Dekommissionierung – Was hat es damit auf sich, Alfie?

von Sean McGuffin
aus telegraph #105

Am Anfang war Wasserstoff, und Wasserstoff brachte die Sterne hervor, und die Sterne brachten alle gesegneten Dinge hervor, darunter, in einem Augenblick der Aberration, die Engländer.

In der guten alten Zeit, bevor überhaupt die Ironie erfunden worden war und bevor die irische Geschichte in die schmutzigen Klauen bezahlter Revisionisten wie Roy Foster geriet, wurde uns gelehrt, dass die Wikinger an unseren Gestaden landeten, um sich eine Tasse Zucker zu borgen, und dass sie ein wenig sauer gewesen seien, als ihnen niemand Zucker geben wollte. Diese Lehre hat sich als unwahr erwiesen. Sei’s drum. In den späten 1960er Jahren waren meine Genossen und ich jung, unbedarft und voller Träume:

Vor tausend Jahren
Schlossen wir uns der Volksarmee an,
Um für Gerechtigkeit zu kämpfen,
Gegen die Macht
Eines grausamen, unerbittlichen Feindes.
Wir waren Kids nur mit Kalaschnikows,
Und es heißt, die Guten sterben jung.
Doch nun besitzen alte Männer,
Die nie auch nur einen Stein warfen,
Die Chuzpe, zu fragen, auf wessen Seite wir stehen!

Wir hatten zentrale Forderungen: Zerschlagt Stormont! (Das Lokalparlament des nordirischen Staatengebildes also). Ende der Teilung. Eine sozialistische Republik der 32 Grafschaften oder nichts! (Selbst John Nobelpreisträger Hume sagte: „Ein vereintes Irland oder nichts!“) Schluss mit der repressiven Gesetzgebung und mit der Internierung. Stöcke und Steine, dann Knarren und Bomben. Stadtguerilla hieß der einzige Weg vorwärts, und kein Krieg einer Stadtguerilla in Europa sollte länger dauern als der unserer IRA. Nur diejenigen, die aufgegeben oder den Ausverkauf betrieben haben, behaupten, der bewaffnete Kampf sei ein Schibboleth.

Widerstand der Erniedrigten und Beleidigten. Straßenbarrikaden, die bis zu sechs Monaten standen und dann von der katholischen Kirche und der britischen Armee ’niedergeredet‘ wurden. Miet- und Steuerstreiks. Und Internierung, die ich einst als den letzten Rohrkrepierer des britischen Imperialismus bezeichnet habe. Folter. Und Solidarität. Verlass auf Genossinnen und Genossen. Politische Schulung.

Oder mit Wordsworth gesprochen: „Eine Wonne war es, jene Dämmerung zu erleben, doch jung sein war einfach himmlisch.“

Und was haben wir dreißig Jahre später, nach 269 toten Volunteers, 3.600 Toten, nach Tausenden Verletzten, nach im Hungerstreik gestorbenen Gefangenen und mehr als 20.000 Menschen, die den Knast von innen gesehen haben? Teilung, Stormont und britische Direktherrschaft sowie die gleichen korrupten und furchtbaren Polizeikräfte, die wir so viele Jahre lang bekämpft haben. [Der Fairness halber sei angemerkt: Die ‚Wiedereinsetzung‘ von Stormont bedeutet, dass die Mitglieder des Regionalparlaments (MLAs), derer es gemessen an der Bevölkerungszahl zu viele gibt und die für ihre bestenfalls Teilzeit-‚Arbeit‘ zu nennende Tätigkeit fürstlich honoriert werden und auf Kosten der Steuerzahler in der Welt umher reisen und sich amüsieren dürfen, nunmehr die Macht haben, die Arbeiter zu benennen, die in der Grafschaft Fermanagh Gräben ausheben dürfen, wenn es dort denn überhaupt noch Gräben gibt.]

Während ich rede, liegt vor mir das ‚Grünbuch‘ der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), das die Grundsätze, Ziele und Disziplinar-vorschriften der Organisation enthält. Es ist dies die ‚Bibel‘ der IRA, auf die alle Freiwilligen (Volunteers) einen Eid schwören müssen. Das Grünbuch wurde von der gegenwärtigen Sinn-Fein-Führung verfasst, als diese, darunter ein Gerry Adams, als Mitglieder der IRA so um 1975 herum in Long Kesh einsaß.

Ich zitiere einige Passagen aus dem General Army Orders (in der revidierten Fassung von 1987).
General Order Nr. 5
Ein Freiwilliger soll
1. Weder einen Eid auf die Regierungsinstitutionen der Teilung in den sechs oder in den sechsundzwanzig Grafschaften ablegen noch diese anerkennen…
3. Weder schwören noch sich dazu verpflichten, in irgendeiner Weise von dem Waffeneinsatz oder anderen Kampfmethoden zur Beendigung britischer Herrschaft in Irland Abstand zu nehmen
(Strafe: Ausschluss)
Nun, davon wären sämtliche Sinn-Fein-Mitglieder betroffen!

General Order Nr. 6
Auf Freiwillige, die des Verrats für schuldig befunden werden, wartet die Todesstrafe.

General Order Nr. 11
Jeder Freiwillige, der sich allein oder mit anderen der Armee gehörende Waffen, Munition oder Sprengstoff aneignet, macht sich des Verrats schuldig und wird vor ein Kriegsgericht gestellt. Auf Verrat steht die Todesstrafe.
Wie ist dies mit der Dekommissionierung/Abgabe von Waffen in Einklang zu bringen?

Dekommissionierung
ist ein interessantes Wort. Und wie sagte doch Humpty Dumpty: „Wenn ich ein Wort benutze, hat es die Bedeutung, die ich ihm zuschreibe nicht mehr und nicht weniger.“
Noch vor ein paar Jahren war das Wort Dekommissionierung in keinem Diktionär zu finden. Dann hieß es, die Iren würden ihre Waffen abgeben, wenn der Konflikt beendet sei. Ganz akzeptabel, das. Von Dekommissionierung war selbst im Karfreitagsabkommen nicht die Rede. Sie ist ein Zusatz der Briten und der Unionisten, um den ganzen Prozess ein paar Jahre in die Länge zu ziehen und so nicht nur die Unionisten, sondern auch die republikanische Bewegung zu spalten.
Wir stehen im Dunville Park, Falls Road, Belfast. Wir schreiben das Jahr 1995. Gerry Adams und eine treue Gefolgschaft. „Wisst ihr, sie (die IRA) hat sich nicht verdrückt“, sagt Adams augenzwinkernd. „Wir werden niemals kapitulieren.“

Das gefürchtete A-Wort ist im ganzen Land laut und deutlich vernehmbar, nachdem es einst nur von alten Männern in verqualmten Hinterzimmern geflüstert worden war: Ausverkauf. Sind die Wild Geese deswegen geflohen? Hat James Connolly deswegen bluten müssen? Mussten dafür Bobby Sands, Patsy, Francis und all die anderen Gefangenen im Hungerstreik sterben?

Ich sollte also vermutlich langsam mal die ursprüngliche Frage beantworten, die da lautete: „Was bedeutet Dekommissionierung und warum ist es dazu gekommen?“

Wie sagte doch einst Danny ‚Bangers‘ Morrison (c): „Mit einem Armagnac in der einen und der Wahlurne in der anderen Hand.“

Warum es dazu kam, ist für jeden offensichtlich, der sich mit Revolution befasst oder die Geschichte studiert hat. Zunächst einmal muss gesagt werden, dass sich neunzig Prozent korrumpieren lassen, während sie die restlichen zehn Prozent eliminieren müssen.

Die imperialistische Macht, die sich auf Dauer einrichten möchte der Kampf der IRA hat nach 25 Jahren zu einem Patt geführt , kann sich im Allgemeinen darauf verlassen, dass Alter und Verrat über Jugend und Geschick siegen.

Zunächst geht es um die rein militärische Lösung. Die ist zwar selten zu erreichen ist, gibt aber den Grunzern und Möchtegern-Offizieren ein wenig Gelegenheit zur Praxis. Die Bevölkerung einsperren? Wir können all diese soziologischen Experimente unternehmen, die von Foltertechniken wie der sensorischen Deprivation, über Wohnviertelplanung zur Bevöl-kerungskontrolle bis hin zur finanziellen Kontrolle der Banken und der Errichtung von Einkaufspalästen und somit höheren Profiten für das Mutterland oder Amerika reichen. Wir können bezahlte Spitzel einsetzen, hundertprozentige Überwachung sowie die Computerisierung des Einzelnen betreiben, mehr und mehr staatliche Kontrolle und ‚temporäre drakonische Gesetzgebung‘, die freilich von Dauer sein wird, in Gang setzen. Der Idiot Blunkett führt in England wieder die Internierung ein, diesmal für Moslems. Und liefert dem MI5 und dem SIS damit eine Rechtfertigung für deren Budget. Zudem können die Geheimdienste so ihre Inkompetenz sowie ihre Rivalitäten untereinander besser kaschieren alles ist doch nur Teil des ‚Großen Spiels‘.

Und die Bevölkerung?
Die Bourgeoisie? Die jungen Yuppies. Sollen sie doch upwardly mobile sein und im wahrsten Sinne des Wortes Kuchen essen. Private Investitionsinitiativen, d. h. Ausverkauf des Gesundheits- und des Verkehrswesens sowie der Kontrolle des Flugverkehrs. Die Reichen werden noch reicher und ziehen mit ihren 2,4 Kindern in schöne Häuser. Sollen sie doch ihren Urlaub auf dem europäischen Festland oder in den USA verbringen. Ihre Steuern werden gesenkt. Ach, welch glückliche Vögel.

Die Kirchen? Die Kirchen sind doch längst gekauft, und auf die Pfaffen hört ohnehin schon lange keiner mehr. Sollen sie doch ihre Gelder für ‚gemeindeübergreifende Projekte‘ bekommen. Die Sandkastentheorie. Armselig, aber effektiv.

Die Politiker? Sie lassen sich am leichtesten kaufen. Einige geben sich sogar mit einem Wisch der Königin und einer kleinen Medaille zufrieden. Und wenn nicht, dann gibt es immer noch genug vermeintliche Nichtregierungsorga-nisationen, Direktorenpöstchen und reichlich Kohle aus Brüssel.

Die Kids? Interkonfessionelle Ferien, um das Sektierertum zu beenden? Das funktioniert nie. Nikes, McDonalds, Mobiltelefone, DVD und WAP. Amerikanische Mode und Filme. Keine Geschichte, nur Konsum. Pokemon und Potter. „Wäre es nicht super, wenn es jeden Tag so sein könnte?“ Selbst Van Morrison lässt sich überreden und betreibt Promotion für einen kleinen Song. Umsonst und draußen mit all ihren Stars U2, Corrs, Westlife usw. Hirnloser, stumpfer Papp, aber so sind die Kids wenigstens weg von der Straße, und es ist Schluss mit ‚Street Fighting Man‘ und Punk-Anarchie.

Die loyalistischen Paramilitärs? Amnestie für ihre Morde. Freilassung. Und die großzügige Erlaubnis, ihre Drogenimperien auszubauen und dafür die arbeitslosen protestantischen Teenager des Ghettos einzuspannen. Natürlich sind die Drogenbarone zugleich ‚gemeindeübergreifend‘ tätig und vermehren so ihre Drogengelder.

Und der Widerstand? Die man töten kann, werden getötet. Dirty tricks, shoot-to-kill, agent provocateurs. Diejenigen, die man nicht umbringen kann, lässt man für lange Zeit hinter Gitter verschwinden, hält sie als Geiseln wollt ihr, dass eure Genossinnen und Genossen raus kommen, müsst ihr einen Waffenstillstand erklären. Man schikaniert und zensiert diejenigen, die den Mund aufmachen. Einige werden verführt, ein Leben als Gangster und Drogendealer zu führen, bei Straffreiheit versteht sich, vorausgesetzt sie arbeiten mit der Polizei zusammen.

Soll der Widerstand dazu gebracht werden, die Waffen zu ‚dekommissionieren‘, ist es natürlich besser, wenn diejenigen es tun, die ihre eigene Basis davon überzeugen müssen. Das führt zu weiteren Spaltungen, was natürlich für die Briten ein Vorteil ist.

„Hat man einmal angefangen, heilige Kühe zu schlachten, wird es einfacher“, sagte neulich ein bemerkenswert ehrlicher Jim Gibney. Der erfahrene Sinn-Fein-Taktiker, der selbst einst als IRA-Mitglied einsaß, räumte auch ein, dass die IRA-Kämpfer an der Basis wie könnte es auch anders sein? die ‚Dekommissionierung‘ nicht akzeptieren. „Diese Initiative ging von der Führung aus“, sagt Jim. Es ist nicht sehr demokratisch, Jim, wenn die Mitgliedermehrheit dem Diktat des Politbüros gehorchen muss, oder? Erinnerst du dich noch daran, wie du einst im Käfig 5 von Long Kesh all diese politischen Bücher gelesen hast? Schon mal was von Stalinismus gehört? Aber ein solcher Vorwurf wäre lèse-majesté, wenn nicht gar Blasphemie pur. Wie wurden der frühere Barkeeper und der frühere Schlächterbursche geködert?
Mit vermutlich bemerkenswert billigen Mitteln. McGuinness scheint wenig an einem exzessiven Konsum zu liegen, er führt ein ruhiges Leben in der Bogside und widmet sich ganz seiner Familie. Adams verdient mit seinen von Ghostwritern verfassten Büchern ein bisschen Geld, wenn auch nicht sonderlich viel. Seine Datscha in Donegal ist eher eine bescheidene Hütte. Um Geld geht es ihnen nicht. Es ist viel schlimmer. Sie wollen wirklich von ihren neuen reichen Freunden geliebt werden. Sie sind ganz versessen darauf, im Weißen Haus oder in Downing Street Nummer 10 vorgelassen zu werden. Sie lächeln nur allzu gern in die Kamera. Sie stürzten mit ihren Autogrammheften los, als der alte Nelson ‚Onkel Tom‘ Mandela in den Weltfriedenszirkus gezerrt wurde. Sie oder in ihrem Auftrag auch ihre Günstlinge würden auf dem Bauch zu den irisch-amerikanischen Millionären robben, die solange Kohle locker machen, solange kein scheußliches Peng-Peng zu hören ist und solange keine Allianzen mit üblen Antiimperialisten geschlossen werden.
Unterdessen wird den einfachen Mitgliedern für ihre Loyalität ein kleines Stück Blech angeboten.
Ihr Horden, würdet ihr aufgeben für einen Orden?

Chuckie Armani!
Und natürlich sind sie im Vorteil. Sie fragen uns, was wir denn tun wollen. Natürlich will kein Mensch eine weitere Spaltung der IRA. Und zur gleichen Zeit wollen nur wenige, wenn überhaupt einer, mit der ‚Real‘ IRA oder der ‚Continuity‘ IRA in Verbindung gebracht werden, da die völlig von Spitzeln durchsetzt sind und vermutlich von der Polizei des Freistaates Irland geführt werden, die wiederum hin und wieder ein wenig Unterstützung von den Briten bekommt. Und da fragen sie hämisch: „Was wollt ihr denn?“ Hört mal, Genossen, die Antwort ist die gleiche wie vor dreißig Jahren. „Gerechtigkeit, ihr Bastarde“, wie Judge Roy Bean es mal formuliert hat.

Bernadette Devlin McAliskey sagt, der Krieg sei vorbei und die Guten hätten verloren wir werden sehen. Wir irischen Revolutionäre vergessen nämlich alles, außer dem Groll. Und außerdem verfügen wir über ein paar Scharfschützen in Abbruchhäusern auch dann, wenn die Truppen abgezogen wurden und von „Frieden“ und „Waffenstillstand“ die Rede ist. Aber vielleicht bin ich auch bloß wie diese armen japanischen Samurai, die auf einer Insel vergessen wurden und selbst Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch immer kampfbereit waren. Ich glaube nicht.

Aber was soll es denn, Ire zu sein, solange man nicht feststellt, dass die Welt dir das Herz brechen wird. Und vergesst nicht, was Verdinsky gesagt hat: „Das Leben ist ein Flackern, und eine Komödie ist eine Tragödie plus Zeit, aber Che lebt!“

Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Schneider
Sean McGuffin ist Schriftsteller, er lebt in Dublin.
Jürgen Schneider ist Autor, Übersetzer und Ausstellungsmacher, er lebt in Berlin.

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