WAS LEHRT EINE VERGLEICHENDE BETRACHTUNG VON ANSCHLUSSFÄLLEN?

von Jörg Roesler
aus telegraph #102/103

Im Wahlkampf, der der Abstimmung vom 18. März 1990 vorausging, plakatierte „Bündnis 90“, d.h. Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative für Frieden und Menschenrechte: „Artikel 23 – kein Anschluss unter dieser Nummer“.

Die Bürgerrechtler wollten eine Wiedervereinigung, bei der auch die Ostdeutschen eine Chance haben in den neuen deutschen Staat etwas Eigenes einzubringen – sei es das Recht auf Arbeit aus DDR-Zeiten oder die basisdemokratischen Ansätze der Herbstrevolution. Der Wunsch nach einer Vereinigung als gleichberechtigtem Zusammenschluss gipfelte in der Forderung nach einer gesamtdeutschen Verfassung an Stelle der provisorischen westdeutschen, was Artikel 146 des Grundgesetzes der Bundesrepublik auch einräumte. Statt dessen kam es zur Vereinigung nach Artikel 23 – eben zum Anschluss der DDR an die Bundesrepublik und das westdeutsche Grundgesetz avancierte zur gesamtdeutschen Verfassung.

Entledigt man den Anschluss seiner spezifischen juristischen Verkleidung, die er in Deutschland erhielt, dann kann man ihn zweckmäßig als einen Vorgang definieren bei dem eine Region oder ein Staat Bestandteil eines anderen wird. Dabei wird die Bevölkerung des angeschlossenen Gebietes den Bewohnern des Hauptlandes staatsrechtlich gleichgestellt. Nach dem Anschlussakt kommt es zu einer fast vollständigen Angleichung der politischen, administrativen, juristischen, überwiegend auch der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen an die im Hauptland bereits existierenden. Während im Anschlussgebiet die Arbeits- und Lebensverhältnisse fast auf den Kopf gestellt werden, verändert sich im Hauptland kaum etwas. Der Anschluss ist in der modernen Geschichte der häufigste Fall der im 18., 19. und 20. Jahrhundert vor allem in Europa nicht gerade seltenen Vereinigungen und Wiedervereinigungen.

Ein gewisser Ernst-Reiner Fischer, der mit „Erziehungswissenschaftler, Berlin“ unterzeichnete, hat jüngst in der ersten Septemberausgabe der Zeitschrift „Das Parlament“, für sein Forschungsgebiet, den Unterschied zwischen Anschluss und Zusam-menschluss, ohne diese Begriffe explizit zu benutzen, sehr anschaulich beschrieben.

Zunächst den Anschluss, der tatsächlich stattfand: Den Vereinigungsprozess im Bildungswesen bezeichnet Fischer als asymmetrisch. „Denn man musste sich (im Osten- J.R.) schnell von der Idee einer Reform – DDR und etwas langsamer von der Vorstellung verabschieden, sich auf Augenhöhe ins Reformgeschäft einbringen zu können.“

Im Falle eines Zusammenschlusses allerdings, hätten sich die Veränderungen im Bildungswesen ganz anders entwickelt. „Wäre der Vereinigungsprozess symmetrisch verlaufen, müsste von ähnlich gravierenden Veränderungen (wie im Osten) auch aus den alten Ländern berichtet werden können.“ Dazu kam es aber nicht, weil, wie Fischer berichtet, „schon im Vorfeld der Vereinigung die ungelösten Folgeprobleme der bundesdeutschen Bildungsexpansion aus dem öffentlichen Bewusstsein schwanden…. Vergleichsweise unbefangen konnte man nun im Osten ‚pflügen und säen‘ “. Natürlich war der Anschluss allein richtig: „Symmetrie kann man sich im nachhinein nicht ernsthaft wünschen. Asymmetrie war die Voraussetzung für das Gelingen der deutschen Einheit“.
Soviel am Beispiel des Erziehungswesens zur Charakteristik des jüngsten deutschen Vereinigungsprozesses, des Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik.

Ich habe in einem jüngst publizierten Buch1 zwölf verschiedene Anschlussfälle untersucht.
Angefangen habe ich mit dem Anschluss Schottlands an England 1707. Für das vergrößerte England hat man immerhin einen neuen Namen und eine neue Flagge gefunden: Großbritannien und den „Union Jack“. Abgeschlossen habe ich meine Untersuchungen mit dem Anschluss Hongkongs an China 1997, der von den Hongkongnesen ganz nüchtern als „handover“, als Übergabe, bezeichnet wurde. Dazwischen liegen 10 weitere Fälle, auch der wohl bekannteste: Der Anschluss Österreichs an das „Dritte Reich“ 1938. Wie macht sich der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik von 1990, wenn man ihn mit den elf anderen vergleicht?

Zunächst einmal: Das unerhörte Ereignis wird aus vergleichender Sicht zum stinknormalen An-schlussfall.
„Übergestülpt“ wurde immer, mal mehr mal weniger: Immer das politische System, meistens das juristische, in der Regel auch das Erziehungswesen, seltener schon die gesamte Kultur oder das Wirtschaftssystem, auf Distanz zu einander gingen Anschließer und Angeschlossene zumindest für einige Jahre nach der Vereinigung in jedem Fall. Das geschah ganz unabhängig davon, ob es zunächst eine Euphorie ob der zustande gekommenen Einheit gegeben hatte oder man sich im Anschlussgebiet zähneknirschend fügen musste, ganz egal also ob die Bevölkerung des Erweiterungsgebietes sich angeschlossen hatte oder angeschlossen wurde.

Wenn die Anschließer aus der Bundesrepublik im Verständnis der Ostdeutschen abwertend zu „Wessis“ bzw. „Besserwessis“ mutierten, dann die in die „Ostmark“ einströmenden Reichsdeutschen nach 1938 in den Augen der Österreicher zu „Piefkes“. Die Rheinländer, die 1815 das zweifelhafte Vergnügen hatten, auf dem Wiener Kongress und ungefragt, der Preußischen Monarchie zugeschlagen zu werden, bezeichneten ihre neuen Landsleute gern als „Litauer“. Was heißen sollte: Weit aus dem Osten, etwas primitiv in der Denkungsart und ohne rechte Kultur und Umgangsformen. Die Schotten, im Norden des neugeschaffenen Großbritannien beheimatet, fanden für die nach Edinburgh kommenden Engländer den Ausdruck „Southrons“, vielleicht als „Südies“ zu übersetzen. Kein Zweifel, auch „Südie“ war kein Schmeichelwort.
Neben den vielen, was der Anschluss der DDR vor zehn Jahren mit den anderen Vereinigungen bzw. Wiedervereinigungen gleichen Kalibers gemeinsam hatte, gab es auch Besonderheiten dieses jüngsten deutschen Anschlussfalles. Ganz allgemein gesagt war es die Geschwindigkeit, mit der der Anschluss vollbracht und die schon fast unheimlich anmutende Konsequenz, mit der er betrieben wurde. Die Engländer erlaubten den Schotten wenigstens die Beibehaltung ihres Erbrechtes, wenn schon das ganze Zivilrecht anders, eben englisch wurde. Die Rheinländer durften ihr Code Napoleon nach erheblichen Kämpfen behalten. Sie nannten es fortan nur „Rheinisches Recht“. Den Ostdeutschen blieb auf rechtlichem Gebiet nichts Westdeutsches erspart, obwohl es auf dem Gebiet des Familienrechts z.b. und von einer Rechtsauffassung her, die besagte, das Recht allgemeinverständlich, das heißt für den gemeinen Mann auf der Straße nachvollziehbar sein müsse, durchaus bewahrenswerte Ansätze gab.

Die Funktions- oder Dienstelite des Anschluss-gebietes wurde in den untersuchten Anschlussfällen in unterschiedlich starkem Maße ausgelichtet und durch Funktionsträger aus dem Hauptland „ergänzt“. Als Elsass-Lothringen 1871 zum Deutschen Reich kam, blieb vom Elitenwechsel immerhin die Wirtschaftselite verschont. Im Rheinland übernahmen die Preußen ohne Schaden für den Staat die Hälfte der Beamten, die bereits unter Napoleon in den Verwaltungen funktioniert hatten. Beim Anschluss Hongkongs an China verpflichtete sich die Volksrepublik sogar, nach dem „handover“ alle Beamten, die dies wünschten, in ihren Funktionen zu belassen und falls sie es nicht wünschten, ihnen Pensionen zu zahlen. In Ostdeutschland trat der Elitenaustausch dagegen auf allen Gebieten – vom Hochschulwesen übers Militär und den Verwaltungsapparat bis zur Wirtschaft ein. Nicht einmal eine Warteschleife gab es für alle. 1996 kamen nur 11 der 68 Staatssekretäre und Abteilungsleiter der Ministerien des Landes Brandenburg aus dem Osten. Wie viel es heute sind, weiß man nicht genau, da sich die Potsdamer Regierung hartnäckig weigert, auf gezielte PDS-Anfragen im Landtag umfassend und konkret Antwort zu geben.

Der Anschluss ist keine Einbahnstraße mit sicher vorher bestimmbarem Ausgang, so sehr das viele auf beiden Seiten wünschen und so nachdrücklich das auch die Anschließer behaupten. Sie assistieren dem Anschluss gern einen naturprozesshaften Charakter. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an den größten Irrtum Willi Brandts: „Nun wächst zusammen, was zusammen gehört“. Entscheidend ist aber auch beim Anschluss, um nun gleich ausgleichend Altkanzler Kohl zu zitieren, „was hinten herauskommt.“

In den zwölf untersuchten Anschlussfällen habe ich mich daher weder mit der anfänglich häufigen Phase der Euphorie, noch mit der generell darauf folgenden Phase der oft recht bösartigen Konfrontation begnügt, sondern weiter geforscht, was mit Anschließern und Angeschlossenen wurde – bis zum glücklichen oder bitteren Ende.

Am Ende des geglückten Anschlusses steht selbstverständlich die vollständige Integration des Anschlussgebietes. Dann sind die Unterschiede, einschließlich der mentalen, zwischen einstigem Anschlussgebiet und Hauptland, nicht größer als zwischen anderen Regionen des Staates. Der seit 1994 immer mal wieder, besonders von Soziologen der Konrad-Adenauer-Stiftung, gern verkündete Satz, dass die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen schon nicht mehr größer wären als die zwischen Bayern und Ostfriesen – der wäre dann Realität.

Das mögliche bittere Ende besteht darin, dass sich das durch die Vereinigung neugeschaffene staatliche Gebilde, das über Jahre und Jahrzehnte nicht zusammengewachsen ist, erneut teilt. So selten, wie man meinen möchte, ist dieser Fall nicht gewesen. Kaum einer denkt heute daran, dass Belgien und Holland, im Mittelalter als Niederlande jahrhundertelang ein gemeinsam verwaltetes Herrschaftsgebiet, und durch die Abschüttelung des spanischen Jochs, das in den Nordniederlanden gelang, unfreiwillig für viele Jahrzehnte geteilt, von 1815 bis 1830 wieder vereinigt waren. Der „König der Einheit“, der Oranier Wilhelm I., betrieb den Anschluss der Südgebiete aber so borniert, dass die späteren Belgier mit der Waffe in der Hand ihre Anschließer aus dem Süden der Niederlande verjagten.

Der belgische Historiker Ruiß schildert den Scherbenhaufen der niederländischen Anschlusspolitik von 1815-1830 und äußert sich auch zu den Gründen, warum die Wiedervereinigung damals scheiterte: „Wer trauerte schon um das Missglücken der Vereinigung? Nur eine Handvoll Südniederländer und ein paar Intellektuelle und einsichtige Staatsmänner jenseits des ‚Moerdijk’. Der Norden hatte in den fünfzehn Jahren des Vereinigten Königreiches den Weg zum Süden nicht wiedergefunden. Der Süden wurde als erobertes und angegliedertes Gebiet angesehen, zuweilen sogar als Konkurrent. Bis auf einige (nordniederländische) Gelehrte, die an den Universitäten und Schulen südlicher Provinzen unterrichteten und dort Freunde gefunden hatten, war der Norden kühl und gleichgültig geblieben. Die aus dem Norden stammenden Beamten, die in den südlichen Teil der Niederlande versetzt wurden, fühlten sich dort meist als Halbverbannte, zumindest als Strafversetzte“.
Natürlich kann man auch friedlich auseinandergehen und einander bis zu einen bestimmten Maße aus der neuen Entfernung zweier souveräner Staaten sogar sympathisch sein. Die Tschechen und Slowaken haben diese Variante der Trennung mit ihrer „samtenen Scheidung“ 1992 erfolgreich vorexerziert.

Der dritte Zustand, in die der Anschlussprozess schließlich einmünden kann, ist der der fortwirkenden Ambivalenz, was ist damit gemeint? Das Anschlussgeschehen kommt nicht zum erwünschten oder befürchteten Ende. Die Differenzen zwischen Anschließer und Angeschlossenen aber bleiben, in ruhigen Zeiten oftmals durch Normalität verdeckt, virulent. Bei vielen für das gemeinsame Staatsverständnis, die „nationale Identität“ wichtigen Diskussionen und Entscheidungen zeigt sich, dass im Anschlussgebiet „die Uhren doch noch anders gehen“ als im Hauptland. Kanada, nach dem Siebenjährigen Krieg durch den Anschluss des französisch sprechenden Quebecs an das System der angloamerikanischen Siedlungskolonien zustande gekommen, war z.b. in der für das Land wichtigen Frage der Teilnahme am ersten und zweiten Weltkrieg stets zweigeteilt: Die Anglokanadier waren mehrheitlich ebenso sehr dafür wie die Frankokanadier dagegen. Die einen wollten ihrem durch den deutschen Militarismus bedrängten Mutterland zu Hilfe kommen, die anderen ihr Leben nicht auf dem Altar des britischen Imperialismus opfern. Die Ambivalenz ist bis heute geblieben. Ende Oktober 1995 fand in Quebec eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit der Provinz statt. 49,4 % der Quebecois waren dafür, 50,6 % dagegen. Eine denkbar knappe Entscheidung für den Verbleib der Provinz im kanadischen Staatsgebilde – bis zum nächsten Volksentscheid vielleicht, dem viele Kanadier mit Bangen entgegensehen.

Und worauf steuert das Anschlussgebiet „neue Bundesländer“ zu? Die meisten Politiker, von der CDU über FDP, SPD und Bündnisgrüne bis hin zur PDS, sehen in der Integration das gewünschte Ziel. Die realistisch Denkenden unter ihnen geben zu, dass man von diesem Ergebnis weit entfernt ist. Manche sagen „noch weit entfernt“ um die Zeitweiligkeit des augenblicklichen Zustandes zu unterstreichen und die Richtung der zukünftigen Entwicklung zu benennen. Andere sind der Auffassung, dass die mentalen Gegensätze zwischen „Ossis“ und „Wessis“ eher größer werden. Nur sechs Prozent der ostdeutschen Bevölkerung wollen laut jüngsten Umfragen die DDR zurück, würden also für den Fall Zwei, die Scheidung, plädieren.

M.E. mehren sich die Zeichen, dass die Entwicklung im Anschlussgebiet Ost in Richtung Variante Nummer Drei, Ambivalenz, geht.
Erstes Beispiel: Die Auseinandersetzung um die Beteiligung der Bundeswehr am Kosovo-Krieg 1999. Es war das erste Mal, das sich die Bundesrepublik mit Menschen und Material, also nicht nur finanziell, an einem Kriegszug beteiligte. Es gab Befürworter und Gegner des Kampfeinsatzes in allen Teilen Deutschlands. Aber die große Mehrheit der Westdeutschen unterstützte den Kampfeinsatz der Bundeswehr, die große Mehrheit der Ostdeutschen missbilligte ihn. Die Linie zwischen Befürworter- und Gegnermehrheit war fast identisch mit der ehemaligen Zonen- bzw. (in Berlin) Sektorengrenze.
Zweites Beispiel: Die Kampagne gegen Rechtsradikale im Sommer 2000. Auch hier ging es um das Selbstverständnis der Bundesrepublik als moderner, demokratischer Staat. Diskutiert aber wurde vorrangig nicht übers Staatsziel und wie es am besten zu verwirklichen sei, sondern darum, wer gegenüber rechten Parolen anfälliger sei. Die Westdeutschen meinten, die Ossis, wegen ihrer totalitären Vergangenheit und ihres „verordneten Antifaschismus“. Die moderatesten Vertreter der ganz überwiegend westlich beherrschten Medien sprachen günstigsten Falles davon, dass es Rechtsradikalismus „nicht nur in Ostdeutschland“ gäbe. Die Ostdeutschen sahen in der Art, wie die Diskussion geführt wurde, vor allem eine erneute Verunglimpfungskampagne durch die „Wessis“, die vergessen hätten, dass der die Diskussion auslösende Anschlag auf Ausländer in Düsseldorf stattgefunden hat. Kurz, man war unversehens wieder beim großen Thema der Nachwendezeit, dem Ost-West- Gegensatz, gelandet und hatte die Diskussion um Ausländerfeindlichkeit in Deutschland dafür schamlos instrumentalisiert.

„Zehn Jahre danach“ lässt sich noch nicht mit Sicherheit und auch noch nicht mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, welchem Ende das Anschluss-geschehen in den neuen Ländern entgegengehen wird, heute, am zehnten Jahrestag der Vereinigung, sind noch alle drei Varianten „drin“.

1 Jörg Roesler, Der Anschluss von Staaten in der modernen Geschichte. Eine Untersuchung aus aktuellem Anlass. Peter Lang Verlag. Frankfurt am Main usw. 1999.

Jörg Roesler forscht über die Industrie der DDR und der osteuropäischen Staaten und ihrer Transformation seit 1990. Gastprofessuren in Liverpool, Montreal und Toronto. Mitglied der Leibniz-Sozietät.

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