ferraz wird zu Cardosos Amtszeit von Polizei und organisiertem Verbrechen so massiv mit Ermordung bedroht, dass er in einer schwierigen Operation von Amnesty International außer Landes gebracht wird. Ferraz ist damit einer von jenen Menschenrechtlern, die ebenso wie verfolgte Homosexuelle, politisches Asyl in den USA, Kanada oder Australien erhielten – und das fünfzehn Jahre nach der Militärdiktatur.
Pinochet-Hofierer Cardoso
Wenn die rot-grüne Bundesregierung wegen solcher Zustände keinen Grund sah, Cardoso weniger freundlich zu behandeln, hätte natürlich dessen Position zum Fall Pinochet Anlässe geboten. Der chilenische Diktator beging Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht alleine, sondern hatte Kumpane und Helfershelfer auch in Ländern wie Argentinien und Brasilien, von der intensiven CIA-Kooperation ganz zu schweigen. Präsident Carlos Menem wetterte von Anfang an gegen die Verhaftung Pinochets, Schröders Staatsgast Cardoso verlangte ebenfalls die Freilassung. Der brasilianische Präsident ist gleichzeitig Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er könnte die Öffnung der geheimen Militärarchive anweisen, in denen die Zusammenarbeit mit Pinochet und auch das Schicksal der Verschwundenen Brasiliens dokumentiert ist. Wie in Argentinien kollaborierten deutsche Multis – alleine in Sao Paulo gibt es über tausend deutsche Niederlassungen – eng mit dem Repressionsapparat der Diktatur, bespitzelten Arbeiter; in den Archiven dürften darüber Dokumente liegen. Doch Cardoso lässt die Finger davon, nimmt Rücksicht auf die Generalität, die nach wie vor den Militärputsch von 1964 würdigt und regelmäßig den hochverehrten Kollegen Pinochet einlud. Als Juso-Vorsitzender protestierte Gerhard Schröder 1978 vehement gegen den Deutschlandbesuch des berüchtigten brasilianischen Diktators Ernesto Geisel, der damals von Kanzler Helmut Schmidt, Willy Brandt und Leuten wie Filbinger empfangen wurde. In jenem Jahre wurden vom brasilianischen Militärregime Verbrechen wie im Chile Pinochets begangen, auf Protestdemonstrationen nannten die Jusos General Geisel einen skrupellosen Folterknecht und Mörder. Jetzt traf Gerhard Schröder als Bundeskanzler mit Cardoso jenen Mann, der Geisel zum Freund hatte, stets dessen „Leistungen für die Redemokratisierung“ lobte und auch noch eine achttägige Staatstrauer anwies, als er 1996 verstarb. Präsident Cardoso fördert geradezu Folterknechte von einst, in seiner „Sozialdemokratischen Partei“/PSDB wimmelt es von schwerbelasteten Diktaturaktivisten ebenso wie in der rechtsgerichteten Regierungspartei PPB. Dessen Flügelmann Jair Bolsonaro, ein Offizier der Militärpolizei, rechtfertigt ungestraft Massaker an Landlosen und Gefangenen: “Ich hätte ebenfalls geschossen“, betont Bolsonaro zum Blutbad an Landlosen von Eldorado de Carajas. Noch schockierender äußert sich der PPB-Politiker zum nach wie vor ungesühntem Massaker von Carandirù, bei dem Sao Paulos „Policia Militar“ 1992 mindestens 111 Gefangene ermordete. Über 5000 Schuss werden aus Mpis auf die Häftlinge abgefeuert, viele lässt man durch Bluthunde zerreißen. “Man hätte noch einige hundert töten müssen“, argumentierte Bol-sonaro allen Ernstes, “um Platz für andere Gefangene zu schaffen.“ Folter befürwortet er ebenfalls öffentlich. Cardoso & Co sahen nie einen Grund, auf solche Erklärungen zu reagieren. Der befehlshabende Massaker-Oberst wird Abgeordneter, gehört zum Parteienbündnis Cardosos, trommelte für dessen Wiederwahl.
Brasilien ist laut UNO ein Folterstaat
Als die UNO-Menschenrechtskommission Brasilien als Folterstaat einstufte, wies die Mitte-Rechts-Regierung dies auf der Stelle als ungerecht zurück. Josè Gregori, Cardosos PR-Agent für Menschen-rechtsfragen, lamentierte in Genf, der Norden richte über den Süden, Regierungen der reichen Länder sowie mächtige Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch urteilten parteiisch über Brasilien. Davon kann keine Rede sein – die Genfer Konferenz stützt sich auf verlässliche Studien, die auch Claudia Roth, Gerd Poppe und Joseph Fischer vorliegen. Eine hat der österreichische Pfarrer und Gefangenenseelsorger Günther Zgubic miterarbeitet: “Sogar Kranke werden gefoltert, Wärter schlagen solange mit Eisenknüppeln auf Häftlinge ein, bis der Schädel aufsplittert und Gehirnmasse heraustritt“, beklagt Zgubic. “Für mich sind solche Gefängnisse Konzentrationslager.“
Trittin und Brasiliens Siemens-AKWs
Natürlich erkundigte sich telegraph auch im Umweltministerium nach Reaktionen auf Cardoso-Visiten. Als Juso-Chef hatte Gerhard Schröder seinerzeit heftig gegen den von Bundeskanzler Helmut Schmidt 1975 mit den brasilianischen Diktatoren geschlossenen Atomvertrag protestiert – damals wurden immerhin unweit geplanter AKW-Standorte politische Gefangene gefoltert und lebendig Haien zum Fraß vorgeworfen. Mit deutschen Krediten, Hermes-Bürgschaften, realisiert Siemens-KWU den brasilianischen Atomeinstieg – 2000 ging südlich von Rio de Janeiro in einer erdrutsch- und erdbebengefährdeten Bucht der Atommeiler „Angra II“ des Biblis-Typs ans Netz. Mit Rekord-Baukosten von rund zehn Milliarden Dollar ist es der teuerste der Welt, bei 25-jähriger Bauzeit. Gleich daneben errichtet Siemens-KWU das AKW „Angra III“, Greenpeace, die brasilianischen Grünen und die Umweltverbände protestieren wiederum vehement – doch Präsident Cardoso will den Meiler unbedingt. Bundesumweltminister Jürgen Trittin nennt das Anfahren des tschechischen Atomkraftwerks Temelin ganz offiziell sicherheitstechnisch bedenklich und energiepolitisch verfehlt – im Oktober, als Cardoso wieder einmal bei Schröder und Fischer weilt, sein Umweltminister Sarney Filho ebenfalls nach Berlin kommt, erklärt er dagegen zu Angra II und III auf telegraph-Anfrage lediglich knapp: “Die Entscheidung, wie Dinge in anderen Ländern gestaltet werden, müssen Sie anderen Ländern überlassen – wir würden uns von anderen auch nicht reinreden lassen, wie wirs machen“. Anlässlich der Cardoso-Besuche wäre eine Distanzierung möglich gewesen. Sie unterblieb ebenso, wie sonstige Kritik an Brasilias Umweltpolitik. Dass die Cardoso-Regierung als absoluter Rekordhalter bei der Amazonasvernichtung in die Geschichte eingeht, steht laut Greenpeace Brasilien bereits fest. Nicht einmal während des Militärregimes wurden solche Zerstörungsraten erreicht. Die Bundesregierung ist Hauptgeldgeber des Pilotprojekts der G-7-Staaten zum Schutz der brasilianischen Regenwälder, über Zweihundertfünfzig Millionen Dollar gingen bereits an Brasilia – doch Cardoso gibt jährlich viel mehr Mittel allein für Personenkult und Propaganda aus. Einst warb SPD-Kanzler Schmidt kräftig für deutsche AKW in dem Tropenland – jetzt tut Minister Trittin selbiges für Windkraftwerke deutscher Unternehmen an der brasilianischen Atlantikküste. Ein sehr starker Partner ist dabei erneut Siemens-KWU, der die Innenausstattung, darunter das Herzstück, die Generatoren, für anderen Firmen liefert, aber auch komplette Windparks errichtet. Und da spätestens wird verständlich, warum sich der grüne Minister ebenso wie führende SPD-Umweltpolitiker mit Kritik an den Konzernprojekten Angra II und III so zurückhalten.
Stimmenkauf und abgewürgte Untersuchungsausschüsse
Bundeskanzler Schröder betont, dass Präsident Cardoso Vertrauen verdiene. Und weiß natürlich, wie clever sein stockneoliberaler sozialdemokratischer Kollege vom Zuckerhut beispielsweise kreuzgefährliche Untersuchungsausschüsse des Parlaments abwürgt, verhindert: Die wichtigsten Bestecher der Nation, darunter Multis, werden nicht ermittelt, Cardosos Verwicklung in einen Bankskandal bleibt im Dunkeln. 1997 erhalten Kongressabgeordnete umgerechnet jeweils um die die 300 000 Mark, damit eine die Wiederwahl Cardosos ermöglichende Verfassungsänderung durchkommt – jegliche Aufklärung wird unterdrückt. Stimmenkaufenthüller Fernando Rodrigues von der Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, für seine Recherche sogar mit dem „Premio Esso“, sozusagen Brasiliens Pulitzerpreis, geehrt, sagt frustriert zum telegraph: “Das ist hier eben wie in Afrika, wir sind ein unterentwickeltes Land.“ Sao Paulos Erzbischofsblatt wird noch drastischer: “Wir kommen zu dem Punkt, an dem man fast nicht mehr unterscheiden kann, wer Mensch und wer Schwein ist.“ Auch unter Cardoso werden Wahlen durch Stimmenkauf und andere Tricks massiv manipuliert, was selbst von der katholischen Kirche sehr heftig verurteilt wird – internationale Beobachterkommissionen ließen sich jedoch noch nie am Zuckerhut blicken. Brasiliens Neonazis ermorden Schwule
„Hitler“ als registrierter Vorname
Bundeskanzler Schröder sondert zumindest Lippenbekenntnisse gegen den Rechtsradikalismus ab, Cardoso verzichtet selbst darauf – obwohl Brasiliens gutorganisierte Neonazis inzwischen sogar Anschläge auf Aktivisten und Büros von Amnesty International verüben, immer wieder Schwule erschlagen. In jenem Brasilien, das so vielen NS-Kriegsverbrechern Unterschlupf und Aufstiegschancen bot, werden auch andere Minoritäten ihr Stigma nicht los. Besonders die vor Hitlers Gaskammern geflohenen Juden schmerzt, dass die brasilianische Gesellschaft überhaupt nichts gegen den Vornamen Hitler hat, der einen sogar in Zeitungsüberschriften anspringt. Selbst in den besten brasilianischen Wörterbüchern steht unter „Juden“ immer noch: “Schlechter Mensch, habgieriger Geizhals“. Der jüdische Abgeordnete und Therapeut Gerson Bergher, Mitglied von Cardosos Sozialdemokratischer Partei/PSDB, forderte diesen brieflich auf, etwas gegen die widerliche nazistische Charakterisierung zu unternehmen, sie austilgen zu lassen. In seinem Abgeordnetenkabinett in Rios City sagt mir Bergher: “Ich habe nicht mal eine Antwort bekommen.“ Ganz offensichtlich befand sich Schröder somit bei der EXPO-Eröffnung in „allerbester“ Gesellschaft – dennoch lehnten es Amnesty International und die Gesellschaft für bedrohte Völker ab, Cardosos Ausladung zu fordern, beließen es bei kaum wahrgenommener Kritik. Die deutschen Medien übersahen geflissentlich die Korruptionsaffäre um den brasilianischen Pavillon, den kein geringerer als der Präsidentensohn koordinierte. Als Staatschef Cardoso im Oktober erneut während eines viertägigen Staatsbesuches in Berlin bei Schröder aufkreuzte, alle Ehren erhielt, schwiegen Poppe, Roth & Co. wiederum im Kollektiv, ebenso natürlich die angepasste PDS, während einzig die Grüne Liga, Ostdeutschlands größter Umweltverband, mit dem Appell “Kein Staatsempfang für Regenwaldzerstörer!“ deutlich Flagge zeigte. Cardoso wurde – bisher einmalig in Deutschland – als „Regenwaldzerstörer und Menschenrechtsverletzer“ definiert. „Wir fordern als Umweltverband die Bundesregierung auf, alle diplomatischen Beziehungen zur brasilianischen Regierung einzufrieren, solange die Menschen-rechtslage nicht verbessert und die Regenwaldabholzung toleriert wird.“ Deutschland, so Cardoso im Oktober in Berlin, gehöre zu den Ländern, mit denen Brasilien die besten Beziehungen überhaupt unterhalte. Jetzt wolle man die Präsenz in Europa weiter verstärken. Da ist es ganz offensichtlich sehr nützlich, verständnisvolle rot-grüne Partner zu haben.
Klaus Hart, war zwölf Jahre Brasilienkorrespodent und lebte in Rio de Janeiro. Seine journalistischen Schwerpunkte sind außerdem Menschenrechte, Naturschutz und brasilianische Musik. Er lebt heute in Berlin.
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