Von einem Endkampf zum nächsten – ein Bombenstart für das neue Jahrtausend

Kolumne
von Hans-Jochen Vogel
aus telegraph #105

Rechtzeitig zum Ereignis hatte mir Jens aus Dublin Edward Bonds Theaterstück The Crime of the XXIst Century (Das Verbrechen des 21. Jahrhunderts) geschickt, veröffentlicht 1999. Es zeigt eine Welt als Terrorismusbekämpfung. Ein paar Menschenwracks, einer des Attributs „menschlich“ würdigen Sprache nicht mehr fähig, als isolierte Einzelwesen in der verwüsteten Ruinenlandschaft einer gewesenen Stadt vegetierend, zerstören sie gegenseitig, was von ihnen noch übrig ist. Jenseits des Flusses das Gefängnis, aus dem gelegentlich jemand in diese Freiheit ausbricht, der dann von bewaffneten Kommandos verfolgt wird. Jenseits des Gefängnisses aber gibt es noch eine heile Welt der Privilegierten. Als Motto hat Edward Bond seinem Stück einen bekannten Ausspruch Margaret Thatchers voran gestellt: There is no such thing as society – So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Das Stück ist die Umsetzung des Ausspruchs. Gegenwärtig läuft ein Erfolg versprechender Versuch, der Umsetzung des Stückes in der Realität außerhalb des Theaters ein großes Stück näher zu kommen.

Zeitgleich mit der neuen Dimension des Terrors und des Anti-Terror-Terrors und seiner Aushöhlung und Verwirrung der Begriffe schreitet die Klimakatastrophe voran. Biopiraterie, Paten-tierung von Erbsubstanz, das Vorhaben der Menschenklonung und der Erzeugung des perfekten oder nachmenschlichen „Menschen“, die Perspektive einer vollständigen Verwandlung von Leben in Material und Ware, zeigen die Heraufkunft einer Welt an, in der der Profit mit sich allein ist und mit aller Realität auch sich selbst aufgehoben haben wird.
Alte Einsichten melden sich zurück: Kein Kapitalismus ohne Krieg – Krieg der Menschen untereinander – Krieg gegen die Natur.
Die Anschläge gegen das World Trade Center und das Pentagon – Angriffe auf die – vorerst – letzte Supermacht. Ausagieren der von ihr selbst massenkulturell verbreiteten Phantasien. Wohl dominieren die USA noch das Empire, wie es Negri und Hardt nennen, doch es ist nicht ihr Empire. Nicht aus Liebe und Treue hat sich dieses Bündnis gegen den Terror um das Land des Mr. Dabbeljuh zusammengerottet. Die Entsendung deutscher Kontingente ist doch kein bloßer Akt der Unterwerfung und kein Liebesdienst, sondern ein von eigenen Absichten und Interessen bestimmter Akt der Beteiligung an der Neuaufteilung und Neuzurichtung der Welt nach der Bipolarität.

Auch die Terroristen vom 11. September sind Produkte und Werkzeuge des Systems. Es erübrigt sich die Annahme, sie seien direkt von der CIA gesteuert worden. Die Untergangs- und Gewaltphantasien der „Kultur“ industrie, die sie real in Szene gesetzt haben, werden zur Erzeugung der Kriegs- und Vernichtungsbereitschaft benötigt und hergestellt, die für das Funktionieren der Kapitalverwertung, der Profitmaxi-mierung, des Raubes unabdingbar ist. Sie bilden mit dem militärisch-industriell-finanziellen Komplex zusammen ein Ganzes. Fundamentalismen und Ethnizismen, apokalyptische Phantasien, Endzeit- und Endkampfhysterien sind Teile der psychisch-gesellschaftlichen Konditionierung des alleinherrschenden Kapitalismus, ebenso wie dessen Verklärung zur „Moderne“ oder zur „Zivilisation“.
Die „Zivilisation“ – Frucht und Ursache der Barbarei. Die Massen-Selbstmörder und Weltuntergangs-Terroristen die legitimen Kinder und Mitspieler dieser Zivilisation.
Die Massenreaktion der gekränkte Narzißmus aller Amerikaner des Fleisches und des Geistes: die Panik über das Auftauchen des Chaos hinter der aufgebrochenen Außenhaut der Normalität; des Todes hinter dem brennenden Vorhang der falschen Sicherheit, der Macht, des Reichtums, der Unverwundbarkeit und des blühenden Lebens.
Die Maschine muss zum Halten gebracht werden, bevor sie alles und alle zerschrotet.

Die Vernichtungsdrohungen der hebräischen Propheten gewinnen unmittelbar politische Relevanz. Sie stellen Ansagen eines point of no return dar. Warum sollen sie nicht auch diesem System und allen denen, die es regieren und die von ihm profitieren – also auch uns – gelten?

Und was gab es sonst noch?
Ein Herr Schily, Minister mit SPD-Parteibuch, nimmt sich der inneren Sicherheit an. Da kann dann alles das umgesetzt werden, was rechte Law-and-Order-Freaks schon immer gewünscht haben, was die DDR zu realisieren nicht Geld und Technik hatte, und was, wenn einmal eine waschechte Diktatur heraufkäme, dieser das Handwerkszeug fix und fertig liefern würde. Es kommt einem so bekannt vor. Gerade habe ich in einem opulenten Band aus der Heldenstadt Leipzig über die DDR und ihre siegreiche Opposition geblättert: die üblichen Klischees und Versatzstücke, Hagiografie und Ikonografie aus der Sicht der Sieger der Geschichte. Es wirkt – gegen die täglichen Nachrichten aus dem Heute gehalten – völlig lächerlich und absurd. Man beginnt sich seiner oppositionellen Regungen von damals zu schämen. Aber das ist wohl bezweckt. So lässt man es dann.

Inzwischen sterben die Rebellen von einst dahin.
Der Letzte, von dem uns eine Todesnachricht erreichte, war gerade eben Thomas Brasch. Ich kann mich an eine Lesung und Diskussion mit ihm erinnern – zwischen Gefängnis und Auswanderung irgendwann. Heiner Müller hatte den Reigen – Totentanz – nach der „Wende“ eröffnet, wenn ich mich recht erinnere. Ich bin geneigt, hier auch die Anzeichen eines Umbruchs zu erblicken. Die Zeiten von Bohème, Nische, Szene, der Hof- und Hinterhofnarren der bürgerlichen Gesellschaft gehen wohl vorbei. Nicht, dass davon nichts übrig bliebe, nichts wert wäre, bewahrt zu werden. Aber für die „andere Welt“, die „möglich“ sein soll, wird auch eine Kunst nötig sein, die über die Ironisierung der bestehenden und die Darbietung des Leidens an ihrem Widersinn sich hinaus zu greifen wagt.

Postskript – aus Aufzeichnungen
22.09.2001. Gestern Abend in BBC News Hour wurde ein stock market historian Namens Schwarz (wie immer er sich schreiben mag) zur Konjunktur befragt. Die gegenwärtigen Börsenverluste stufte er als zyklisch etwa alle 5 Jahre eintretende Abschwünge ein, die danach ebenso regelmäßig durch Aufschwünge abgelöst würden. Derlei habe sich im 20. Jh. etwa 20-mal ereignet – von den damit verbundenen Weltkriegen keine Rede. Also zyklische Räubereien, „Umverteilungen“. Der aktuelle Absturz bewege sich in einer Größenordnung, wie er immer vor Kriegen zu beobachten sei. Jedoch, so schlimm sich das auch anhöre, durch den Krieg selbst würden sich dann die Gewinnchancen wieder verbessern; es müssten dann ja viele Dinge zusätzlich hergestellt werden.
Das heißt also: sie wollen den Krieg; sie wollen Zentralasien, Afghanistan, das Öl, die Ver-bindungswege. Sie wollen ihre wegrutschende Rolle als Herren der Welt nicht nur stabilisieren, sondern definitiv ausbauen. Wer nicht ihr Feind sein will, muss sich ihnen bedingungslos unterwerfen.
Die Nachrichten im Radio laufen auf die Vorbereitung eines großen Krieges hinaus. Natürlich muss man auch an die alte Strategie der USA denken: den Gegner im Unklaren lassen, unberechenbar wirken. Jedoch sprechen die benennbaren wirtschaftlichen und globalstrategischen Interessen und die gnadenlos nur am eigenen nationalen Interesse orientierte Politik der USA-Führung dafür, dass sie es ernst meinen. Sie können nicht anders, als es ernst zu meinen. Es ist das, was sie gebraucht haben. Ein Geschenk des Himmels, in dem ihr nationaler Gott wohnt, der Amerika segnet.
Wir müssen dies alles also auch ernst nehmen. Versuchen, Antikriegsaktionen zu unternehmen. Keinesfalls in die Antiterrorismus-Falle laufen. Es muss zu einer Ablehnung des gesamten kapitalistischen Terror- und Kriegssystems führen. Die Opfer von New York sind dessen Opfer ebenso wie die noch zu erwartenden anderswo.
Hier zeigt sich übrigens auch die Lächerlichkeit aller Versuche, den Schattenseiten der „Marktwirtschaft“ durch Reformen des Geld- und Kreditwesens beizukommen. Was wir erleben, ist die „Marktwirtschaft“, die gleichzeitig das Empire ist.

Hans-Jochen Vogel, Studentenpfarrer i.R., lebt in Chemnitz

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