Die Ursachen breiter rassistischer Ressentiments in der DDR und in Ostdeutschland nach 1990
aus telegraph #104
von Alf Zachäus
Seit dem Vorstoß des bayrischen Innenministers Beckstein in Sachen NPD-Verbot im Sommer 2000 ist in der deutschen Öffentlichkeit die Debatte um die „besonders große Anfälligkeit der tendenziell rassistischen Ostdeutschen für neofaschistisches Gedankengut“ erneut entbrannt, welche durch die Ereignisse in Sebnitz im vergangenen Herbst weitere Nahrung erhielt. Folgt man der Berichterstattung in den öffentlich zugänglichen Medien, so ist das Thema einmal mehr Gegenstand der saturierten westdeutschen Mittelklasse, das Thema Rechtsradikalismus und latenter Rassismus als Erbe der ehemaligen DDR zu interpretieren, um sich und die eigene „beste aller erreichbaren Welten“ von jeder Mitverantwortung von vornherein freizusprechen. Die Ostdeutschen sehen sich erfahrungsgemäß nicht ganz zu unrecht mit einer Hetzkampagne gegen alle konfrontiert, die darauf hinausläuft, die Schuld an der Misere Ostdeutschlands den „Eingeborenen“ in die Schuhe zu schieben.
DER RASSISMUS IM OSTEN ALS REAKTION AUF DIE SOZIALE KRISE UND WESTDEUTSCHE DOMINANZ
Exemplarisch für die Lesart West stehen die Theorien des Kriminologen Pfeiffer, der schon seit einigen Jahren eine Korrelation zwischen dem „Nachttopfzwang“ in den DDR-Kindergärten der Ulbricht-Ära und kollektiv agierenden jugendlichen Faschos in den neuen Bundesländern ausmacht.
Pfeiffers Lesart sei hier ebenso exemplarisch das Deutungsmuster des Hallenser Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz entgegengesetzt. Ein Deutungsmuster das von Autoren dieser Zeitschrift wie Malte Daniljuk und Andrej Holm (telegraph Nr.3/4 1998; S.20-23) oder Fritz Vilmar (Nr.1 2001; S.18) offensichtlich geteilt wird.
Maaz schreibt der Gewalt gegen „sozial schwächere Ausländer“ eine Ventilfunktion zu, der Adressat sei eigentlich der „sozial besser gestellte Wessi“. Er stellt so der Sicht von Pfeiffer und Kollegen die Ursachenbestimmung im Feld des durch die von westdeutschen Eliten betriebenen kapitalistischen Transformationsprozesses hervorgerufenen sozialen Krise, begleitet durch die Bevormundung der Ostdeutschen quer durch alle Klassen und Schichten durch ihre neuen Herren entgegen1 und sei hier stellvertretend für die breite Anhängerschaft der Auffassung genannt, nach der die Gründe rechter Gewalt in Ostdeutschland in diesem Bereich zu suchen seien.
DIE KONTINUITÄT DES LATENTEN RASSISMUS IN OSTDEUTSCHLAND
So sympathisch mir dieser Ansatz auch ist, greift er meines Erachtens zu kurz.
Gleich vorweg: Bei meinen folgenden Betrachtungen werde ich mich auf die Ursachenbestimmung des latenten Rassismus bei Teilen der ostdeutschen Bevölkerung konzentrieren. Er ist einer der wichtigen Quellen rechtsradikaler Gewalt überhaupt, ein breiterer Ansatz würde den Rahmen des hier Möglichen sprengen.
Ausgangspunkt meiner folgenden Betrachtungen ist die Frage: Lässt sich eine Kontinuität rassistischen Potentials in Ostdeutschland von der DDR bis heute beobachten.
In der früheren DDR waren rassistische Ressentiments gegenüber Polen und Russen2 , Vertragsarbeitern aus Ländern der sogenannten Dritten Welt3 und ein „Antisemitismus ohne Juden“4 in fast allen Schichten der Bevölkerung besonders präsent5 . Diese Ressentiments gehörten dabei gerade unter ArbeiterInnen zum, mit sich zuspitzender ökonomischer Krise immer offener ausgesprochenen, Common Sense. Insofern verstanden sich jugendliche Neonazis bereits in der früheren DDR bei ihren Attacken auf Ausländer nicht ganz zu unrecht als Vollstrecker des Willens vieler MitbürgerInnen.
In der Zeit von der Herbstrevolution 89 bis zum Anschluss ein Jahr später kam es unter den Bedingungen weitestgehender Abwesenheit der bis dahin gewohnten staatlichen Verfolgung rassistischer Gewalttaten zur Explosion einer Zeitzünderbombe in Form immer dreisterer ausländerfeindlicher Attacken, die sogar in Westberliner Distrikte mit starkem türkisch-stämmigen Bevölkerungsanteil vorgetragen wurden.
Von dort aus ging die Entwicklung kontinuierlich über Hoyerswerda und Rostock – Lichtenhagen bis zum gut organisierten „Kampf um national befreite Zonen“ im konkreten und einem nach wie vor vorhandenen latenten Rassismus im allgemeinen bis heute weiter, einem Rassismus der sich seit der Öffnung der Mauer z.B. auch gegen die Nachfahren der sogenannten Gastarbeitergeneration richtet. RassistInnen kommen dabei in der kapitalistisch transformierten Gesellschaft der Neuen Bundesländer nicht nur aus den Reihen der sozial Deklassierten, Rassismus ist heute ebenfalls ein bei allen Klassen und Schichten der ostdeutschen Gesellschaft anzutreffendes Phänomen.6
DIE FUNKTION DES RASSISMUS DER
BENACHTEILIGTEN
Nun würde es sich anbieten, die Ursachen des latenten Rassismus in ostdeutschen Köpfen in seiner historischen Kontinuität oder in der bei der fehlenden Übung im Zusammenleben mit Menschen nichtdeutscher Herkunft, zu suchen. Verfährt man so, kann man jedoch letztendlich nur die Abrufbarkeit rassistischer Vorurteile erklären, aber nicht warum sie abgerufen werden.
Will man das leisten, muss man sich die Funktionen vergegenwärtigen, die der Rassismus sich gesellschaftlich benachteiligt Fühlender hat, um den es sich in der früheren DDR und den jetzigen Neuen Bundesländern trotz der Herkunft seiner Träger aus allen Klassen und Schichten beider Gesellschaften handelt.
Für den sich gesellschaftlich benachteiligt fühlenden Rassisten ist es unerheblich, ob er sich selbst auf der untersten Ebene der gesellschaftlichen Hierarchie befindet oder ob man tatsächlich vom sozialen Abstieg bedroht ist. In der früheren DDR war z.B. auch der Sohn eines Mitglieds der Nomenklatura der unteren oder mittleren Ebene in vielen schulischen Situationen Befehlsempfänger. Die Stellung der Eltern erleichterte häufig den beruflichen Aufstieg erheblich, sie war aber auch kein Garantieschein für die spätere Karriere.
Heute lassen kollektive Erfahrungen, auch materiell besser gestellter Ostdeutscher, sich latent sozial bedroht und gesellschaftlich benachteiligt fühlen: Sie leben häufig unter der ständigen Präsenz von Arbeitslosigkeit und Armut in der eigenen Familie oder dem Freundeskreis. Zudem darf sich auch der materiell besser gestellte Ostdeutsche ideell als Staatsbürger zweiter Klasse fühlen, den man in öffentlichen Situationen schnell mal in die Schäm-dich-IM-Ecke stellt und bei gesamtdeutschen und internationalen Fragen jede Kompetenz abspricht. Der sich gesellschaftlich benachteiligt fühlende Rassist hat sich mit dem Umstand der hierarchischen Struktur der Gesellschaft und das „einer der Gewinner und einer der Verlierer sein muss“ bereits abgefunden. Im Gegensatz zum Prinzip der kollektiven Gegenwehr Unterprivilegierter setzt er unter den Systembedingungen des polit-bürokratischen Staatsmonopolismus in der früheren DDR und der bürgerlichen Demokratie der BRD, den bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien die Idee einer anderen Hierarchie entlang ethnischer Kriterien alternativ entgegen.
Es geht also darum, sowohl für die Zeit der DDR und des gesellschaftlichen Umbruchs 1989/90 als auch für die Zeit nach dem Anschluss zu klären, welches die gesellschaftlichen Krisenphänomene waren und welche Bedingungen dazu führten, dass sich eben im Gegensatz zu einer Kultur der Solidarität Unterprivilegierter immer wieder rassistische Raster in vielen Köpfen durchsetzen konnten.
„KOLLEKTIVER INDIVIDUALISMUS“ UND DER SOZIALPAKT IN DER DDR
Will man diese Frage für die ehemalige DDR beantworten, so muss man sich ihrer wesentlichen Systembedingungen und des spezifischen Sozialpaktes zwischen Herrschenden und Beherrschten erinnern. Die politbürokra-tischen Eliten unterbanden von vornherein jede autonome Organisation von „Werktätigen im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat“, von StudentInnen oder Berufs-schülerInnen.
Sie schuf somit die Voraussetzung für den DDR – typischen „Individualismus des Arbeitskollektivs“. Das heißt, in der DDR wurden die alten proletarischen Milieus, die immer geholfen hatten, der Konkurrenz auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt ein gewisses Maß an Solidarität entgegenzusetzen, durch die Gemeinschaft des Arbeitskollektivs ersetzt. Dem Arbeitskollektiv kam dabei eine Schutzfunktion des Einzelnen zu – wenn einer politisch im offiziellen Sinne eigentlich nicht tragfähig war, so bescheinigte man ihm in den regelmäßig zu leisteten Berichten über die Leistungen im „sozialistischen Wettbewerb“ und das vermeintliche Maß an Zustimmung zur Politik der Führung für gewöhnlich Leistungsbereitschaft und politischen Konformismus. Im spezifischen Konkurrenzkampf um die Zuteilung möglichst geringer Plankennziffern bei gleichzeitig möglichst groß ausfallender materieller Zuteilung, war das Kollektiv die kleinste Einheit in der Gesellschaft – das ganze Kollektiv musste lamentieren und die Hände heben, wollte man glaubhaft versichern, dass mehr als das schon immer zu leistende nicht möglich war. Es war der Arbeitskollege, der sich in der Schlange am Werksverkauf schon eine Stunde vorher für alle, eben in Konkurrenz zur „Vorhut“ der anderen Brigaden, anstellte.
Diese Bedingung behinderte bereits entscheidend die Entwicklung einer Kultur kollektiver Gegenwehr über das Arbeitskollektiv hinaus. Verheerend wirkte sich darüber hinaus die Rechtfertigung des eigenen Machtmonopols der Staats- und Parteiführung gegenüber ihren an die Konkurrenz der in der Schlange Stehenden gewöhnten Untertanen unter Berufung auf solidarische Traditionen der Arbeiterbewegung – der Begriff der internationalen Solidarität z.B. war immerhin häufig gebrauchtes Schlagwort bei Beschreibung der eigenen Außenpolitik.
Die Unangreifbarkeit dieses Monopols demonstrierte sie dabei besonders nachdrücklich gegenüber jungen Menschen in der Schule, beim Studium, in der Berufsausbildung und beim Wehrdienst. Das heißt schon früh wurde man an hierarchische Befehlsstrukturen gewöhnt. Wollte man aber die eigene Macht auf Dauer wirksam legitimieren, musste man ganz andere Register ziehen. Schon seit den Fünfziger Jahren orientierten sich die Lohnabhängigen in der DDR am Lebensstandard der BRD. Viel gewichtiger als z.B. das Gerede von der antifaschistischen Gesellschaftsordnung in der DDR, war das Versprechen Ulbrichts, unter den Bedingungen politbürokratischen Machtmonopols und auf Basis des Staatseigentums an Produktionsmitteln, den Kapitalismus der BRD des sogenannten Wirtschaftswunders „zu überholen ohne einzuholen“ – die einen müssten eben nur gut regieren und die anderen gut arbeiten. Wenn es in der DDR eine breite Vorstellung sozialistischer Utopie gab, so verband sie sich wohl bis heute mit dem Weg, der hier bereits gewiesen wurde: soziale Sicherheit plus ständig steigende Konsumtion bei Erfüllung der gestellten Arbeitsaufgaben gleich erstrebenswerter Sozialismus.
Mit der Festschreibung des Zieles, unter anderen Systembedingungen wenigstens in Sichtweite hinter der Bundesrepublik in Sachen Lebensstandard hinterherzurennen – von der etwas hoch gegriffenen Zielstellung Ulbrichts mußte man sich zunehmend immer weiter verabschieden – taten sowohl die Ulbricht – als auch die Honecker – Führung ihr Übriges, die DDR – Bürger auf die Perspektive des gleichen Konsums der sich als Leistungsgesellschaft darstellenden westdeutschen Gesellschaft als Lebensinhalt festzulegen.
ANERKENNUNG ALS TEILHABER AM
WOHLSTAND WEST DURCH DIE BRD
In der Idee, man sei rechtmäßiger Anwärter auf ein vergleichbares Konsumniveau, wurde man durch die politischen Eliten der Bundesrepublik bestärkt, die DDR-BürgerInnen mittels ihres rassistisch selektierenden Staatsbürger-schaftsrechtes als eigene BürgerInnen und somit aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als „rechtmäßige Teilhaber“ am Wohlstand der alten Bundesrepublik anerkannte, ganz im Gegensatz zu den seit 1961 in die BRD einwandernden ausländischen ArbeiterInnen und ihren Nachkommen.
Bis hierhin sind bereits folgende Bedingungen für den breiten Rassismus Unterprivilegierter gegeben: Man lebt in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft. Die tägliche Erfahrung ist ein wenn auch anderer Konkurrenzkampf. Man orientiert sich an dem Wohlstand einer ebenfalls hierarchisch gegliederten Gesellschaft, in der jeder angeblich „des eigenen Glückes Schmied sei“. Der Gedanke, daß Deutsche sowieso rechtmäßige Teilhaber an einem weltweit sehr hohen Lebensstandard seien, wird von den politischen Eliten in der alten Bundesrepublik zusätzlich genährt.
LATENTER RASSISMUS IN DER
VERSORGUNGSKRISE
Die sich zuspitzende ökonomische Krise seit den Siebzigern wurde für den Einzelnen als Versorgungskrise spürbar. Der DDR- spezifische Rassismus war demzufolge eine Mischung aus Schuldzuweisungen an eine „undeutsche Wirtschaftsführung“ seitens der SED-Oberen und aus dem Rassismus, der in der Warteschlange vermeintlich oder tatsächlich Zu- Kurz Gekommenen. Das rassistische Weltbild vieler DDR- Arbeiter z.B. sah in Worte gefasst in etwa so aus: „Die Russen haben uns ihre schlampige Wirtschaftsführung aufgezwungen. Die faulen Polen und die Vietnamesen kaufen uns die Geschäfte leer. Diese Neger aus dem Busch haben die dicke Westkohle und vergreifen sich an unseren Frauen, während wir für unsere Arbeit nur wertlose Alu- Chips bekommen. Hätten wir dieselben Chefs wie unsere Verwandten im Westen, würden wir nicht ständig von den Russen bevormundet und müssten wir nicht immer irgendwelche unterentwickelten Hungerleider mit durchfüttern, würden wir ganz woanders stehen.“
Dass der Arbeiter und die Arbeiterin in der früheren SU für die Verwerfungen bürokratischer Wirtschaftslenkung genauso wenig konnten, dass DDR-Bürger Geschäfte jenseits der Grenze mit ziemlicher Regelmäßigkeit genauso leerkauften, oder dass der moçambiquanische Kollege von seinem zwangsweise nach Moçambique transferierten Lohn häufig keinen müden Pfennig mehr sah, davon wollte man in der Regel wenig wissen.
DER „RECHTMÄßIGE ERBE“ SCHLÄGT ZU
Die „prokapitalistische Volksbewegung in der ehemaligen DDR“ von der Öffnung der Mauer am 9.November 1990 über die Volks-kammerwahl am 18.März und die Währungsunion am 1.Juli bis zum Anschluss der DDR am 3.Oktober 1990 hatte sich die Losung „Jetzt sind wir auch einmal dran!!!“ auf die Fahnen geschrieben. Das heißt, der Prozess bis zum Anschluss an die BRD hatte von vornherein ein Mensch anderer ethnischer Herkunft ausschließende Komponente.
Die bereits beschriebene immer offenere Gewalt von ostdeutschen Rechtsradikalen seit der Öffnung der Mauer in Fortsetzung der bereits zu DDR-Zeiten üblich gewordenen Ausschreitungen richtete sich nicht zufällig gegen Ausländer in der noch existierenden DDR und gegen Einwanderer in der ehemaligen BRD gleichermaßen. Die einen attackierte man, weil man endlich ungestraft gegen die vermeintlich Bevorzugten im Verteilungskampf in der Warteschlange losschlagen konnte, die anderen galten als die „unrechtmäßigen Erben“ des durch den Mauerbau verlustig gegangenen Platzes an der Sonne. Das es sich hier um die gewaltsame Äußerung weitverbreiteter Ressentiments handelte, bewiesen immer wieder Bewertungen ostdeutscher Arbeiter, die ihre ersten Erfahrungen in westdeutschen Betrieben gemacht hatten: Musste man die Arroganz eines westdeutschen Vorarbeiters ertragen, war das schlimm, viel erniedrigender war für viele, wenn er noch dazu türkischer Herkunft war.
RASSISTISCHE RESSENTIMENTS ALS ANTWORT AUF DEN LIBERALEN SOZIALDARWINISMUS
Seit 1990 haben sich die Systembedingungen entscheidend verändert, aber die wesentliche Ursachenverkettung ist dieselbe geblieben: Soziale Bedrohungsängste bei gleichzeitiger Abwesenheit einer glaubhaften solidarischen Alternative, was dazu führt, dass Ideen einer Gesellschaft von Hierarchien entlang ethnischer Kriterien wirksam werden.
Der aktuelle Neofaschismus in Ostdeutschland steht dabei in einem internationalen Kontext des Aufkommens neurechter Ideologien als Antwort auf die neoliberale Offensive der letzten Jahrzehnte. Der Liberalismus geht als Ideologie von der Vorstellung aus, jeder hätte auf dem freien Markt als Anbieter von Waren oder Dienstleistungen eine gleichberechtigte Chance, staatliche Eingriffe würden die Selbstheilungskräfte der kapitalistischen Marktwirtschaft nur behindern, also hätte sich der Staat aus dem sozialen Bereich herauszuhalten und jedem ökonomischen Interventionismus abzuschwören. Ohne diesen Exkurs in Sachen liberaler Ideologiebildung hier weiter vertiefen zu wollen, läßt sich feststellen, dass ein herausragendes Merkmal liberaler Ideologien die völlige Ignoranz gegenüber ökonomisch bedingten ungleichen Kräfteverhältnissen ist, die sich z. B. aufgrund der ökonomischen Dominanz relativ weniger Konzerne in Schlüsselbranchen oder der Konzentration der Mehrheit des gesellschaftlichen Produktivvermögens bei einem geringen Prozentsatz der Bevölkerung eines Landes ergeben. Ebenso wird die Verquickung von staatlichen Stellen und der Privatwirtschaft unterschlagen und der Staat erscheint hier nicht als eine einem fortlaufenden komplexen Anpassungsprozess unterworfene Institution, der sie in immer neuer Gestalt des ideellen Gesamtkapitalisten erscheinen lässt, sondern als die böse äußere Macht, „die sich immer überall einmischen muss.“
In ihrer praktischen Anwendung bedeutet liberale Ideologie, abgesehen von der Steigerung der Durchschnittsprofitrate, u.a. die Schaffung prekärer Einkommensverhältnisse bei LohnarbeiterInnen aus den ehemaligen Kernbelegschaften und die Bedrohung der akademisch gebildeten Mittelschichten durch die Armutsfalle.
In dieser Situation setzt die Neue Rechte dem liberalen Leistungsprinzip im Sinne des freien Marktes die Idee des Ausschlusses von Menschen anderer ethnischer Herkunft vom Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt und vom Geschäftsleben des eigenen Landes programmatisch entgegen.7
VORRAUSSETZUNGEN FÜR DEN „RASSISMUS DER UNDERDOGS“ IN DEN NEUEN
BUNDESLÄNDERN
Die Ostdeutschen jeder sozialen Herkunft mussten dabei seit 1990 folgende kollektiven Erfahrungen machen, die in ihrer Summe Ursache des Abrufs rassistischer Ressentiments bei vielen sind: Da ist zum einen die Deindustrialisierung der neuen Bundesländer, welche allgemein und zu Recht als Verlust jeder Chance auf eine sich selbst tragende „Volkswirtschaft der Neuen Bundesländer“ empfunden wird. Man fühlt sich also ökonomisch dauerhaft abhängig gemacht.
Dann gibt es, wie schon beschrieben, über Klassen und Schichten hinweg die Erfahrung, schon einmal von Arbeitslosigkeit betroffen oder wenigstens von ihr bedroht worden zu sein und sich von lange gepflegten beruflichen Hoffnungen verabschieden zu müssen. Die Voraussetzung der breiten Krisenerwartung ohne Hoffnung auf ihre baldige Lösung ist also bereits gegeben. Die Entlassung war dabei häufig das Resultat der Einführung der ostdeutschen Gesellschaft erst einmal fremder Institutionen.
Die Transformation der Institutionen und die breite Zerstörung selbst konkurrenzfähiger Betriebe im Interesse zumeist westdeutschen Kapitals wurden zudem von der Erfahrung erneuter Arroganz der Macht begleitet: Kohl selbst lebte bereits 1989/90 mit seiner praktisch privat forcierten Einführung der DM – damals noch unter tosendem Beifall der Mehrheit der DDR-Bürger – diese Kultur der Machtanmaßung vor.
In den folgenden Jahren wurden die ehemaligen DDR-BürgerInnen, welche sich eben erst daran gemacht hatten, die demokratische Kultur der Runden Tische einzuüben, mit der von niemanden demokratisch legitimierte Treuhand konfrontiert, deren VertreterInnen auch angesichts noch so großer Proteste jede Abteilung und jedes Werk schlossen, wenn es in ihr Konzept passte.
Währenddessen wurden vermeintliche Interessenten an der Übernahme von Betrieben zu immer dreisteren Wirtschaftsverbrechen durch ihre nachlässige Subventionspolitik ermutigt.
Vertreter der neuen politischen und gewerkschaftlichen Elite bis hinunter in die Kommune und den Betriebsrat lebten allzu häufig nach der Devise: „Da kann man eben nichts machen“ und arbeiteten in der Regel im Sinne des gesetzlichen Rahmens und der zu erfüllenden „Plankennziffern von abzusegnenden Entlassungen“ nach Vorschrift. Begleitet wurden sie dabei öffentlichkeitswirksam von Vertretern aus Wissenschaft und Medien, deren Botschaft nicht nur die angebliche Alternativ-losigkeit in Sachen Privatisierung, Entlassungen und Billiglöhnen ist, sondern die jedes öffentliche Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen überhaupt tabuisieren. Der Glaube an den ewigen Fortbestand „von Oben und Unten“ und dass dem kollektivem Sich- wehren gemeinhin wenig Erfolgschancen beigemessen werden, haben hier ihre jüngeren Ursachen.
EINE STRATEGIE GEGEN DEN LATENTEN
RASSISMUS
An der Stelle muss ich an den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurückkehren. Wenn der „Rassismus der Underdogs“ seine Ursache in sozialen Krisen bei gleichzeitiger Abwesenheit erfolgversprechender und auf solidarischen Prinzipien beruhender sozialer Bewegungen hat, so kann es langfristig keinen wirksamen Antirassismus ohne Bezug auf soziale Kämpfe geben. Dies sei ganz besonders Protagonisten „konkreter“ im letzten Jahrzehnt in Mode gekommener Antirassismen und -nationalismen ins Stammbuch geschrieben, die beinah jede jüngste soziale Bewegung in Deutschland prinzipiell als potentiell rassistisch, antisemitisch oder deutsch-national verleumdet haben. Diese von Vordenkern wie Jürgen Elsässer bereits schon notorisch vorgenommenen Etikettierungen legen beredtes Zeugnis darüber ab, dass dieser wesentliche Zusammenhang nicht begriffen wird oder dass man ihn aus Borniertheit nicht begreifen will.
Für Ostdeutschland heißt das erstens: Beteiligung an sozialen Kämpfen bei gleichzeitigem Ausloten ihrer Entwicklungsmöglichkeiten auf Basis noch zu leistender Analysen der sozioökonomischen Gegebenheiten nach elf Jahren kapitalistischer Transformation. Zweitens muss überlegt werden, wie sich eine glaubhafte solidarische und antirassistische Kultur gerade unter Azubis, jungen LohnarbeiterInnen, Arbeitslosen und StudentInnen entlang sozialer Auseinandersetzungen entwickeln kann.
1 Vgl. auch Maaz (1991): Das gestürzte Volk, S.41
2 vgl. u.a. Harry Waibel (1995): Rechtsextremismus in der DDR bis 1989 S.83-87 u.S.103-114, Die antislawischen Ressentiments gegen alle Nationalitäten der ehemaligen SU, welche im Jargon der DDR-Arbeiterschaft wie u.a. von Journalisten der öffentlich rechtlichen Anstalten in der BRD gleichermaßen allgemein als Russen bezeichnet werden, behandelt Waibel nicht zu unrecht als antisowjetische Einstellungen, wobei mir hier die weitverbreiteten „antirussischen Ressentiments ohne SU“ zu kurz kommen, die sich in dem häufig gebrauchten Begriff „Russenwirtschaft“, zur Bezeichnung einer von Fehlplanungen, geringer Arbeitsmotivation der Beschäftigten und nachlässig behandelten Maschinenpark gekennzeichneten Volkswirtschaft, manifestierte.
3 ebenda u.a. S. 100-102 Als Beispiel für eine der häufigen Auseinandersetzungen zwischen DDR-Bürgern und ausländischen Arbeitern schwarzer Hautfarbe im Ort ihrer Arbeitsstelle, das hier nicht dokumentiert wird, läßt sich an der Stelle eine Auseinandersetzung zwischen deutschen Besuchern einer Diskothek und kubanischen Vertragsarbeitern in Merseburg 1982 erwähnen, an deren Folgen ein kubanischer Arbeiter verstarb.
4 ebenda S.59-75
5 Hier muss ich aus meiner Erfahrung einschränkend sagen, dass offen ausgesprochener Rassismus bei Mitgliedern der Nomenklatura gerade in den 70er und 80er Jahren ein bei einigen Jugendlichen aus Kaderfamilien zu beobachtendes Phänomen war.
6 Die Ergebnisse von Umfragen unter Jugendlichen widersprechen immer wieder der These, dass z.B. neofaschistische Einstellungen ein Phänomen bei „Jugendlichen ohne Perspektive“ wären.
7 Hans-Jochen Vogel hatte im telegraph Nr.3/4 1998 S:27-29 dieses Prinzip richtig herausgearbeitet.
Alf Zachäus lebt in Halle.
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph