EIN POTSDAMER PLATZ IN DER PROVINZ

aus telegraph #104
von  Jens Kassner

Die Metapher ist nahe liegend. So wie Berlin durch Krieg und Teilung seine alte Mitte verloren hatte, so hat auch Chemnitz, von 1953 bis 1990 als Karl-Marx-Stadt bekannt, durch Bombardierungen und fragmentarisch gebliebenen Wiederaufbau ein Stadtzentrum mit urbanen Qualitäten eingebüßt. Noch vor drei, vier Jahren konnte man Fremde (Touristen gibt es im sächsischen Manchester kaum) in Rathausnähe fragen hören: „Entschuldigung, wo finde ich das Zentrum?“

Eine unerwartete Brisanz erhielt der Vergleich mit dem Potsdamer Platz, als die rivalisierenden Stararchitekten Hans Kollhoff und Helmut Jahn zu direkt benachbarten Hauptakteuren der neuen Citybebauung wurden, genau wie in Berlin.

Aber abgesehen von den bescheideneren Ausmaßen der innerstädtischen Ödnis hinkt auch der zeitliche Vergleich mit Berlin. Als Leipzig Anfang der Neunziger das Prädikat Boom-Town verpasst bekam und sich sogar im behäbigen Dresden schon die Baukräne drehten, passierte in Chemnitz zunächst gar nichts. Jedenfalls nicht in der Innenstadt. Vor den Stadtgrenzen, an der Autobahnabfahrt Nord, entstand mittlerweile nämlich die größte sächsische und zweitgrößte ostdeutsche Shopping Mall, die voller Ironie Chemnitz-Center genannt wurde. Weitere Einkaufskomplexe folgten, auch der Eigenheimbau im Speckgürtel prosperierte nicht weniger als in anderen ostdeutschen Städten.

Für die beachtlichen City-Freiflächen standen aber keine Investoren Schlange. So tat offensichtlich die Stadtverwaltung das einzig Richtige, sie schrieb einen Ideenwettbewerb für die Erarbeitung eines Masterplans aus. Obwohl die beiden ersten Nachwende-OBs, von der CDU gestellt, weder durch Kompetenz noch durch Energie glänzten, erscheint dieser Schritt auch aus der unterdessen gewachsenen historischen Distanz als angemessen. Doch was in den Folgejahren passierte, ist ein Lehrstück für die fast uneingeschränkte Durchsetzungskraft der Verwertungsinteressen tatsächlich oder vorgeblich finanzstarker Investoren.

Zum Sieger des Wettbewerbs, zu dem acht Teams aus Deutschland, Österreich und den Niederlanden eingeladen worden waren, kürte die Jury unter Vorsitz von Prof. Adriani (Hannover) das Dortmunder Büro Zlonicky/Wachten/Ebert. Der Entwurf sieht im Vergleich zu anderen Vorschlägen ausgesprochen nüchtern, wenn nicht gar banal aus. Doch er hatte den Vorteil, die unumgänglichen Renditegelüste der potentiellen Bauherren in städtebaulich verträgliche Bahnen zu lenken. Drei simple Karrees, des ungeraden Zuschnitts des Areals wegen schiefwinklig, sollten das Filetstück zwischen Rathaus und Stadthalle gliedern, zwei weitere das Gelände der überdimensionierten Zentralhaltestelle nebenan. Diese Vorlage gerann zum (scheinbar) verbindlichen B-Plan. Mit der bundesweit bekannten ECE Hamburg gab es seit Juni 1993 auch einen potenten Investor. Dieser fuhr das ursprünglich angestrebte Finanzvolumen von 500 bis 700 Millionen DM aber schrittweise auf 250 Millionen herunter. Als dann auch noch Parkdecks und Lieferwege über die Erde verlegt werden sollten, rang sich die Stadtverwaltung zu einer Verweigerung durch. Der mutige Schritt hatte zur Folge, dass man Mitte 1995 erneut am Startpunkt stand. Doch 23 Bewerber hatten Lust auf das Projekt bekommen, unter denen sieben in die engere Wahl kamen. Nun begann ein Spiel, das sich demokratische Bürgerbeteiligung nennt, aber im Endeffekt nur die Manipulierbarkeit durch moderne Medien demonstrierte. Publikumsrenner wurde das Projekt der englischen AMEC, das eine vom B-Plan deutlich abweichende Mall vorsah, als Sackgasse in einem Großkaufhaus mündend. Die Londoner hatten marketinggerecht bunte Bilder und Videosimulationen ausgestellt. Fröhliche Menschen, blühende Blumen und zwitschernde Vögel belebten eine Szenerie, die vom reellen Planungsstand weit entfernt war. Der Holzmann-Konzern hingegen, der ein urbanistisch besseres und am Wettbewerbsergebnis orientiertes Projekt vorlegte, machte den Fehler, kaum kaschierte Baumassengliederungen zu präsentieren. Solche Ehrlichkeit kam nicht gut an. Die anderen Bewerber hielten sich mit publikumswirksamen Auftritten weitgehend zurück.

Obwohl ein Expertengremium im Oktober 1995 den Holzmann-Vorschlag favorisierte, beschloss der Stadtrat im Januar 1996 ein „offenes Stadtraumbildendes Konzept“, ohne einen konkreten Investor zu benennen. Drei Monate später schließlich installierte die Stadtverwaltung eine Arbeitsgemeinschaft, aus AMEC, Holzmann und Sachsenbau bestehend, zum Bauherren. Der local hero in diesem Triumvirat, die Sachsenbau-Gesellschaft, war zu dieser Zeit gerade damit beschäftigt, den Moritzhof hochzuziehen, einen innerstädtischen Doppelkomplex, den sie an Sparkasse und Stadtverwaltung zu Quadratmeterpreisen, die deutlich über den ortsüblichen liegen, langfristig vermieten konnte. Über das 1A-Areal am Rathaus hatte diese Gesellschaft unter Leitung von Dr. Dieter Füsslein von Anfang an ein Konzept vorgelegt, dass die Vorgaben und Ergebnisse des ursprünglichen Wettbewerbes ignorierte und unter Anlehnung an den alten Stadtgrundriss vor der Zerstörung im März 1945 eine Simulation der heilen Welt versucht. Kehrseite dieses Bestrebens muss zwangsläufig die Aussperrung der sozialistischen Ersatz-City sein. So nannte sich denn das Konzept auch „Chemnitzer Wall“.

Unterschiedlicher hätten die Partner dieser Zwangs-ARGE kaum sein können. Der Krach war also vorprogrammiert. Zuerst stieg der untergewichtige Junior Sachsenbau aus, weil sein Wort unter den global players nicht viel zählte. Zugleich legte Füsslein aber ein eigenes Projekt vor, das nichts anderes als eine Aufwärmung des „Walls“ war. Überraschend kapitulierte im März 1997 dann AMEC, vermutlich deshalb, weil letztlich doch der Holzmann-Entwurf Grundlage für die weitere Entwicklung sein sollte. Doch schon einen Monat später warf auch dieser Konzern das Handtuch. Der Hauptgrund für dieses zweite Scheitern des Prestigeobjektes Chemnitzer City war sicherlich das Ausbleiben zahlungskräftiger Mieter. Die Verlegung der Konsumzentralen an den Stadtrand rächte sich eindrucksvoll.

Doch nicht nur die eventuellen Bauherren winkten ab, auch die Kommunalpolitik ging auf breiter Front in die Knie. Baudezernent Bela Dören, bisher aufrechtester Verteidiger gewisser städtebaulicher Qualitäten, setzte sich nach Köln ab. Und der gesamte Stadtrat, der ein reichliches Jahr zuvor in realsozialistisch anmutender Einstimmigkeit (!) das „offene Stadtraumbildende Konzept“ beschlossen hatte, gab knirschend, aber mit großer Mehrheit Füsslein und seiner Sachsenbau als einzig verbliebenem bauwilligen Investor den Zuschlag. Und der durfte dann praktisch machen, was er wollte. Vor allem wollte er keine offene Stadtraumbildung, sondern ein Center-Management mitten in der City. Die schon im ursprünglichen Entwurf alibinös wirkenden Binnenwege des Areals wurden konsequent ins Innere verlegt. Als Designer dieser neuen Mall wurde Walter Brune, dessen Hauptreferenz die Düsseldorfer Kö-Galerie darstellt, eingeflogen. OB Dr. Peter Seifert persönlich soll für diese Wahl zuständig gewesen sein. Die Lokalpresse feierte Brune sogleich als Stararchitekten und dieser erklärte selbst-bewusst, er habe in seinem Leben noch keinen Flop gebaut. Warum er das dann im Rentenalter ausgerechnet in Chemnitz noch tun musste, bleibt für ewig sein persönliches Geheimnis.

Ein anderer (echter) Star, der mit Chemnitz biografisch verbandelte Günter Behnisch, um den die Rathaus-Oberen vergeblich gebuhlt hatten, erklärte unterdessen lakonisch, es wäre wohl besser gewesen, auf dem Gelände Blumen anzupflanzen. Aus humanistischer Perspektive hat er damit bestimmt Recht, aber nicht aus der Sichtweise des Kapitaleinsatzes.
Brunes Superkomplex sah in der ersten Version wie eine Riesenflunder aus. Später kamen putzige Türmchen hinzu. Aber die Wahrheit, dass dieser Cluster genauso gut (oder besser) an einem Autobahnkreuz stehen könnte, war den Bauherren nicht gut genug kaschiert. So wurde, als der Klumpen im Juli 1999 schon fast rohbaufertig aufragte, Hans Kollhoff als neuer Dekorateur angeworben. Im Gegensatz zu seinem Ruf, stramm teutonisch zu bauen, bemühte er sich hier um südliche Anleihen. Heraus kam eine unsägliche Mischung von „Fort Nox und Dogenpalast“, wie eine Leserbriefschreiberin in der Lokalpresse treffend bemerkte. Im April 2000 wurde dieses sinnig als „Herz der City“ titulierte Meisterwerk eröffnet, fertig ist der Bau auch ein Jahr später noch nicht ganz. Schon wenige Monate nach der Einweihung ist allerdings einer der Hauptmieter, die UCI Kinowelt, schon wieder ausgezogen. Gegen das vier Jahre früher eröffnete Großkino der Kieft-Gruppe in fußläufiger Nähe hatte selbst dieser Großkonzern wenige Chancen.

Eine pikante Nebenerscheinung des Gerangels um den letztendlich „Galerie Roter Turm“ benannten Komplex ist die Tatsache, dass Investor Füsslein schon im September 1998 einräumen musste, sich finanziell übernommen zu haben. Die Kommune, die schon bei der Baufelderschließung erhebliche Vorleistungen erbracht hatte, bildete über die stadteigenen Grundstücks- und Gebäudegesellschaft mbH (GGG) eine Auffanggesellschaft, wurde damit quasi selbst zum Investor.
Unterdessen betrat ein anderer Star die Bühne. Die METRO AG hatte sich entschlossen, den Bau des neuen Kaufhofes selbst in die Hand zu nehmen. Den Auftrag für den Entwurf erhielt Helmut Jahn (Chicago), den ursprünglich Füsslein nach Chemnitz eingeladen hatte. Die Galeria Kaufhof, die schon vorab als Erlebniskaufhaus angepriesen wird, ist rohbaufertig und soll im Herbst 2001 eröffnet werden. In der Glas- und Stahlästhetik passt der Bau zweifellos besser zum Anspruch der Stadt, Innovationswerkstatt sein zu wollen, als Kollhoffs verlogener Historismus. Gleichermaßen problematisch wie bei der Galerie Roter Turm ist aber auch hier die gewaltige, geschlossene Baumasse. Eine unübersehbare Tendenz der gesamten Cityumgestaltung ist das Bestreben, den öffentlichen Raum zu entöffentlichen. Abschließbare oder zumindest überdachte Bereiche sind besser zu überwachen als Straßen, missliebige Personen können ferngehalten werden.

Als Claus Kellnberger, ein bayrischer Investor, seine Pläne zur Überdachung des Rosenhofs, einer in den sechziger Jahren angelegten Fußgängerzone, vorstellte, verhinderte zum Glück ein regelrechter Aufstand der Anwohner das Vorhaben. Nun wird der Eingang des Rosenhofs direkt am Marktplatz durch zwei Solitärbauten neu gestaltet. Die sehr unterschiedlichen Entwürfe stammen vom Dresdner Büro nps sowie von der Berlinerin Gesine Weinmiller.

Reichlich zehn Jahre nach dem Beitritt zur Bundesrepublik nimmt die neue Chemnitzer Innenstadt also tatsächlich neue Konturen an. Mit dem Ergebnis des Wettbewerbes von 1991 haben diese allerdings nicht mehr viel zu tun. Gute Absichten sind am Verwertungsinteresse des Kapitals zerschellt. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass alle neuen Projekte architektonisch schlecht sind. Für Kollhoffs Trutzburg kann man dies uneingeschränkt behaupten. Aber direkt daneben wird in Kürze mit dem Bau eines Hauses für Peek & Cloppenburg begonnen, für das Christoph Ingenhoven (Essen) einen interessanten Entwurf vorgelegt hat. Wie schwierig es jedoch ist, unter Umgehung der Großkonzerne Innenstadterschließung zu betreiben, demonstriert das Vorhaben der sogenannten Mittelstandsmeile. Auf zwei Karrees nordwestlich des Rathauses soll eine kleinteilige Bebauung mit gemischter Eigentümer- und Nutzerstruktur entstehen. Für den ersten Block konnten unterdessen ausreichend Interessenten gefunden werden, um mit dem Bau beginnen zu können. Um aber den zweiten angehen zu können, hofft das Betreiberkonsortium nun, das Landesgericht als Hauptmieter zu gewinnen. Zum ursprünglichen Anliegen der Kleinteiligkeit steht dies aber in krassem Gegensatz.

Stadtentwicklung ist selbstverständlich auch in Chemnitz nicht nur Innenstadtentwicklung. Doch die ganze Problematik hat hier ihren Fokus. Unter den Eigenheimwüsten im Speckgürtel haben alle ostdeutschen Großstädte zu leiden und die rot-grüne Bundesregierung gibt sich größte Mühe, diese Zersiedlung zu fördern. Auch die großen Einkaufskomplexe an der Peripherie sind ein allgemeines Phänomen. Das Chemnitz-Center findet sein Pendant im Saale-Park, der Leipzig und Halle aushungern lässt. Eine Spezifik sind (bzw. waren) allerdings eben jene ungewöhnlich ausgedehnten Löcher in der Innenstadt, welche den Vergleich mit dem Potsdamer Platz nahelegen. In Leipzig wurden überwiegend Lücken geschlossen, in Dresden versucht man sich am Neumarkt mit einer Rekonstruktion des Verlorenen. In Chemnitz bestand die ungewöhnliche Chance, eine neue City planmäßig zu entwickeln. Stattdessen sind zwei Superkomplexe mit Centermanagement entstanden, die auch am Autobahnkreuz stehen könnten.

Jens Kassner ist promovierter Kunsthistoriker mit Schwerpunkt Architekturgeschichte, seit Nov. 2000 selbständig tätig, Buchveröffentlichung: „Chemnitz in den Goldenen Zwanzigern – Architektur und Stadtentwicklung“, www.architektur-in-chemnitz.de

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