Soziale Entstehungsbedingungen rechter Bewegungen in Ostdeutschland

von Jörg Roesler
aus telegraph #105

Wiederholt ist die beunruhigende Ausländerfeindlichkeit von Jugendlichen in den neuen Bundesländern und die daraus häufig resultierende rechte Gewalt als Erbe der SED-geführten DDR-Gesellschaft bezeichnet worden, die das Problem des alltäglichen Rassismus nie artikulierte und durch die Isolierung der DDR-Bevölkerung von der Welt keine Umgangskultur gegenüber Ausländern aufkommen ließ. Für die These des DDR-Erbes sprach ein von Meinungsforschern, so vom Leipziger Institut für Jugendforschung, in den ersten Monaten nach dem Mauerfall konstatiertes rasches Anwachsen von Ausländerfeindlichkeit und des Rassismus, das sich – nicht mehr unterdrückt – nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft um so lauter Luft machte. Gegen diese These spricht vor allem das Andauern rechter Gewalt und die Attraktivität rechter Organisationen für Jugendliche in den neuen Bundesländern bis zum heutigen Tag. Ostdeutsche, die heute 15 sind, haben bereits die gesamte Schulzeit und zwei Drittel ihrer Lebenszeit unter den freiheitlich-rechtsstaatlichen Bedingungen der Bundesrepublik verbracht, die heute 20jährigen noch den größten Teil ihrer Schulzeit und die Hälfte ihres Lebens. Das Argument dürfte also nicht von der Hand zu weisen sein, dass es weniger Erfahrungs- als Situationsbedingte Faktoren sind, die die rechte Affinität unter ostdeutschen Jugendlichen hervorrufen. Welcher Art sind die Erfahrungen, die sie in den neuen Ländern der Bundesrepublik in den 90er Jahren machten konnten und die sie (teilweise) veranlassten, sich in die rechte Szene zu integrieren?

Bekannte Sozialwissenschaftler wie Detlev Oesterreich, aber auch Historiker, die sich mit den Ursachen rechter Gewalt in Ostdeutschland befassen, wie Wolfgang Benz, begreifen die jugendliche Gewaltbereitschaft als ein primär soziales Problem. „Deutschland“, schreiben Ute und Wolfgang Benz in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Deutschland deine Kinder. Zur Prägung von Feindbildern in Ost und West“(München 2001), „bietet nach der Vereinigung von DDR und BRD das Bild eines Staates mit zwei Gesellschaften…“. Wodurch unterscheiden sich diese Gesellschaften und inwiefern lässt sich aus den spezifisch ostdeutschen, d.h. im Westen so nicht existenten Lebens- und Arbeitsbedingungen die Anziehungskraft rechten Gedankenguts für Jugendliche in den neuen Ländern erklären?

Vielfach, so vor allem vom Sozialwissenschaftler und Vereinigungsforscher Fritz Vilmar, wird argumentiert, dass im Osten Deutschlands eine koloniale Situation herrsche. M.E. trifft diese Charakteristik die Situation nicht. Nach J. Osterhammels Standardwerk „Geschichte der Kolonialisierung“ ist „der koloniale Staat keine einfache Ausdehnung des metropolitanen politischen Systems…, sondern eine politische Form „sui generis“. Kolonien waren ein Gebiet, deren Bevölkerung durch eine spezielle Kolonialgesetzgebung von den demokratischen und rechtsstaatlichen Errungenschaften des „Mutterlandes“ ferngehalten wurde. Bei der Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik ist aber gerade das geschehen, was im Falle einer Kolonialisierung nicht charakteristisch ist: Es ist das westdeutsche Rechts-, Sozial- und Wirt-schaftssystem auf den Osten Deutschlands ausgedehnt worden. D.h. es gibt heute (fast) keine rechtliche Diskriminierung Ostdeutscher in der Bundesrepublik. Es gilt (fast) uneingeschränkt auch für Ostdeutsche die Gleichheit vor dem Gesetz.
Dass aus deren rechtlicher Gleichheit noch längst keine gleichen Ausgangsbedingungen und Entwicklungschancen für ostdeutsche Jugendliche entsteht, keine soziale Gerechtigkeit resultiert, soll konkret anhand der beiden nach wiederholten Meinungsumfragen in den Augen der ostdeutschen Jugendlichen als wichtigste bezeichneten beiden Themen dargestellt werden: Ausbildungschancen und Arbeitsmöglichkeiten.

Der mit dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik zwangsläufig verbundene Transfer des westdeutschen Systems nach Ostdeutschland1 war im Falle der beruflichen Bildung und Berufsstruktur bereits im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion festgelegt. Aus dem Anschluss ergab sich ein ebenso abrupter wie vollständiger Bruch mit dem Berufsbildungssystem der DDR, das komplett beseitigte wurde – mit allen Vor- und Nachteilen, die es hatte. Als am 1. September 1990 in der Noch-DDR das Ausbildungsjahr 1990/91 begonnen wurde, galten in Ostdeutschland bereits alle wesentlichen Teile des Berufsbildungsgesetzes und der einschlägigen Bestimmungen der Handwerksordnung der Bundesrepublik. Im Berufsbildungswesen wurde der Anschluss an die Bundesgesetzgebung also schon vor der staatlichen Einheit vollzogen. Bereits im Ausbildungsjahr 1991/92 war die Berufsstruktur der Neuauszubildenden in den neuen Ländern fast vollständig der in den alten Ländern angepasst. Dabei wurde auf die deutlichen strukturellen Unterschiede, die es in der Berufsausbildung beider deutscher Staaten bisher gegeben hatte, keinerlei Rücksicht genommen.
In der DDR hatte sich die Ausbildung der Lehrlinge vor allem in den Kombinaten vollzogen. Drei Viertel aller Auszubildenden befanden sich in Großbetrieben mit über 500 Beschäftigten. In den alten Ländern handelte es sich nur um ein Fünftel. Das traditionelle westdeutsche Ausbildungssystem war im wesentlichen auf die Klein- und Mittelbetriebe abgestimmt. Die mussten sich im Osten aber erst unter marktwirtschaftlichen Bedingungen, die ebenfalls mit dem 1.7.1990 im Osten eingeführt worden waren, herausbilden und soweit konsolidieren, dass die Betriebe es sich leisten konnten, Lehrlinge auszubilden. Die übergangslose Einführung der Marktwirtschaft bundesdeutscher Prägung in der DDR, auch als Schocktherapie bezeichnet, traf die ehemaligen Kombinatsbetriebe besonders hart. Hinzu kam die von der Treuhandanstalt in den ersten Jahren der Privatisierung der ostdeutschen Unternehmen bevorzugte Politik der Zerschlagung der als „Dinosaurier“ bezeichneten Kombinate und des Verkaufs einzelner „Filetstücke“. Mit den Kombinaten wurden vielfach auch die Ausbildungsträger zerschlagen. Die Folge davon war, dass ein erheblicher Teil an Ausbildungsplätzen verloren ging. Dies drückte sich für die ostdeutschen Jugendlichen sowohl in einer Verringerung des Berufsangebots als auch in der Auflösung bereits bestehender Ausbildungsverhältnisse aus. Im ersten Ausbildungsjahr nach dem Anschluss wurden 28.900 so genannte „Konkurslehrlinge“ aus stillgelegten Betrieben registriert.

Um diesen Jugendlichen die Weiterführung und erfolglosen Lehrstellenbewerbern den Beginn ihrer Berufsausbildung zu ermöglichen wurde eine außerbetriebliche Ausbildung von so genannten „marktbenachteiligten Jugendlichen“ geschaffen. Da staatliche Gelder winkten, entstand innerhalb kurzer Zeit ein regelrechter Markt von freien Trägern und so genannten „Ausbildungsringen“, die Plätze anboten. Die so „aufgehobenen“ Jugendlichen merkten erst am Ende ihrer Ausbildungszeit, dass sie damit einen Ausbildungsweg eingeschlagen hatte, der bei den Unternehmen als nicht vollwertig galt. Von einer bei betrieblicher Ausbildung immerhin möglichen direkten Übernahme konnte im Falle der außerbetrieblichen Ausbildung sowieso keine Rede sein. Aber auch die nun wie im Westen vor allem in Mittelstandsbetrieben ausgebildeten ostdeutschen Jugendlichen hatten weniger Chancen als ihre Altersgefährten in den alten Ländern, nach Beendigung der Lehre vom Ausbildungsbetrieb übernommen zu werden, denn die wirtschaftlich ungefestigten ostdeutschen Mittelstandsbetriebe expandierten kaum und benötigten deshalb auch kaum zusätzlichen Arbeitskräfte.
So entwickelte sich im Osten Deutschlands im Laufe der 90er Jahre eine spezifische Arbeitslosigkeit nach Beendigung der Schule oder der Ausbildung. Während 1991 rund 6.000 Azubis nach vollendeter Lehre arbeitslos wurden, waren es 1996 bereits 50.100. Ohne zuvor erwerbstätig gewesen zu sein, meldeten sich nach Beendigung der schulischen Ausbildung 1991 rd. 10.3000 arbeitslos, 1996 waren es 181.200. Seitdem sind die Zahlen nur deshalb zurückgegangen, weil die Gesamtzahl der Jugendlichen aus demographischen Gründen abgenommen hat und eine größerer Teil als in der ersten Hälfte der 90er Jahre nach Beendigung von Schule oder Lehre gleich in die alten Bundesländer abwandert, wo – vor allem in Baden-Württemberg und Bayern – Arbeitskräfteknappheit herrscht. Typisch für diese Situation ist die Aussage einer Jugendlichen aus dem Norden der ehemaligen DDR: „Den Raum Rostock und Mecklenburg-Vorpommern kann man total vergessen als Bürokauffrau. Ich habe mich jetzt in Hamburg und Berlin beworben und heute hat mir das Arbeitsamt eine Stelle in München vermittelt… Das ist ein bisschen weit weg. Ich würde schon hingehen, es bleibt einem ja nichts anderes übrig nach einem Jahr Arbeitslosigkeit möchte ich gerne eine Stelle haben, egal wo“.

An diesem Beispiel, das typisch für die neuen Länder ist, wird ersichtlich: Gleiche rechtliche Bedingungen in Ost und West, wie sie der Anschluss erzwungen hat, aber auch garantiert, schaffen noch keine gleichen Chancen – in diesem Falle für die Berufsausbildung und Beschäftigung von Jugendlichen. Festzuhalten bleibt noch: Die Ursachen dieser ungleichen Lösungsmöglichkeiten, die die Jugendlichen in Ost und West für die von ihnen am wichtigsten gehaltenen Probleme haben, sind nicht rechtlicher, sondern sozialstruktureller Art. Ein Schuldiger ist konkret nicht auszumachen. Ganz anders wäre das im Falle einer kolonialen Situation, die dazu führte, dass Jugendliche des Kolonialvolkes von vornherein von bestimmten Ausbildungs- und Arbeitsplätze ausgeschlossen wären.
Damit ist keineswegs gesagt, dass sich die Jugendlichen im „Anschlussgebiet neue Länder“ nicht genau so benachteiligt fühlen, wie das im Falle einer kolonialen Situation der Fall sein würde. Ob man sich nun, wie die meisten Ostdeutschen, als „Bürger zweiter Klasse“ oder, wie im Falle kolonialer Unterdrückung, als „Mensch zweiter Klasse“ fühlt, macht hinsichtlich des Unbehagens, des Frustes oder der Wut, die aus der Situation der Benachteiligung entstehen, keinen wesentlichen Unterschied.

Wollen die Jugendlichen sich zu dieser Benachteiligung öffentlich artikulieren, gegen die Benachteiligung protestieren, dann könnten sie es natürlich ebenso friedlich wie auch unter Anwendung von Gewalt tun, können sie sich politisch rechts oder links – aber kaum an den Anschluss als gelungene Wiedervereinigung preisenden (Regierungs) Parteien der Mitte – orientieren.
Wenn ein beträchtlicher Teil – auf jeden Fall ein auffallender Teil – der ostdeutschen Jugendlichen sich in dieser sie benachteiligenden Situation für rechtes Gedankengut als anfällig erweist, dann hat dies u.a. damit zu tun, dass es sich z.B. bei der geschilderten Benachteiligung auf dem Ausbildungs- und Beschäftigungssektor eben nicht um eine koloniale Situation, sondern um Anschlussfolgen handelt. Die linken Bewegungen haben große Traditionen im Kampf gegen rechtliche Diskriminierung von Ausländern bzw., wie in den USA der 60er Jahre, für Gleichberechtigung der in den Südstaaten durch eine Segregationsgesetzgebung rechtlich diskriminierten afroamerikanischen Bevölkerung. Aber eine derartige Situation besteht in Deutschland gerade nicht. Vor dem bundesdeutschen Berufsbildungsgesetz oder der Handwerksordnung der Bundesrepublik sind alle Jugendlichen deutscher Staatsangehörigkeit gleich.

Sie haben in Ost und West nur ungleiche Chancen. Die Ostdeutschen ziehen in der Konkurrenz um Ausbildungs- und Arbeitsplätze oft den kürzeren. Das macht sie offen für die Argumente jener, die ihnen versprechen, wenigstens einen Teil dieser Konkurrenz zu beseitigen – die jugendlichen Ausländer. Da die sich aus Ausbildung und Beschäftigung ergebenden Probleme von den Jugendlichen eher emotional als rational erfasst werden und die vorgeschlagenen Lösungswege ebenso emotional beurteilt werden, macht es nicht viel aus, dass die geringe Zahl der ausländischen Jugendlichen in Ostdeutschland als Konkurrenz kaum ins Gewicht fällt und es rational wenig Sinn macht, sich hinter die von rechten Parteien und Organisationen propagierte Losung „Ausländer raus!“ zu stellen und davon eine Verbesserung seiner sozialen Lage zu erwarten…

Wie kann dem Einfluss der Rechten auf die ostdeutschen Jugendlichen abgeholfen werden?
Die Bekämpfung der Ausländerfeindlichkeit unter ostdeutschen Jugendlichen müsste nicht nur dort ansetzen, wo sie sich als rechte Agitation oder rechte Gewalt äußert, sondern bereits bei den sozialen Übeln, die auf Grund einer verfehlten Vereinigungspolitik vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, zu jener sozialen Schieflage geführt haben, die Jugendliche an der Gesellschaft der Bundesrepublik zweifeln, verzweifeln und (teilweise) in rechten Gruppierungen Zuflucht suchen lässt. Ein Neudurchdenken des offensichtlich keine „blühenden Landschaften“ im Sinne der Erreichung westdeutschen Niveaus in den ostdeutschen Ländern hervorbringenden „Aufbau Ost“, wie es z.B. Wolfgang Thierse mit der von ihm vom Zaun gebrochenen Diskussion zum Thema „Ostdeutschland steht auf der Kippe“ gefordert hat, könnte dabei am Anfang stehen. Natürlich wäre das nur eine Maßnahme im Kampf gegen Rechts, aber – wie mir scheint – eine ganz wesentliche.

1 Zur Definition und zum Problem des Anschlusses vgl. meine Ausführungen in: telegraph 102/103, S. 34-38.

Jörg Roesler forscht über die Industrie der DDR und der osteuropäischen Staaten und ihrer Transformation seit 1990. Gastprofessuren in Liverpool, Montreal und Toronto. Er ist Mitglied der Leibniz-Sozietät.

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