aus telegraph #104
von Jan Faktor
Für diesen Text führte ich neben vielen interessanten und auf dieses Thema fokussierten (Telefon-) Gesprächen am Rande auch längere Interviews – mit den Autoren Bert Papenfuß, Andreas Koziol, Detlef Opitz und Ulrich Zieger. Ich sprach (oder tauschte e-mails) auch mit den Literatur-(bzw. Kunst-) Wissenschaftlern Dr. Peter Böthig, Dr. Klaus Michael, Christoph Tannert; sowie mit dem Dichter Adolf Endler und dem Verleger Gerhard Wolf. Sehr gut ausgetauscht und ergänzt haben wir uns mit Thomas Brussig. Besonders Dr. Klaus Michael danke ich für einige entscheidende Hinweise und für die Zurverfügungstellung einiger seiner Recherchenergebnisse.
Einen der Anlässe für diesen Text lieferte mir eine Veranstaltung in der literaturWERKstatt berlin am 10. 12. 1997, bei der zwei Bücher über die Prenzlauer-Berg-Szene vorgestellt wurden (1) . Im Publikum saß auch Paul Kaiser, Kurator der Ausstellung „Boheme und Diktatur in der DDR“, die damals gerade im Deutschen Historischen Museum zu sehen war. Da während des Podiumsgesprächs diese Ausstellung immer wieder etwas kritisch erwähnt und die nicht-offizielle Kultur ernsthaft und mit Respekt diskutiert wurde, platzte Kaiser – nachdem die Diskussion auch fürs Publikum geöffnet wurde – als erster mit einem etwas aufgeregten Beitrag heraus. Im Kern sagte er Folgendes – als eine Art Fazit eines Experten (wörtlich vom Band zitiert): “Was bleibt ästhetisch von dieser Kultur? Wenn man sich die großen Ausstellungen ansieht, dann bleiben vor allem die Leute, die gegangen sind. Das sind Gerhard Richter bis Einar Schleef, das sind Penck bis Durs Grünbein letztlich; oder Via Lewandowski. Das sind die Sachen, die Sie heute in den großen Ausstellungen finden. Und es bleibt die kühle Welt des Solitären: von Gerhard Altenbourgh bis Carlfriedrich Claus.“
Vom Podium aus wurde ihm daraufhin vorsichtig-geduldig und eher defensiv widersprochen, leider aber nur auf Umwegen und nicht grundsätzlich; und auf die Heftigkeit und nicht leicht zu durchschaubare Ungerechtigkeit seiner Attacke reagierte niemand wirklich adäquat. Man war durch seine längere und mit Namen und Fakten angereicherten Rede auch etwas eingeschüchtert und hatte nicht gleich brauchbare Gegenargumente parat. Dank seiner akribischen und breitangelegten Vorarbeiten (2) zu der Ausstellung war Paul Kaiser nämlich ein einigermaßen gut informierter Zeitgenosse geworden. Ich konnte ihn dann zwar bald mit einigen Argumenten und Namen etwas einschüchtern, musste mir aber später leider eingestehen, dass er mit seiner Einschätzung doch nicht nur Unrecht hatte. (3)
An erster Stelle konnte ich Bert Papenfuß anführen, der meiner Meinung nach aus völlig außerkünstlerischen Gründen – trotz seiner enormen Begabung – heute nicht den Bekanntheitsgrad besitzt, der ihm zustünde. So wie nämlich Papenfuß auftritt, wie er sich in schwarzes Leder kleidet und einpanzert, so wie sein zerknittertes Gesicht manchmal aussieht – so kann er der literarischen Öffentlichkeit nicht gefallen, so kann er nicht ohne weiteres Begeisterung auslösen. Seine provozierend-brutalen Spracheskapaden gehen in ihrer gezielt auch den Kulturbetrieb ablehnenden Radikalität sehr weit und können und wollen kein Wohlwollen ernten; anders als Durs Grünbein, der sich zur ernsthaften Akzeptanz ganz anders eignet.
Und ich habe im Laufe der abendlichen Kontroverse zum Glück spontan benennen können, was an Paul Kaisers Meinung grundsätzlich auch noch nicht stimmte: Seine Bewertung richtete sich nach rein kommerziellen Kriterien und war (neu)opportunistisch, strikt am Kunstmarkt orientiert, obwohl er als Kurator gerade dieser Ausstellung des eher Randständigen mehr Achtung vor der kommerziell nicht kompatiblen, nicht offiziösen Kunst hätte gewinnen können. Aber auch wenn ich später mehr über die Hintergründe seiner Haltung erfuhr (4) und noch weitere Namen zusammentragen konnte, die die Einseitigkeit seiner Aufzählung deutlich machten (5) , musste ich ihm – wie gesagt – nach und nach teilweise auch recht geben.
Paul Kaiser, der ein bestimmtes Problem zwar benennen, es aber nicht wirklich deuten und klären konnte, steht mit seiner Anschauung nicht allein. Auch Thomas Wohlfahrt, der Leiter der literaturWERKstatt berlin, wundert sich beispielsweise über Bert Papenfuß, dass dieser nach der Wende nur in seinem Kiez stecken blieb – und nicht wie zum Beispiel Durs Grünbein in die USA, in die Welt aufbrach. Und grübelt bei persönlichen Gesprächen am Rande darüber nach, wieso aus der damaligen „bunten“ Szene so wenig geworden sei. Ein reines „Kiezproblem“ wird es meiner Meinung nach aber wohl nicht sein. Dieser Text will sich mit dieser Erscheinung und Fragestellung etwas gründlicher beschäftigen.
Eingangs möchte ich noch ein mögliches Missverständnis ausräumen: Dass nicht alle Kunstmacher aus einem breiteren Umfeld bekannt und erfolgreich werden können, ist eine Selbstverständlichkeit – dies werden immer und überall nur einige wenige. Zu den Schreibenden der sogenannten Szene gehörte damals auch der aus allen einschlägigen Kneipen der Stadt bekannte Lothar Feix; der bekennt heute in einem Interview (6) sympathisch und klar: „Wenn man keine Lust hat, ordentlich arbeiten zu gehen, denn muss man nach außen hin seine Existenz in einer Form legitimieren. Da ist das Dasein als Schriftsteller immer noch am angenehmsten. Ich selbst würde mich als langzeitarbeitslosen Ge-legenheitsautor bezeichnen.“
Dass Lothar Feix nicht weiter bekannt wurde, sollte niemanden verwundern – dazu besaß er vielleicht einfach nicht genug Ehrgeiz und rauchte zu stark betäubende Zigarillos. Dass aber beispielsweise aus dem über all die Jahre ausgesprochen produktiven und von allen aus diesem Kreis eindeutig begabtesten (7) Bert Papenfuß „nichts geworden sei“, ist schon ein Phänomen. Daneben ist der Fall Stefan Döring viel klarer. Für Dörings außergewöhnliche Ansprüche an den reinen und zweckfreien Sinn seiner Arbeit, für seine klaren Ansprüche an die Autonomie seiner anspruchslosen dichterischen Existenz gab es in dieser neuen Gesellschaft einfach keinen Platz. Dies erkannte er sofort nach der Wende. Er hörte auf zu schreiben, machte eine Kneipe auf und verzichtete auf jegliches Verdienen und Kräftemessen im Literaturbetrieb.
Der Eindruck, dass „aus uns nichts geworden ist“, ist auch deswegen nur partiell wahr, weil dabei nur ein Teil des Kulturgeschehens wahrgenommen wird. Aus uns ist eben das geworden, was aus uns zu DDR-Zeiten auch werden sollte: Kunstmacher im Unterholz und in Randgebieten. So haben wir uns damals mehr oder weniger freiwillig positioniert – auch wenn dahinter ganz andere (wahrscheinlich eher unrealistische) Ambitionen und Zukunftspläne gelauert haben sollten.
Wenn man sich den heutigen Zustand der „Szenerie“ anschaut, müsste folgende nüchterne Generalisierung erlaubt sein: ALLES IST BEIM ALTEN GEBLIEBEN. Damals befanden sich die sogenannten Prenzlauer-Berg-Autoren außerhalb des offiziellen Geschehens, heute sind sie am Rande oder unterhalb der Schwelle, an der die großen oder größeren Verlage sie hereinzubitten gewillt sind. Nach der Wende schien sich die Geschichte also fast nahtlos fortzusetzen, der alte Stand der Dinge sich neu zu konstituieren. Aber dies ,gelang‘nicht dank oder durch Aktivitäten, die gezielt restaurativen, nostalgischen Charakter gehabt hätten oder direkt auf das Konservieren der Geschichte oder deren Fortsetzung unter neuen Bedingungen ausgerichtet gewesen wären, auch wenn es auch solche gab und gibt (8) . Die alt-neue Situation hat sich auch für diejenigen Autoren wiederhergestellt, die aus diesem Kreis durchaus hinauswollten und gegen einen Erfolg beziehungsweise das Ankommen in der Welt des großen Literaturbetriebs nichts einzuwenden hätten. Es ist gewissermaßen schon eine beeindruckende (Negativ-)Leistung. Aber wie haben wir sie vollbracht? Leider muss ich hier etwas psychologisieren: Vieles, was in diesem Winkel der DDR und dann in den neunziger Jahren passierte, hängt meiner Meinung nach ganz eng mit den persönlichen Dispositionen der einzelnen Akteure und ihren Prägungen durch den totalitären Staat zusammen.
Bei meinen Gesprächen, die ich von Januar bis März 2000 geführt habe, wurde mir auch einiges über die damalige Zeit deutlich, was ich früher nicht ausreichend beachtete: Generell hatten die meisten Autoren ursprünglich nichts dagegen, in der DDR zu publizieren; und fast alle haben es wiederholt auch versucht. Nur ausnahmsweise standen manche, die seit ihrer Jugend als Staatsfeinde, Querulanten oder „Geisteskranke“ galten, von vornherein vor geschlossenen Türen. Solche „Elemente“ wurden sowieso von der Stasi bearbeitet – und diese konnte alle Publikationsversuche natürlich rechtzeitig verhindern. Ansonsten waren es aber eindeutig die Texte, die den Ausschlag gaben, bestimmte Jungautoren nicht zu drucken.
Zu DDR-Zeiten war es kein Zufall, ob sich jemand in den reglementierten Literaturbetrieb begab oder ob er sich irgendwann außerhalb von diesem eingefunden hatte. Wann oder wie die Entscheidung für oder gegen eine Teilnahme am offiziellen Geschehen fiel, ist aber – wie mir bei meinen Interviewpartnern aus der ehemaligen Szene klar geworden ist – nicht eindeutig auszumachen, nicht leicht zu verallgemeinern. Es gab keine rigorosen Weichenstellungen, keine großen Streits mit Lektoren oder Konflikte auf einer anderen Ebene der (Zensur-)Hierarchie. Die Entscheidungsfreiheit, offiziell anzukommen, hatte man offenbar gar nicht, weil diese Entscheidungen längst schon beim Schreiben – also alles andere als nur rational – gefallen waren. Die Texte sind eben, denke ich, so geworden, dass sie einfach ohne weiteres nicht angenommen werden konnten; letztlich auch nicht angenommen werden SOLLTEN. Die Einstieg-Texte, die die jungen Dichter vorlegten, wurden – den Anfängern gegenüber war man eben noch etwas toleranter – in der Regel erst einmal akzeptiert; ihre Radikalität, Düsterkeit oder Sprengkraft fielen dann aber sofort unangenehm negativ auf, wenn die Jungdichter ihren Weg fortsetzten und die subtil geforderte Anpassungsleistung nicht erbrachten. Und ein Sensorium für das kulturelle Klima und die Erwartungen an der offiziellen Front kann man bei künstlerisch ambitionierten jungen Menschen schon voraussetzen; sie spürten also mehr oder weniger deutlich, was sie taten.
Der Weg in die offiziellen Verlage war aber – wie gesagt – in den achtziger Jahren grundsätzlich auch für etwas unkonventionell daherkommende junge Schriftsteller erst einmal nicht versperrt; spürbar gelockert hat sich die Lage besonders ab 1985. Die Entscheidung für diesen Weg oder eben für einen Ausstieg stand jedem offen – diesen Ausstieg direkt oder indirekt zu forcieren, war dann allerdings relativ einfach. 1981 konnte ich in der Wohnung von Ekkehard Maaß (in der auch Sascha Anderson residierte) noch ein einziges Mal den Liedermacher Hans-Eckhardt Wenzel erleben, der – angewidert vom Schweriner FDJ-Poetenseminar – bei einer Gruppenlesung unbedingt ein Lied über diese alljährliche Gruselveranstaltung loswerden wollte. Es war aber wahrscheinlich das letze Mal, dass er da war. Wenn er öfters aufgetaucht oder aufgetreten wäre, hätte sich die Sache für ihn irgendwann entschieden. Er hat sich aber doch lieber auf seine offizielle Karriere mit Steffen Mensching konzentriert und ward in diesem Kreis nie wieder gesehen.
Der Zugang zu uns, in dieses Halb-Abseits wurde niemandem grundsätzlich verwehrt; wenn jemand seine anfängliche Scheu ablegte und wirklich dabei sein wollte, konnte er das auch. Gert Adloff beispielsweise, der zu den offiziell agierenden Autoren zählte, ließ sich immer wieder mal blicken, und wurde nicht abschätzig, sondern mit Respekt behandelt. Man war eher froh und fühlte sich geehrt, dass sich jemand, der an unseren Aktivitäten und der Produktion Interesse hatte, auch direkt informierte. Adloff war 1984 sozusagen als Gast auch bei der berüchtigten „zersammlung“ in der Lychener Straße dabei. Ähnlich frei bewegten sich in unseren Kreisen der Schriftsteller Bernd Wagner oder die Dramatiker Lothar Trolle und Jochen Berg.
Es gab zu DDR-Zeiten aber natürlich auch Momente, an denen eindeutige Entscheidungen getroffen werden mussten: Die Beteiligung an der Anthologie „Berührung ist nur eine Randerscheinung“ (9) markierte einen solchen. Für Autoren, die in der DDR publizierten oder publizieren wollten, hätte die Teilnahme an ihr – dachte man jedenfalls, diese Drohung wurde auch direkt ausgesprochen – ein Ende der Akzeptanz, das Ende der „Zulassung“ bedeutet. Nach einer Drohung des Aufbau-Verlages, ihre Texte nicht mehr zu publizieren, zogen Kurt Drawert und Thomas Böhme ihre Beiträge aus der Anthologie zurück und gingen ihren offiziellen Weg. Michael Wüstefeld gab nicht nach – und konnte trotzdem weiter verlegen. Für mich sorgte diese Veröffentlichung endlich für klare Verhältnisse, und ich war froh, wieder Ruhe vor problematischen Entscheidungen zu haben. Nach dem Abdruck dreier Texte in der „Auswahl ’84“, zu der ich mich lustlos von Richard Pietraß hatte überreden lassen, wusste ich dann, dass man mich wieder den „bösen Jungs“ würde zuordnen müssen.
Bezeichnend für die Situation in den Verlagen und auch für die doch starke Angst (Mitte der achtziger Jahre!, der Janka-Prozess lag schon fast dreißig Jahre zurück), die es immer noch im Zusammenhang mit nicht-angepasstem Verhalten von Autoren gab, war für mich ein Gespräch mit dem durchaus anständigen Aufbau-Lektor (SED-Mitglied) Hanns Kristian Schlosser. Als er von mir nebenbei erfuhr, dass ich an der Anthologie bei Kiepenheur & Witsch beteiligt bin, ist er regelrecht blass geworden und dankte mir: „Gut, dass ich das weiß, gut, dass Sie mir das gesagt haben …“ Er hätte mich ansonsten sicher für die „Auswahl ’86“ empfohlen, da dies der übliche Weg für gefügige Nachwuchsautoren war: Zweimal „Auswahl“ – und dann ein eigenes „Bändchen“. Und er hätte durch sein Eintreten für mich einen schweren Fehler begangen – er hätte entweder als Ahnungsloser dagestanden oder fortan – wenn man ihm sein Nichtwissen nicht geglaubt hätte – vielleicht als ein gefährlicher Provokateur gegolten. Ich habe noch in Erinnerung, wie ich mich nach diesem Gespräch fühlte – also an meine damalige Haltung dem Kulturbetrieb gegenüber: Ich freute mich, Herrn Schlosser Angst eingejagt zu haben. Wenn ich an solche Momente denke, scheint mir die psychologisierende Herangehensweise bei der Behandlung unseres Positionierungsverhaltens ganz und gar legitim.
Man bezog aber nicht nur aus einem gewissen negativen Image positive ‚Wichtigkeitsgefühle‘, also daraus, wenigstens kulturpolitisch einen gemäßigten Widerstand zu leisten; man war froh (ich spreche jetzt z.B. von mir), dass man mit dem, was man schrieb, auch sonst – das heißt konkret: formal, ästhetisch – nicht in die angelegten Schablonen passte. Auch ohne die erwähnte Westveröffentlichung hätte man mich und viele andere Mitte der achtziger Jahre höchstwahrscheinlich nicht in offizielle Programme der Verlage wirklich integrieren wollen und können. Meine aggressiven seriellen Texte, die ich bei Wohnungslesungen oder in den Kirchengemeinden schreiend und quälend lange bis zum Heiserwerden vortrug, passten ganz und gar nicht zum DDR-Idyll – und sollten es auch nicht. Genauso wie die durch den Punk geprägten Aktivitäten von Papenfuß und Döring. Das eine kam dann aber eben zum anderen: Auch durch diese Art des Auftretens (und die Wahl der Orte) und durch den vorwiegend „schlechten Umgang“ mit ausgeprägt nicht-konformen Individuen setzte man gewisse Zeichen, mit denen man die entsprechenden Stellen auch gleichzeitig vor sich selbst warnte. Ansonsten waren meine Texte damals – und auch die meisten der anderen aus diesem Umkreis – apolitisch beziehungsweise von der konkreten DDR-Realität so weit abgerückt, dass sie – was den Inhalt betrifft – durchaus hätten gedruckt werden können.
Die Erfahrungen, die man im Ostblock damals von klein auf sammeln konnte, prägten unausweichlich jeden Einzelnen; und sie verstärkten Eigenschaften, die man in solchen Gesellschaften auch unbedingt brauchte. Man schottete sich möglichst von allem ab, was Verlust an Autonomie mit sich gebracht hätte; man versuchte, ganz bestimmten Schmutz nicht an sich heranzulassen, sich in verbiegende Strukturen nicht einbinden zu lassen. Und obwohl man den Kontrollmechanismen des Staates nirgendwo ganz entkommen konnte – wie man jetzt weiß und wie man unterschwellig sicher damals auch spürte –, hatten die entwickelten Abwehrstrategien eindeutig ihren Sinn. Zu diesen Prägungen kam noch hinzu, dass man sich auch von der Generation der älteren großen Prosaautoren und mit Ideologiekritik beschäftigten Dichter-Denker unbedingt absetzen wollte. Und man war dadurch nicht nur in doppelter Hinsicht mit Rebellieren beschäftigt, man übte sich beim Schreiben gleichzeitig in einer Haltung, bei der eine gewisse provokative Ignoranz dem (braven DDR-)Leser gegenüber auch Sinn machte – am Ende dann aber leider auf die Missachtung der Leser überhaupt (diese Meinung vertritt auch Thomas Brussig), im Extremfall sogar auf ihre Verachtung hinauslief. Dieser Entwicklung haftet – von heute aus gesehen – schon etwas Tragisches an, da man nach einem Jahrzehnt (und mehr) der Rebellions-Pflege und ihrer Vervollkommnung die eingeübten Kampf- und Abwehrstrategien wirklich nur ganz schwer ablegen, sich von ihnen ganz schwer trennen kann. Diese Prägungen verfestigten sich zudem gerade in den entscheidenden Jahren des kreativen Aufbruchs – und man nahm sie notgedrungen mit in die neue Gesellschaft der Bundesrepublik.
Es kann nämlich kein Zufall sein, dass sich die Nach-Wende-Bücher aller wichtigen Autoren des Prenzlauer Bergs nicht nur NICHT VERKAUFT haben – sie sind zudem SCHWER LESBAR BIS UNGENIESSBAR, obwohl man sich mehrheitlich von der konsumunfreundlichen Lyrik abwandte und Prosa schrieb. In diesem Sinne ist auch der Titel dieses Beitrages zu verstehen. Einen gewissen Anteil an der Misere hat zwar auch die Wahl der Verlage in der Wendezeit, der Kern des Problem liegt aber eindeutig woanders. Denn auch diejenigen Autoren wie Bert Papenfuß oder Detlef Opitz, die beim Steidl-Verlag untergekommen sind, bekamen bei der Rezeption im Laufe der neunziger Jahre vergleichbare Probleme.
Sehen wir uns Bücher und den Nachwende-Werdegang einiger Autoren kurz an:
Ulrich Zieger hat sich durch die Zusammenarbeit mit Wim Wenders an dem Film „In weiter Ferne, so nah“ und auch durch einige Theaterinszenierungen einen Namen gemacht und hätte sicher die Möglichkeit gehabt, sich einen seriösen und unbelasteten Verlag zu suchen. Er ist aber zum Druckhaus Galrev gegangen, obwohl dieser Verlag nach den Enthüllungen über Sascha Anderson eine völlig verrufene Adresse war – und darüber wusste er ziemlich genau Bescheid, obwohl er weit weg in Südfrankreich lebte. Warum geht man zu einem Verlag mit einem nicht nur schlechten, sondern fürs Image geradezu verheerenden Ruf? Aus Trotz (jetzt erst recht!)? Oder vielleicht aus Bequemlichkeit, weil dort ein Freund (Egmont Hesse) bekanntlich „schöne Bücher“ macht? Aber die – sicher nicht als eine solche geplante – Selbstsabotage geht noch weiter. Die Typografie des Buches „Der Kasten“ (10) , die Sascha Anderson zu verantworten hat, ist ziemlich misslungen, obwohl Anderson an sich kein unbegabter Layouter ist. Viele meiner Gesprächspartner sprachen über ihre Qualen beim Lesen dieses Buchs – Wüste aus Druckerschwärze, unmöglicher, viel zu breiter Satzspiegel (die Zeilen versenken sich tief im Bund), und die Fettschrift (Garamond Bold Condensed) drängt sich schon nach wenigen Seiten als ein Problem auf … Nach seiner Meinung gefragt, meint Zieger, er wollte das Buch genauso haben, wie es geworden sei. Damit hatte er sich aber einen sehr schlechten Dienst erwiesen – und diese Einstellung geht in meinem Verständnis auf eine in Eigenverantwortung herbeigeführte Selbstschädigung hinaus.
Der Text des Buches ist dunkel schwebend, fast mystisch unkonkret, schwerfällig – oder besser gesagt: trotz starker Wehmutsgefühle seltsam emotionsarm. Und die Handlung so weit verschleiert (in eine stark vernebelte Vergangenheit transponiert), dass man oft nicht wirklich versteht, was hier verarbeitet oder worauf Bezug genommen wird. Unter Umständen könnte es vielleicht auch um die Stasi und um Sascha Anderson gehen, muss es aber nicht – wer weiß. Humor bietet der Roman auch nicht an und verweigert sich – aber das verstehe ich an sich nicht als einen Vorwurf – jeglichem einladenden Erzählfluss. Trotz wohlwollender Kritiken und Bemühen etlicher Freunde, dem Buch zur mehr Bekanntheit zu verhelfen, erweckte „Der Kasten“ kein breiteres Interesse.
Detlef Opitz ist ein ganz anderer Schreiber als Ulrich Zieger. Und obwohl Opitz einen anderen Weg gegangen ist, ereilte sein Buch leider ein ähnliches Schicksal. Der Kern von Opitz‘ Roman „Klio, ein Wirbel um L.“ (11) bildet eine eher essayistische Arbeit über Martin Luther, die er schon zu DDR-Zeiten schrieb und in der Zeitschrift Sinn und Form auch veröffentlichen wollte. Nach einer längeren Pause setzte er sich nach der Wende mit unglaublicher Ausdauer und beeindruckender Akribie nochmals daran – und vollendete das Projekt in einer sympathisch-weltfremden Manier. Die Recherchen, die Quellen- und Sekundärliteraturforschung zu seinem Thema hätten sicher manchen Historiker überfordert. Dies alles ist zu bewundern und ihm als eine wirkliche Leistung gutzuschreiben. Was hat aber der Leser davon? Dieser ist in der Regel kein Luther-Forscher und kann sich nicht wie ein solcher still amüsieren, wenn mit dem Quellenmaterial souverän herumgespielt wird, wenn mit Augenzwinkern Dinge erfunden, Tatsachen weitergesponnen werden, Quellen gegeneinander ausgespielt werden. Der Leser wird schlicht und einfach überfordert – und der Humor des Textes beziehungsweise die erfrischende intellektuelle Frechheit der gesammelten Angriffe halten sich auf den über 400 Seiten des Buches sehr in Grenzen. Der Steidl Verlag hat – auch an der Werbung – nicht gespart und das Buch mit viel Aufwand auf den Markt gebracht, es wurde zudem viel und fast durchweg positiv rezensiert. Und viele lesende Literaten waren von Opitz‘ Text – wie man so hört – auch beeindruckt. Meiner Meinung nach markiert dieses Buch aber leider ebenfalls eine typische Anti-Erfolgstat.
Eine konsequente Strategie, die übersät ist von solchen Taten, verfolgt auf seinem Weg auch Bert Papenfuß. Man kann sich in der bundesdeutschen Gesellschaft zwar fast jede politische Haltung leisten, diese muss aber einigermaßen reif und zeitgemäß sein, wenn man sich nicht aus allen möglichen Zusammenhängen hinauskatapultieren möchte. Und Papenfuß hätte vielleicht auch sein Auftreten für seinen ihn immer wieder unterstützenden und auch ihn früher bespitzelnden Freund Alexander Anderson nicht ganz schwerwiegend schaden müssen. Dagegen geht aber sein links-radikales Auftreten eindeutig zu weit, wirkt (und ist auch) etwas pubertär, schreckt als unberechenbar ab – obwohl es einfach nur ein bisschen irrational und für viele nicht leicht nachzuvollziehen ist. Papenfuß verhält sich und handelt so, als ob er sich überlegt hätte, wie weit er gehen muss, um von der Öffentlichkeit unumkehrbar abgelehnt zu werden. Als ich ihn einmal für einen psychoanalytischen Kongress als DEN begabtesten ostdeutschen Dichter empfahl, fairerweise aber hinzufügte, er positioniere sich „links von der PDS“, wog seine Begabung, die ich gleich mit ausgewählten und die Veranstalter sofort begeisternden Gedichtbeispielen belegt hatte, ihre Bedenken nicht auf. Aber auch auf einer alles andere als offiziösen Ebene wirken Papenfuß‘ Lyrik und sein Auftreten provozierend bis abstoßend. Als ich nach der Wende meine neuen West-Freunde oder West-Bekannten zu Lesungen mitnahm und ihnen den ‚Meister‘ unserer Subwelt vorführte, wollte in ihnen zu meiner Enttäuschung leider gar keine Begeisterung aufkommen. Ganz verstanden habe ich es zwar nicht, ein Grund dafür kann aber sein, dass ich im Gegensatz zu ihnen unter die etwas aufgesetzte kraftmeierische Schale schauen konnte. Die Leute, die ihn nicht kannten, scheiterten an den gezielt gewählten, störenden Äußerlichkeiten – eben auch an dem anstößigem Äußeren seiner Texte, an der Art des Vortrags. Der Verleger KD Wolf meinte nach einer Lesung in Frankfurt am Main einmal: „Ich kann diese pubertäre Setzt-euch-Mädels-auf-den-Arsch-Haltung nicht mehr ertragen.“ Das, was in den Gedichten von Papenfuß an Reichtum und souveränem Können steckt, wurde oft wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen. Und dahinter muss sich – davon bin ich fest überzeugt – auch so etwas wie eine (Anti-)Verkaufsstrategie verbergen. Als ob es unanständig, anstößig wäre, in dieser ‚Geldgesellschaft‘ positiv anzukommen. Sein Motto könnte – in seiner Art – zum Beispiel „ANKOMMEN DURCH ANKOTZEN“ lauten.
Symptomatisch im Zusammenhang mit meinem Thema ist auch das leise und ehrliche Buch von Andreas Koziol ‚Lebenslauf‘ (12). Man erfährt darin zwar einiges über Koziols Kindheit, der Wille zur konkreteren Schilderung seiner Vergangenheit oder seiner Erfahrungen schwächt sich aber sukzessive ab – und Koziol begibt sich lieber in Gefilde, in denen es ganz subtil, leider aber wenig spannend zugeht. Vorsichtig werden dann noch einige Dichterfreunde aus der damaligen Szene gestreift, viel mehr aus diesem Umfeld – leider, leider – aber doch nicht preisgegeben, obwohl sich Koziol ansonsten sehr kritisch und konkret zu diesen Dingen, zu unserer Vergangenheit äußert – wie zum Beispiel bei unserem vor kurzem geführten Gespräch.
Auf den Büchern der Prenzlauer-Berg-Autoren liegt meiner Meinung nach der Fluch der Verweigerung. Mein Eindruck: MAN WILL SICH IM GRUNDE NICHT MITTEILEN. Trotz diffuser, gegenläufiger Wünsche bringt man gewisse Offenbarungen doch nicht über die Lippen; bezeichnenderweise berühren aber trotzdem fast alle der genannten Arbeiten unsere gemeinsame Ostberliner Zeit und zerren einige wichtige Figuren von damals ans (Dämmer)Licht. Unser literarisches Scheitern in diesem Punkt kann man wirklich schwer nur durch unzureichende Begabung, fehlendes Können oder durch so etwas wie ‚Kiez-Enge‘ erklären – zumal es dann das Scheitern eines ganzen Spektrums von kreativen Literaten sein müsste. Im übrigen hat auch Peter Wawerzinek in seinem 1995 im Transit-Verlag erschienenen Buch „Mein Babylon“ versucht, die Prenzlauer-Berg-Szene aus seiner Sicht zu schildern; ein Gebilde, in das er sich nie wirklich integrieren konnte und es nach vielen überheblichen Zurückweisungen seiner Person als Mensch und Künstler auch nicht mehr wollte (13) . Das genannte Buch enthält neben rührenden persönlichen Stellen, die auch literarisch ausgezeichnet sind, viel zu viele oberflächliche und nicht wirklich durchdachte Passagen – und besonders schwach sind gerade auch diejenigen, in denen er über die damalige Szene spricht. Und auf die wartete ich so ungeduldig und voller Hoffnung. Dass ein impulsiver, etwas chaotischer und nicht ganz berechenbarer Schreiber wie Wawerzinek es im Literaturbetrieb heute nicht leicht haben kann, dürfte niemanden verwundern (dass er es in der DDR mit seinem auf Provokation angelegten Verhalten äußerst schwer hatte, versteht sich von selbst). Selbst wenn er im Laufe der neunziger Jahre relativ breitgefächert beachtet und gewürdigt wurde, widersprechen seine Erscheinung und sein Weg meinen Thesen in keiner Weise. Eine gewisse Selbstsabotage hat Wawerzinek ganz offen und transparent schon immer betrieben.
Ein Gegenbeispiel zu der ‚unsererseitigen‘ Produktion legte vor kurzem Wolfgang Hilbig vor. Sein großartiger, brutal-ehrlicher Roman „Das Provisorium“ musste – und das merkt man ihm auch an – so geschrieben werden, wie er es tat; und Hilbig hat dabei in keiner Weise „den Markt bedient“, er hat mit dem Buch in keiner Weise die Kritik zufriedenstellen wollen. Er hat sich einfach sehr klar, mehr als deutlich und in unheimlich starken Bildern MITGETEILT. Dabei gilt er sicher nicht als ein gefälliger Autor; oder als leichtfüßig-witziger (so manche Vorwürfe) wie Thomas Brussig.
Und noch eine Beobachtung, die das Gesamtbild gut ergänzt: Auch ein Autor wie Reinhard Jirgl, der bei Hanser publiziert, erschwert sich unabbringlich den Weg zu den Lesern durch mittelschwere Störmanöver. Jirgl gehörte in den damaligen Ostberliner Zusammenhängen zwar nicht dazu, in seiner Radikalität und seinem Abseitsstehen zu DDR-Zeiten reiht er sich aber doch gewissermaßen in diese ein. Nicht zufällig erschien sein erstes Buch beim Aufbau-Verlag in der Reihe „Außer der Reihe“, in der auch unsere Bücher publiziert wurden. Heute kann er – was meine Selbstsabotage-These stützt – von seiner seltsamen, nicht viel aussagenden experimentellen Orthografie nicht lassen, die auch wohlwollende Leser und Kritiker als ziemlich störend empfinden.
Jetzt noch zu mir. Ich habe mich nach einem Konflikt mit Sascha Anderson (1986; der Anlass war eher krimineller Natur) und nach meinem Angriff gegen die Szene in der Zeitschrift Ariadnefabrik im Jahre 1987 von dieser Gemeinschaft mehr oder weniger verabschiedet. In der Hoch-Zeit der Stasi-Enthüllungen (1991 – 1993) war ich der einzige, der die Anschuldigungen von Fuchs und Biermann sofort glaubte. Ich konnte diese nämlich mit eigenen Vermutungen oder Erinnerungsbruchstücken problemlos in Einklang bringen – und habe über die Problematik der Stasi-Verstrickungen, als die entsprechenden Akten auftauchten, auch ausführlich geschrieben (14). Der Bruch mit diesem Old-Boys-Network schien endgültig, nicht nur weil ich nun als Nest-beschmutzer galt, sondern wahrscheinlich schon deswegen, weil ich mich mit der „(West)Journaille“ überhaupt einließ. Es folgten dann auch scharfe persönliche Auseinandersetzungen mit Bert Papenfuß. Trotzdem musste ich mir kürzlich eingestehen, dass ich trotz aller Absetzversuche und -bewegungen innerlich doch noch dazu gehöre – heute noch. Einiges kann ich zum Thema dieses Aufsatzes also am Besten gerade an meiner eigenen Entwicklung schildern.
Etwa 1986 begann ich ohne jeglichen ‚Druck des Marktes‘, an einem großen Prosatext über meine Kindheit zu arbeiten; weiter mit der Sprache zu spielen und zu experimentieren, ging nicht mehr – dieses Feld empfand ich für mich als abgearbeitet und erschöpft. Ich bemühte mich, mit der neuen Prosa auch literarisch aus dem damaligen künstlerischen Umfeld hinauszutreten. Diese Prosa sollte aber trotzdem wieder nicht nur schockieren, sondern auch formal provozieren – sicher aus ‚eingefressener‘ Vorsicht, bloß nicht irgendwelche Konventionen zu bedienen; aber auch aus dem legitimen Bedürfnis heraus, etwas Eigenes, Originelles auszuprobieren. Dieser etwas seltsam aussehender Prosatext, der aus streng gruppierten und numerierten Sätzen besteht, ist in den folgenden Jahren zwar weit gediehen, beendet ist er aber immer noch nicht. Kurioserweise hätte ich heute wieder Angst, diese Prosa, die sich dem geforderten Erzählen vehement verweigert, den Verlagen anzubieten.
1996 – also zehn Jahre nach dem ersten großen Prosa-Versuch – begann ich, einen neuen „Roman“ zu schreiben; ich arbeitete in den folgenden Jahren mit viel Begeisterung und Akribie daran, amüsierte mich köstlich und hatte dabei das (irrtümliche) Gefühl, dass es auch Lesern so ergehen müsste. Das Buch ist 1999 fertig geworden, publiziert wird es höchstwahrscheinlich aber nicht. Von den Verlagen kamen nach und nach nämlich nur Absagen, in denen meine literarische Leistung in der Regel zwar gewürdigt, in denen aber trotzdem klargestellt wurde, dass man für den Text leider überhaupt keine „Veröffentlichungsmöglichkeiten im Verlagsprogramm“ sehe. Als die letzte und sehr gut begründete – trotzdem aber freundliche und wohlwollende – Absage eingetroffen war, habe ich die Hoffnung endlich aufgegeben; und musste nach einem Jahr der Ungewissheit meine Trauerarbeit beenden und noch einmal gründlich nach den Ursachen dieser kleinen Arbeitskatastrophe suchen.
Über diesem Monolog von etwa 350 Seiten liegt, denke ich, offenbar auch ein – also der gleiche – tief verwurzelte Fluch, wie ich ihn weiter oben beschrieben habe; und dies obwohl ich persönlich absolut keine ideologischen Vorbehalte gegen die uns geschenkte Gesellschaftsordnung und kein grundsätzliches Vorab-Misstrauen gegen den Literaturbetrieb hatte. Und dieser Fluch verbindet mich nun mal eindeutig mit den anderen Autoren aus den alten Zusammenhängen; meine Zugehörigkeit zu der widerborstigen Gemeinschaft aus den achtziger Jahren habe ich also doch nicht hinter mir lassen können.
Beim Schreiben des „Romans“ habe ich offenbar streng darauf geachtet, möglichst keine vordergründigen Bedürfnisse zu befriedigen oder ‚plumpe‘ Erwartungen zu erfüllen (keine Geschichten!, bloß nicht erzählen!), habe darin so sperrige und abstoßende Hürden aufgebaut und die potenziellen Leser durch den zwanghaften Erzähler so quälen lassen, dass dieser Text, zu dessen Qualitäten ich nach wie vor stehe, wirklich eins geschafft hat – er ist sehr schwer lesbar. Und er ist eher – und das scheint eben seine nächste Schwäche zu sein – doch so etwas wie ein „Wohnzimmertext“ für Insider der damaligen Prenzlauer-Berg-Szene geworden; und ich sitze dort eben wieder mitten drin. Die Eingeweihten von damals könnten den Text sicher einigermaßen genießen, weil sie die darin verschrifteten Personen problemlos entschlüsseln würden. Für Außenstehende scheint sich der Text aber nicht zu öffnen, egal wie ich es mir auch vorgestellt und gewünscht habe.
Dass ich etwas nicht leicht Lesbares schrieb, wusste ich von Anfang an, auch dass ich die Leser teilweise auch ärgern wollte, war mir bewusst; und dass ich gegen für das Funktionieren von Prosa notwendige Konventionen anschrieb, war auch klar – im Text habe ich den „Erzähler“ dies thematisieren lassen: „ich höre jetzt schon einige kluge Leute sagen, dass … man auf so eine direkte Art und Weise möglichst nicht versuchen sollte, Literatur herzustellen … der Text verletzt – das ist jedenfalls wahr – alle möglichen Regeln … ich bin schon wieder dabei, kurze beziehungsweise mittellange Sätze, die von vornherein jeden Erzählton torpedieren, punktlos und anfangslos untereinanderzusetzen … und ich werde mir dann schlicht und einfach nur zuflüstern können: Pech gehabt, sinnlos Zeit verschwendet, zweck- und honorarlos Arbeitskraft vergeudet …“ Das Scheitern des Vorhabens habe ich also zwar halbwegs im Scherz vorausgesehen, einige der Folgen der selbstgemachten Probleme einkalkuliert; dass ich aber zu weit ging und genauso wie meine Kollegen eine massive Selbstsabotage betrieb, ahnte ich letzten Endes doch nicht. Ich wollte das Buch natürlich publizieren, wollte nach einer längeren Pause eine größere, ausgereifte Arbeit vorlegen. Und in dieser auch einiges preisgeben und offenlegen – mich also MITTEILEN. Ein wirkliches Mitteilen war es aber leider wieder nicht. Und eine diesbezügliche Hemmung (verinnerlichter ‚Ehrenkodex‘?) scheinen wir alle zu haben. Unterm Strich habe ich nämlich – auch wenn ich teilweise viele ‚Interna‘ ganz gezielt ausplauderte – wie alle anderen ‚die Großfamilie‘ vor tieferer Einsicht von außen geschützt. Zwar sollte durch das mitunter stark selektive ‚Preisgeben‘ von Nebensächlichkeiten und Banalitäten ein gewisser Mangel an Mysterien beschrieben werden und damit gleichzeitig der zwanghafte und naive Plauder-Georg indirekt charakterisiert werden, doch war es dann offenbar insgesamt – obwohl dies im Text eindeutig eine Funktion hatte – zu viel des Schlechten.
Unsere Schutzbedürftigkeit und Verwei-gerungshaltung zeigte sich deutlich gleich nach der Wende zum Beispiel auch im Umgang mit Westjournalisten. In meinem „Roman“ beschreibe ich eine Begegnung besonderer Art, bei der ein Schweizer Fernsehenteam die geheimnisumwitterte Literatengemeinschaft vom Prenzlauer Berg der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte; es war irgendwann im Winter ’89 /’90. Ekke Maaß organisierte umgehend ein abendliches Treffen – dieses endete aber in einer Katastrophe. Der Grund dafür, dass uns das Sprechen vor der Kamera schwer fiel, war aber nicht nur unsere Ungeübtheit; im Raum spürte man von Anfang an eine ganz starke Unlust, diesen Eindringlingen überhaupt etwas zu erzählen. Und wir haben es ihnen gleich anschließend auch gezeigt: Das Gespräch stockte und stockte, die meisten sagten überhaupt nichts oder nur etwas für die Weltöffentlichkeit nicht Brauchbares – wie ich auch; und unser aller Meister Papenfuß war nur mit der Liquidierung einer Whisky-Flasche beschäftigt – und schlief dann bei laufender Kamera irgendwann ein. Der Gesprächigste und an dem Abend Vernünftigste war unser aller Pseudotheoretiker und Stasi-Spitzel Reiner Schedlinski. Zum Glück war auch Elke Erb da, die sich die größte Mühe gab, auf ihre Art und Weise etwas deutlich zu machen. Doch durch ihre etwas komplizierte Denkweise verwirrte sie die netten Gäste eher. Ich versuchte dann wenigstens nachträglich, als die Kamera abgestellt wurde, mit den Schweizern ins Gespräch zu kommen und einiges wenigstens am Rande zu klären, uns zu erklären – und also wenigstens auf der privat-freundschaftlichen Ebene ein Stück unserer Ehre zu retten.
Diese Küchenszene bei Ekke Maaß, dieser katastrophische Einbruch der westlichen Welt in unsere ‚Privatsphäre‘ scheint mir für das hier behandelte Problem symptomatisch zu sein. Wir saßen da wie eine kaputte, längst zerstrittene Familie, die trotzdem auf keinen Fall gewillt war, ihre Geheimnisse nach außen dringen zu lassen. Und nicht nur, dass man in der Vergangenheit nicht gelernt hatte, sich gut zu managen, zu verkaufen; etwas widerstrebte uns daran grundsätzlich. In guter alter Tradition scheute man sozusagen von Anfang an die für die eigene Publicity nötige Öffentlichkeitsarbeit.
Dass aber „aus uns nichts geworden ist“ hängt natürlich auch ein bisschen mit der Wahl der Verlage nach der Wende zusammen. Nicht nur, dass die etwa gleichaltrigen und bereits publizierenden Autoren einen Vorsprung an Erfahrungen im Umgang mit Verlagen hatten, sie haben als die real existierenden Gegebenheiten akzeptierende Menschen ohne Umschweife ihre alten DDR-Verlage verlassen und sich in dieser günstigen Stunde an große Westverlage gewandt: Thomas Rosenlöcher ging zu Suhrkamp, Jens Sparschuh zu Kiepenheuer & Witsch.
Thomas Brussigs Weg aber zeigt etwas Anderes, Widersprüchliches auf. Brussig ist mit „Helden wie wir“ zu einem Verlag (Volk & Welt) gegangen, der in der Verlagslandschaft ganz unsicher dastand und im deutschsprachigen Raum kaum einen Namen hatte – sein Buch schaffte es trotzdem, ein Bestseller zu werden. Brussig, der ein ganz angenehmer und gar nicht überheblicher Mensch geblieben ist, sagt heute, wie froh er ist, dass die Wende für ihn rechtzeitig kam – ansonsten wäre er „sicher in den Prenzlauer-Berg-Umkreis geraten“. Angst machte ihm – er hat mir dies bestätigt – nicht so sehr die Vorstellung der nachträglichen Biografie-Schädigung durch unsere Top-Spitzel, sondern eher das voraussehbare Sich-Identifizieren mit einer Haltung, die sicher auch für ihn einen schweren Ballast fürs heutige Literatenleben bedeutet hätte. Nach der Wende wollte er einfach etwas schreiben, was er selbst auch gern gelesen hätte.
Auf der anderen Seite wäre es zu einfach und auch ungerecht, die offiziell publizierenden Autoren oder jeden, der sich sonstwo auf die Ebene des kommerziellen Betriebs begibt, als feige, angepasst, verlogen oder opportunistisch abzustempeln. Wenn man sich das fast immer nett strahlende Gesicht von Thomas Rosenlöcher ansieht und seine ehrlichen, nach der Wende erschienenen Schilderungen seiner Anpassungsqualen liest (15) , weiß man: So ist der Thomas eben; kein Kämpfer, kein Trotzkopf, stark harmoniebedürftig … Und er machte und macht eben seine Arbeit. Manche Autoren erzählen einfach gern Geschichten, weil sie erzählfreudige Menschen sind; und diese Geschichten werden dann auch gern gelesen – Jens Sparschuh zum Beispiel legte mit „Zimmerspringbrunnen“ ein witziges und gut lesbares Buch vor. Manche erzählen also, so wie sich andere mit gleichem Recht gegen das Erzählen sträuben und Texte schreiben, die sich gerade dieser Forderung – nicht nur der des Marktes – verweigern.
Ein Beispiel aus einem ganzen anderen Zusammenhang: Milan Kundera gehört international zu den bekanntesten tschechischen Schriftstellern. Im Land der Tschechen wird er aber eher belächelt – und nicht nur aus Neid wegen seines Erfolgs, sondern eher wegen der zweifelhaften, etwas anbiederischen Qualitäten seiner Prosa. Ich persönlich kann ihn auch nicht ohne Vorbehalte lesen; und sein durchsichtiges „Geschick“, sich beim Leser „einzukratzen“, stößt mir ausgesprochen unangenehm auf. Und was er außerdem dauernd macht, finde ich stark durchsichtig bis peinlich: Er versucht, jedem auch nur minimal gebildeten Menschen zu suggerieren, er beteilige sich beim Lesen seiner Prosa an einer hochwertigen künstlerisch-philosophischen Unternehmung. Ich weiß aber noch aus der Zeit, als er in der Tschechoslowakei lebte – und zwar von Menschen, die ihn gut kannten: So und nicht anders war er auch damals als Mensch, also im alltäglichen persönlichen Umgang, als er noch relativ unbekannt war – er vermittelte seinem Gegenüber immer konsequent und höchst liebenswürdig und überhöflich, ihn in dem Moment als den interessantesten Gesprächspartner weit und breit zu empfinden. So gesehen ist seine Prosa in ihrer Gefälligkeit eben authentisch. Mir sind allerdings Bukowski, Hrabal oder Hilbig wesentlich näher.
Bei meinen Interviews und Gesprächen mit den ehemaligen Autoren vom Prenzlauer Berg habe ich meine Interpretation des Problems – also meine Theorie der fortgesetzten Verweigerung bis hin zur Selbstsabotage – allen Gesprächspartnern angeboten, also kurz und deutlich skizziert und um Reaktionen gebeten. Meine These wurde leider durchgängig nicht angenommen. Ich bekam aber auch keine andere, mir einleuchtende Erklärung für den Stand der Dinge zu hören, die mich beim Nachdenken weitergebracht oder mich korrigierend beeinflusst hätte. Manche Reaktionen liefen auf das wie auch immer vorsichtige Verherrlichen des Abseitigen hinaus, man verwies auf die Schicksale anderer Außenseiter der Literaturgeschichte. Ich bin aber gerade bei solchen Argumentationswegen lieber vorsichtig, zumal wenn – wie in den hier konkret gemeinten Fällen – einiges gegen die Außergewöhnlichkeit der in diesem Text erwähnten Arbeiten spricht. Und ich lasse mich normalerweise gern durch Abseitiges begeistern, wenn es mich etwas angeht und emotional wirklich anspricht. Das war bei den vorgelegten Texten – bis auf viele von Papenfuß – aber leider nicht der Fall.
Bert Papenfuß, den ich einige Wochen nach dem ersten Interview noch einmal traf, gab mir auf einer vereinfachenden, ideologischen Ebene als einziger teilweise recht („man verweigere sich dem Markt, dem Geld …“). Unser gemeinsames Schicksal als ein fragwürdiges Phänomen scheint im Großen und Ganzen allerdings nicht sonderlich reflektiert worden zu sein – das Wissen um das Problematische der damaligen und heutigen Lage wird eher im Diffusen gehalten. Aus Schutz, denke ich.
1 Birgit Dahlke: Papierboot (Königshausen & Neumann, Berlin 1997; Peter Böthig: Grammatik einer Landschaft (Lukas Verlag, Berlin 1997)
2 Er hat im Rahmen der Vorbereitung der Ausstellung wirklich gründlich recherchiert und viele Interviews mit direkt Beteiligten geführt – mit mir auch.
3 Zu DDR-Literatur äußerte sich etwa in diesem Sinne allerdings schon in der ersten Hälfte der 90er Jahre der junge Literaturkritiker Marco Martin. Und zwar in verschiedenen Diskussionsbeiträgen und Artikeln (Sonntag, TAZ, Tagesspiegel) – im Zusammenhang mit konkreten Lebensläufen, also nicht pauschal (s. z.B. Tagesspiegel vom 24.3.1995 – „Keine Lust auf Außenwelt“).
4 Paul Kaiser studierte Kulturwissenschaften auf der HU Berlin. Und er hat als ein auf sein Fortkommen bedachter Forschungsstudent und als SED-Mitglied von der nicht-offiziellen Kultur damals fast nichts mitbekommen können. Natürlich tut dann dieses Versäumnis nachträglich weniger weh, wenn man „herausfindet“, dass diese ästhetisch nicht ganz so viel wert war.
5 Die Fotografin Gundula Schulze ist aus der DDR nicht ausgewandert, ebenso die nach der Wende mit vielen Preisen bedachte Dichterin Barbara Köhler; auch der Dichter Johannes Jansen kam bei Suhrkamp sehr schnell zu einem Achtungserfolg, Peter Wawerzinek ist zu einer festen Größe im Literaturbetrieb geworden. Für die Rockmusik stimmt Kaisers These auch nicht (nur ein Beispiel: die Gruppe Rammstein mit Musikern von Feeling B), genauso wenig wie für bildende Kunst: Hans Scheuerecker, Trak Wendisch, Hanns Schimansky, Olaf und Carsten Nicolai, Yana Milev, Maix Mayer, Angela Hampel, Moritz Götze, Jörg Herold, Clemens Groeszer u.v.a.
6 In der Interviewsammlung von B. Felsmann, A. Gröschner (Hrsg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg, S. 82 (Lukas Verlag, Berlin 1999)
7 Bei der Niederschrift habe ich mich erst einmal folgendermaßen verschrieben: bergabtesten; Berg ab, Bach runter …
8 Nennen kann man hier die Gründung des Druckhauses Galrev, weiter das ebenfalls eindeutig mit Gruppenbildung verbundene Zeitschriftenprojekt SKLAVEN (heute: GEGNER) oder die Veranstaltungsreihe SKLAVENMARKT (heute das Dauerprogramm im Kaffee Burger).
9 Herausgegeben von Elke Erb und Sascha Anderson; erschienen 1985 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln.
10 Druckhaus Galrev, Berlin 1995
11 Steidl Verlag, Göttingen 1996
12 Druckhaus Galrev, Berlin 1999
13 Siehe auch die in der Fußnote Nr. 5 erwähnte Interviewsammlung.
14 In mehreren Zeitungsartikeln und in „Machtspiele. Literatur und Staatssicherheit“, Hrsg. Peter Böthig und Klaus Michael, Reclam Verlag Leipzig, 1993.
15 Thomas Rosenlöcher: Ostgezeter (Suhrkamp, Frankfurt/M, 1997)
Erstveröffentlichung im Text + Kritik Sonderband IX/00 „DDR-Literatur der neunziger Jahre“.
Jan Faktor ist Autor und lebt in Berlin.
© telegraph. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des telegraph