Koloniale Situation als Entstehungsbedingung rechter Bewegung in Ostdeutschland

Versuch einer sozialpsychologischen Erklärung
von Andrej Holm
aus telegraph #105

 Was das Problem ist. In den meisten Debatten des letzten Sommers wurden die rechtsradikale Bewegung und insbesondere die rechten Jugendkulturen Ostdeutschland thematisiert. Dabei wurden Stereotypen aufgegriffen, die seit Jahren den westdeutschen Diskurs über Ostdeutschland bestimmen. Insbesondere die dabei stattfindenden Ein- und Ausblendungen von gesellschaftlichen Realitäten verhinderten eine politische Analyse der Situation und somit auch ein politisch erfolgreiches Agieren einer antifaschistischen Mobilisierung. Die üblichen Perspektiven von staatlichen Institutionen bis hinein in das aktive Antifaspektrum bewegen sich in einem Dreieck von Verboten, sozialpädagogischer Integration und „zivilgesellschaftlicher“ Re-education. Im Folgenden will ich aufzeigen, dass diese Strategien die logische Folge von verkürzten, oberflächlichen und vor allem westdeutschen Erklärungsmustern sind und warum diese Strategien nicht erfolgreich sein können. Eine antifaschistische Bewegung, die in Ostdeutschland erfolgreich sein will, wird nicht umhin kommen die gesellschaftliche Funktion der gängigen Erklärungsmuster zu analysieren. Im folgenden Text werden insbesondere psychosoziale Ausgangsbedingungen der Attraktivität von rechter Jugendbewegung hinterfragt. Andere Faktoren zur Herausbildung von rechtsradikalen Bewegungssegmenten werden – trotz des Wissens um die Komplexität des Themas – in der Argumentation weitgehend vernachlässigt.

„Brauner Osten“ eine Bestandsaufnahme
– Obwohl es seit 1992 eine Diskussion um den spezifisch Ostdeutschen Rechtsradikalismus gibt, die der Bildungsforscher Detlef Oesterrreich von der Berliner Max-Planck-Gesellschaft mit dem provokativen Titel „Leben die häßlichen Deutschen im Osten?“, konnten auf der Ebene von Einstellungen und Weltbildern keine oder nur geringe quantitative Unterschiede festgestellt werden: der Anteil der Jugendlichen mit rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Grundeinstellungen liegt mit geringen regionalen Unterschieden (je nach konkreten Fragestellungen der Untersuchungen) bei 20-30%. Die öffentliche Darstellung hingegen bezieht sich in der Konstruktion des „Braunen Ostens“ in der Regel auf Zahlen, die nicht aus vergleichenden Untersuchungen gewonnen wurden – der „braune Osten“ auf der Ebene der soziologischen Meinungsforschung ist eine Suggestion. Was die fremdenfeindliche und rechtsextreme Grundorientierung angeht, kann – im Gegensatz zu den meisten anderen politischen Einstellungen – von einer Norma-lisierung auf westdeutsches Niveau gesprochen werden.
Deutliche Unterschiede gibt es jedoch in der Entwicklung von fremdenfeindlichen Straftaten, den Bewegungsmustern und den Motiven von rechten Mobilisierungen. Während im Westen revanchistische Werte dominieren (14% aller Westdeutschen hatten noch 1998 eine „gute Meinung über Hitler“), können Nazis im Osten auf eine höhere Akzeptanz gegenüber ihrer praktischen Politik rechnen (15% hatten 1998 „Verständnis für die Leute, die solche Anschläge verüben“). Organisationsstrukturen im Osten haben oft stärker Bewegungs- denn Parteicharakter, in der Praxis stehen wesentlich öfter gewalttätige Aktionen im Vordergrund.

– In den Diskussionen um eine Erklärung der erstarkten rechten Bewegung wird häufig auf sogenannte Sozialistionsthesen zurückgegriffen. Das „Zentrum demokratische Kultur“ (insbesondere Bernd Wagner) hat in mehreren breitrezipierten Veröffentlichungen die historischen Entwicklungen einer rechten Szene in der DDR beschrieben. Die dabei aufgeführten Erklärungen (autoritärer Staat, Vormund-schaftlichkeit oder „entindividualisierte Unterwerfung des Einzelnen unter die Gruppe“) klammerten nicht nur aktuelle Entstehungsbedingungen, sondern blendeten auch die grundsätzlich positive Einstellung der DDR zum Antifaschismus aus. Das hat paradoxe Folgen, das trotz einer Kritik an der DDR-Gesellschaft eine kritische Auseinandersetzung mit den Defiziten einer kommunistisch-antifaschistischen Praxis verbaut wird. Diese folgte Faschismusanalysen, die schematisch und ökonomisch reduziert die ideologischen und mentalen Grundlagen des Nationalsozialismus ignorierten und somit eine selbstkritische Auseinandersetzung um eigene Projektionen auf die deutsche Arbeiterklasse verhinderten. So blieben auch in der DDR der strukturelle Konservatismus (Festhalten an den deutschen Sekundärtugenden, Moderni-sierungsfetischismus, nationale Identifikation weiter Bevölkerungsteile) und das Wertesystem Fabrik (Selbstidentifikation Arbeit als Mittelpunkt gesellschaftlicher Verortung) weitgehend unangetastet (siehe ausführlicher Holm/Daniljuk: „Zwischen DDR-Tradition und Ethnisierung“ telegraph 3/4 1998). Der Antifaschismus in der DDR war weitgehend repressiv und gerade nicht gesellschaftlich. Entsprechend organisierten sich rechte Organisationen im ordnungspolitischen Vakuum der 80er Jahre und verstärkt ab 1990.

Rechtsradikale in Ostdeutschland sind Ausdruck und Bestandteil einer quasikolonialen Identitätskrise nach 1990.
Mit dem Anschluss an die BRD und der weitgehenden Zerschlagung der industriellen Basis Ostdeutschlands einher ging eine massiv erfahrene Entwertung des individuellen Selbstbewusstseins vieler Ostdeutscher. Die ethnologische Kulturschocktheorie (Kalvero Oberg) bietet einen Ansatz um die psychologischen Effekte einer solchen Situation zu beschreiben. Beschrieben werden in diesem Ansatz verschiedene Phasen des Aufeinandertreffens verschiedener Wertesysteme, bei denen die kulturelle Kompetenz (die Basis für ein souveränes und selbstbewußtes Handeln) degradiert wird:
In der Phase der EUPHORIE (im historischen Fall des Anschlusses der DDR der Sturz des Regimes und die Freudentränen an der Mauer) konzentrieren sich die Menschen auf das Erwartete (hier also das Wunschdenken über die westdeutsche Gesellschaft und eine kurzzeitige emotionale Verbindung, deren einzige Basis ein „Deutschsein“ war).
Die Phase der ENTFREMDUNG setzt ein, wenn es zu ersten Mißverständnissen und irritierenden Beobachtungen kommt. Entstehende Unsicherheiten werden auf sich selbst bezogen, weil die gewohnte kulturelle Kompetenz abhanden kommt. Verstärkt wurde diese Phase durch westdeutsche Projektionen des angepassten, unselbständigen, ungebildeten „Ossis“.
Als Phase der ESKALATION wird in dem Modell der Übergang zur Umkehrung der Schuldzuweisung und zur Verherrlichung der Ursprungskultur gesehen. In Migrationskontexten kann das Heimweh oder Zuwendung zu traditionellen Kulturformen sein. Im Prozess des Anschlusses ist diese Phase durch eine von außen kommende Ethnisierung der Ostdeutschen einerseits und einer steigenden Abwendung von der westdeutschen Gesellschaft andererseits gekennzeichnet. Eine Langzeitstudie zur politischen Mentalität von ostdeutschen Jugendlichen kam zu deutlichen Ergebnissen: zwar wird die „deutsche Einheit“ als historisches Faktum von 90% anerkannt, doch nur knapp die Hälfte der Befragten gibt an „sich darüber zu freuen“ und 70% fühlen sich nur schwach oder überhaupt nicht mit dem politischen System der Bundesrepublik verbunden und lediglich 20% haben eine optimistischen Prognose „für eine gesicherte Zukunft in Ostdeutschland“.

Was bedeutet das für die rechte Mobilisierungen?
Die Vielfalt der Identitätsangebote (im Durchschnitt benannte jeder und jede Befragte fünf regional territoriale Zugehörigkeitsgefühle (Deutsch, Ostdeutsch, landsmannschaftliche Anbindung, BRD-Bürger, Europäer etc.) zeigt ein erstaunliches Identifikationsdefizit. Aber gerade der beschriebene Wendeschock fordert nach psychologischen Reaktionen, die

a) die augenblickliche Situation verbessern und
b) geeignet sind, die mißliche Lage zu erklären.

Zum einen steht die „Option Deutschland“ für das Versprechen auf Wohlstand und Überlegenheit, zum anderen zwingt die gesellschaftliche Erfahrung der letzten 10 Jahre dazu ein ostdeutsches Selbstbewußtsein gegen die westliche Dominanzerfahrung zu entwickeln.
So erklärt sich auch das widersprüchliche Bild von der politischen Haltung ostdeutscher Jugendlicher: „Deutschland zuerst, aber nicht so wie in Westdeutschland und möglichst ohne Westler“.
Nazistrukturen stehen für beides: sie sind deutschnational und gleichzeitig antistaatlich. Die Abwertung der BRD als „Judenstaat“ oder die Durchsetzung „national befreiter Zonen“ (und damit auch staatsfreier Gebiete) stehen für diese Strategie. Zugleich werden die in der DDR ungebrochenen Wertvorstellungen im Sinne eines strukturellen Konservatismus aufgenommen.

Was tun? Perspektiven einer antifaschistischen Praxis
Sozialpsychologisch bieten also rechte Strukturen scheinbar genau die Orientierungspunkte, um die koloniale Situation in Ostdeutschland scheinbar zu bewältigen. Die Doppelidentifikation als deutsch aber nicht zwangläufig westdeutsch läßt sich nicht mit einfachen Integrations- und Erziehungsmodellen brechen. Die Bildungsoffensiven ebenso wie die offenen wirtschaftlichen Boykottdrohungen verstärken eher die antiwestdeutschen Ressentiments und stärken durch die Fremdzuschreibung als „Brauner Osten“ die bestehende Identität. Eine antifaschistische Praxis, die erfolgreich sein will, muss sich deshalb von diesen Strategien abgrenzen: denn die Ethnisierung Ostdeutschlands folgt den machtpolitischen Interessen der BRD-Eliten. Der „Braune Osten“ ist zum einen Kompensation für die überforderten Assimilationskapazitäten der westdeutschen Dominanzgesellschaft, zum anderen wird der Rechtsextremismus zum Legitimationsargument für eine dauerhafte Domestizierung der ostdeutschen Gesellschaft. Viele Programme folgen einer verkürzten Modernisierungslogik und wollen westdeutsche Verhältnisse (demokratische Zivilgesellschaft) im Osten etablieren, das negiert nicht nur die gesellschaftskritischen Potentiale in Ostdeutschland, sondern geht auch an den gesellschaftlichen Ursachen des erstarkenden Faschismus vorbei.

In der politischen Landschaft Ostdeutschlands bieten sich aber bisher für einen anderen Antifaschismus keine Ansatzpunkte: die sogenannten etablierten Parteien fallen als Verantwortliche der momentanen Lage weg, und auch die potentiell progressiven ostdeutschen Strömungen bieten keine Alternative zu den rechten Mobilisierungen.
Die dissidentische Opposition und Bürgerbewegung der DDR hat durch ihre überwiegende Insti-tutionalisierung in das westdeutsche Parteiensystem und die teilweise Integration Ostdeutscher Eliten in die neuen Administrationen einen Legitimitätsverlust erfahren. Ihre Sprachlosigkeit gegenüber Nazis ist deutlicher Ausdruck davon und die selektive Veröffentlichung von Da-ist-die-DDR-dran-Schuld-Beiträgen in den meinungsbildenden Medien verstärkt diesen Eindruck nur.
Die – zumindest formell antifaschistische – PDS und die politisch relevanten Fraktionen in ihr vermochten bisher keine durchgehend konfron-tative Haltung gegenüber Nazis aufzubauen, insbesondere der pauschale Verteidigungsreflex gegenüber Ostdeutschland/und DDR führte teilweise zu einer Verharmlosungskontinuität („unsere Kinder“) und das Streben nach breiter Akzeptanz und „Ankommen in der Bundesrepublik“ blockierte bisher die Entwicklung von sozialen Basiskämpfen mit den desintegrierten, Herausgefallenen und Verweigerern in Ostdeutschland.
Die zahlenmäßig kleine Antifabewegung ist in ihren subkulturellen Nischen so gettoisiert wie zu DDR-Zeiten und spielte in den 90er Jahren höchstens die Rolle einer dissidentischen Gegenöffentlichkeit (Skandalisieren von Rechtsextremismus). Ihre weitgehende Anlehnung an den Kulturmustern- und Ausdrucksformen einer westdeutschen/westeuropäischen Szene isoliert die Bewegungsansätze in Ostdeutschland gesellschaftlich. Die oftmals anhaltende Orientierung an den 80er-Jahre-Bewegungsmustern reproduziert ungewollt die westdeutschen Vorstellungen eines Modernisierungsrückstandes Ost.

Wie ein Antifaschismus die Kenntlichkeit als Teil einer sozialrevolutionären Bewegung mit gesamtgesellschaftlicher Kompetenz und einer personellen, strukturellen und strategischen Orientierung auf Ostdeutschland gewinnen kann, muss sich in der Praxis zeigen.

Andrej Holm ist Sozialwissenschaftler und freier Mitarbeiter der Zeitschrift telegraph. Er lebt in Berlin.

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