von Hans-Jochen Tschiche
aus telegraph #105
Die Kleinkinder der frühen Nachkriegszeit sind heute im besten Alter. Den Krieg kannte diese Generation nur vom Hörensagen. „Nie wieder Krieg“, hatten sie gerufen, als sie größer wurden. Wehrdienstverweigerer sind unter ihnen. Die SPD stritt erbittert gegen die Wiederbewaffnung. Die Grünen waren die Träger der Friedensbewegung. Heute regieren beide Parteien in Berlin. Deutschland sollte nach ihrer Meinung zur Normalität zurückkehren und auch zu den Waffen rufen, um irgendwo in der Welt in den Krieg zu ziehen, wenn das Nato-Bündnis ruft. Die Deutschen könnten sich ihrer Weltverantwortung nicht mehr entziehen. Niemand mag den Krieg. Keiner will ihn. Aber Krieg sei eben doch die letzte Möglichkeit der Politik. Im Kampf gegen die Bedrohung der Bevölkerung durch terroristische Verbrechen gibt es zu ihm keine Alternative.
Plötzlich ist der Friede wieder bewaffnet. Die Pazifisten im Osten der Bundesrepublik erinnern sich noch gut, dass die DDR-Oberen sie als Helfershelfer der bösen Imperialisten verdächtigt haben. Im besten Falle galten sie als weltfremde Idealisten. Heute sind die Pazifisten auch in den Augen der bündnisgrünen Mehrheit der unmoderne Rest ideologischer Selbstgewissheit, der die Zeichen der Zeit nicht erkennen will. Wenn alle europäischen Staaten in der Nato und die USA mit Militärschlägen dem internationalen Terrorismus begegnen wollen, dann kann doch Deutschland nicht Abseits stehen. Es würde seine Bündnispflicht verletzen. Das Vertrauen der anderen, das mühselig nach der grauenvollen Hitlerei erworben worden ist, würde verloren gehen. Wenn die Nato-Völkerfamilie in den Krieg zieht, kann das wiedervereinte Deutschland nicht hinter dem Ofen sitzen bleiben.
Wer sich nicht bewegt, sagte die Mehrheit meiner bündnisgrünen Freundinnen und Freunde, ist unfähig, heute Politik in Deutschland und in der Welt mitzugestalten. Der Sonderweg Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg sei endgültig vorbei. Und im Übrigen habe dieser Weg immer in einer Katastrophe geendet. Man kann aber nicht den Amoklauf eines kriegerischen und nationalistischen Deutschlands, das an seinem Wesen die Welt genesen lassen wollte, mit dem Misstrauen in unserem Volk gegen die allmähliche Gewöhnung an kriegerische Einsätze in aller Welt vergleichen.
Die deutsche Regierung will wieder einen wichtigen Part im Konzert der Völker spielen. Noch wird das Gewissen beschwert von der kriegerischen Tradition unseres Landes im 20. Jahrhundert. Aber sie meint, im neuen Jahrhundert könnte sie ein neues Tänzchen wagen. Schließlich sind wir wieder wer und das wollen wir auch bleiben. Schröder und Fischer treiben die SPD und die Bündnisgrünen vor sich her und walzen ihre Skrupel nieder.
Das Flächenbombardement des Entwicklungslandes Afghanistan trifft vor allem die Bevölkerung. Man kann den Terroristen nicht den Krieg erklären. Sie sind einzelne Verbrecher unter vielen Unschuldigen. Für Verbrechen gilt der Zugriff geschulten Personals. Die Täter gehören vors Gericht und in die Gefängnisse. Man kann gegen diese schrecklichen Terroristen keinen Kreuzzug wider das Böse anzetteln. Kreuzzügler sind Fundamentalisten, die das Böse im eigenen Herzen nicht kennen. Schon tönt es aus den USA, dass man anderen so genannten Schurkenstaaten auch noch an den Kragen wolle. Die Regierung in Berlin warnt vor dieser Entwicklung. Aber ich bezweifle, dass sie den Mut hat, aus dem fahrenden Zug zu springen, wenn es soweit ist.
Sicher, die Taliban sind aus Teilen Afghanistans vertrieben. Es gibt Gespräche in Bonn. Die Hoffnung auf die Normalisierung der Verhältnisse keimt. Aber Afghanistan bleibt nicht die Ausnahme, sondern es soll zur Regel werden. Wenn die Nato sich die Welt nach ihrem Bild zurechtbombt, werden Hass, Terror und Krieg wachsen. Ich lasse mich nicht an die neue Rolle Deutschlands gewöhnen. Es gibt Grenzen, die ich nicht überschreiten kann und will. Ich verlasse nicht das Boot der Bündnisgrünen, aber ich suche einen anderen Kurs. Wenn die Realos von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beim Parteitag in Rostock Ende November 2001 auch eindeutig gewonnen haben und wenn sie auch nicht Salz in die Wunden der Zweifler gestreut haben, ist ihre Fortsetzung der Friedenstradition mit anderen Mitteln die Kappung der Wurzeln. Der Mensch kann sich ändern, aber wenn er seine Wurzeln kappt, wird er verdorren.
Was mich in meiner Unruhe bestätigt, ist, dass dem Kriegseinsatz nach außen die Verschärfung von Gesetzen folgt, die die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern einschränken. Die Politik des Innenministers bedeutet in ihrer Gesamtheit eine unerträgliche Wende zu einem Sicherheits- und Kontrollstaat, in dem wir alle ganz schnell als verdächtig gelten können. In unserem Ausweis sollen künftig Daten stehen, die wir selbst nicht mehr entziffern können. Was über uns gesammelt wird, erfahren wir nicht, bis es gegen uns verwendet wird. Die Grenzen zwischen Verfassungsschutz, Geheimdiensten und Polizei werden verwischt. Es entsteht eine Macht im Staat, die der öffentlichen Kontrolle entzogen wird. Demokratie aber heißt, dass die Balance bestehen bleibt zwischen Ermittlung, Bürgerrechten und demokratischer Kontrolle. Wenn sich die Sicherheitspolitiker im Lande jetzt alle ihre Wünsche erfüllen wollen und wenn ihr Bemühen auf ein positives Echo bei der Mehrheit der Bevölkerung stößt, beginnt auch hier eine neue Politik in Deutschland. Wer nach den Freiheitsrechten greift, zerstört die Wurzeln eines demokratischen Gemeinwesens.
Manchmal suchen mich Zweifel heim, wenn ich viele meiner Wegbegleiter verliere. Es ist nicht ausgemacht, wer das Angemessene will. Aber ich kann nicht anders. Ich bin pragmatisch und konsensbereit, aber diese Entwicklung will ich nicht. Vielleicht finden sich andere, die bereit sind, den Widerspruch mitzutragen, ohne Hass und ohne Verteufelung – aber klar und deutlich.
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