NEUE BESETZUNG, ALTER SPIELPLAN

aus telegraph #104
von  Sebastian Gerhard

Motto: „Wie ein Festredner von den Feuerbestattern gesagt hat: die Bourgeoisie hat nichts zu verlieren außer ihr Geld.“ (Brecht, Flüchtlingsgespräche)

Das Volk von Berlin soll wieder wählen dürfen. Das bisher regierende Personal kommt mit der Regulierung der hauptstädtischen Widersprüche nicht mehr zu recht und hat sich – bis auf weiteres – zerstritten. Zugleich ergeben sich neue Alternativen. Seit Monaten erörtert die liberale Presse der Stadt die Möglichkeit einer Beteiligung der PDS an der Verwaltung des status quo. Befürchtungen über sozialistische Neigungen der „SED- Nachfolger“ sind dabei nicht laut geworden. Zu recht. Stilvoll hat nun ein breites Oppositionsbündnis aus Grünen, FDP und PDS mit einem Aufruf zu einem Volksbegehren für baldige Neuwahlen der SPD den Weg aus der Großen Koalition bereitet.

Was aber war die Große Koalition? Ein Regierungsbündnis von CDU und SPD, das in Berlin den Anschluss und seine Folgen verwalten sollte, insbesondere den plötzlichen Wegfall all der politischen Subventionsgründe, welche die Hauptstadt der deutschen Teilung auf beiden Seiten der Mauer aufzuweisen hatte. Für die CDU hat ihr Konzept über 10 Jahre hinweg funktioniert. Sie verteidigte ihre alten, bürgerlichen Anhänger im Westen und profilierte sich gleichzeitig als sozialliberale Ordnungsmacht. Die SPD wurde deklassiert (1999 auf 22,4%) und die Opposition von der Regierung ferngehalten. Und das alles trotz eines beispiellosen Abbaus bezahlter Arbeit (auch im öffentlichen Dienst: 60.000 Stellen in wenigen Jahren), eines nachhaltigen Rückgangs der Einkommen (und damit auch der Erwerbsquellen des Handels usw.) und des Steueraufkommens (Abschreibungen für Immobilien!), mehrerer gescheiterter oder hinausgeschobener Großprojekte (Olympia, Länderfusion, Großflughafen).

Der langjährige erfolgreiche Machterhalt hatte aber einige Voraussetzungen, die nicht mehr gegeben sind. Einerseits den bedingungslosen Ausschluss der PDS aus dem Kreis der regierungsfähigen Parteien, der SPD und Grüne um die einzige, aber eben nur rechnerische Chance einer Regierungsbildung brachte. Andererseits die Verfügung über die finanziellen Mittel, um die Kosten von bürgerlicher Klientelpolitik und sozialer Befriedung auch bezahlen zu können. Damit ist es vorbei. Die Schulden des Landes Berlin beliefen sich Anfang des Jahres bereits auf 65 Mrd. DM. Mit Ausflüchten und kleinen Gemeinheiten ist diesem Schuldenberg nicht beizukommen.

Die Berliner Bankenkrise ist das klassische Ende einer Flucht nach vorn. In Ermangelung anderer Wachstumsfelder warf sich die Bankgesellschaft auf das Geschäft mit Immobilien. Dieses Geschäft setzt aber voraus, dass andere etwas Profitables mit dem Gelände anfangen. Daran hat es gefehlt. Übermäßige Immobilienspekulation, die Hoffnung auf immer weiter steigende Grundstücks- und Gebäudepreise, verzerrte Marktverhältnisse, informelle Vernetzung der ökonomischen und politischen Eliten – so was kann doch nicht gut gehen, das weiß doch jeder. Nachträglich zumindest. Vorher heißt die Immobilienfinanzierung auf Pump „Realkredit“, weil man doch so etwas Greifbares wie ein genau vermessenes Stück Land erwirbt. Dann aber, wenn die Schulden drücken, dann nennt man das anfangs so „reale“ Geschäft auf einmal „Spekulation“. Und keiner versteht mehr, wie sich ehrenwerte Familienväter auf „so etwas“ einlassen konnten.

Das zweitgrößte private Unternehmen Berlins, die Berliner Bankgesellschaft (16.200 Beschäftigte, nur die Bahn ist mit 18.000 größer), steht vor der Pleite. Über Jahre vertuschte Verluste im Immobiliengeschäft sollen etwa 4 Mrd. DM betragen. Das entspricht etwa 10% eines normalen Berliner Haushaltes oder 8 % des jährlichen Bundeswehretats. Nur eine Garantieerklärung des Senats hat die Einschränkungen des laufenden Geschäftes abwenden können. Zusammen mit ausbleibenden Steuer- und Dividendenzahlungen der Bank an das Land Berlin ergibt sich eine neue „Lücke“ im diesjährigen Haushalt von 6 Mrd. DM. Das Land wird sich das Geld bei den vermögenden Zeitgenossen leihen müssen, ihnen dafür Zinsen versprechen und weiter „sparen“, um diese Zinsen zahlen zu können. So wird aus einer Stadt, in der sich mit normaler Ausbeutung nicht genug Geld verdienen lässt, eine Gelegenheit für Geschäfte, weil alle wissen, dass letzten Endes der Bund, d.h. der Kredit ganz Deutschlands hinter jedem Bundesland steht.

Unter welchen Bedingungen der Bund nun „Hilfe“ leisten wird, darum geht die Auseinandersetzung zwischen den Berliner Parteien. Im Zentrum steht die Berliner SPD. Endlich hofft sie dort anzukommen, wo die Bundespartei schon ist: in der eigenen Konsolidierung angesichts einer bankrotten CDU. Zur Erinnerung: Nach den `98er Wahlen führte die SPD zwar siegreich Krieg und entsorgte den illusionistischen Finanzminister und Parteichef, aber die Zustimmung der „kleinen Leute“ hatten die erfolgreichen Verwalter des status quo verloren, und mit ihr verloren sie die Wahlen, eine nach der andern. Erst die Parteispendenkrise der CDU wendete das Blatt. Zwar macht man auch heute keine „andere Politik“, aber man muss ja auch nur relativ zur Konkurrenz besser dastehen.

Den Berliner Genossen wird solche Wiedergeburt schwerer fallen, sind sie doch seit 10 Jahren an der Regierung beteiligt. Sie haben dabei ihre Wählerschaft verloren und schleifen mit der Privatisierung der öffentlichen Versorger die letzten sozialdemokratisch- gewerkschaftlichen Bastionen in der Stadt. Sie können sich nur mehr als kleineres Übel profilieren. Aber immerhin – sie bekämen endlich, was ihnen seit Jahren fehlt: eine politische Funktion.

Grüne und PDS stehen gleichermaßen in den Startlöchern, mit ihrem geballten Sachverstand einen pragmatischen und zukunftsträchtigen Ausweg aus der Krise zu bahnen. Ich will gar nicht ausschließen, dass sie auf diesem Wege erfolgreich sein können. In Italien hat es die linksliberale „Ulivo“ – Koalition auch geschafft, das Land für den Euro fit zu machen. Nur ihre Wähler zeigten sich nicht überzeugt. Sie blieben letztlich massenhaft zu Hause. Berlusconis Wahlsieg markiert die Grenzen einer liberalen Modernisierung der Linken, die im Interesse höherer Gesichtspunkte (Staatsräson, europäische Integration, nachhaltige Entwicklung) die Organisationen der nicht oder abhängig Beschäftigten disziplinieren, zahn- und willenlos machen.

Wie es im Moment aussieht, hat man damit in Berlin nicht mehr viel zu tun. Die Gewerkschaften hüllen sich in Schweigen. Sie müssen auch keine Angst haben vor einer rebellischen Basis. Die Resignation der Betroffenen lässt nur noch die Auswahl zwischen alternativen Sparkursen und wird in einer baldigen Wahl des Abgeordnetenhauses ein ausreichendes Betätigungsfeld finden. Eine Lösung der Berliner Probleme? Was soll denn das heißen? Wessen Probleme sind die Probleme Berlins?

Klar ist: Die abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen dürfen sich auf eine Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen einstellen. Mit dem Druck von oben wird die Konkurrenz unter den Betroffenen wachsen. Es wird nicht alles anders, aber vieles schlechter werden – egal welcher Sanierer demnächst regiert. Eine Alternative kann nicht gewählt, sie müsste durch politische Arbeit erst einmal gebildet werden. Wie? Zuallererst durch eine unnachgiebige Kritik an den verlogenen Rechtfertigungen der privaten Unterordnung, durch den Verzicht auf den Dienst am großen Ganzen und die öffentliche Anerkennung, durch das Beharren auf dem niederen Materialismus individueller und kollektiver Genüsse. Durch den Streit über die Wege und Ziele gemeinsamen Widerstandes. Durch viele zusätzliche Anstrengungen, die ohne ein Minimum an Solidarität und Gemeinsamkeit für den Einzelnen nicht tragbar sind. Zusätzliche Anstrengungen, ohne die eine freundlichere Zukunft nicht zu haben ist. In Berlin nicht und anderswo auch nicht.

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