AM ANFANG WAR DAS WORT

von Knobi
aus telegraph #106

„Marx sagt mir nichts, Sartre nie gelesen, Frankf. Schule nie gelesen, aber ich glaube, dass ein Großstadt-Intellektueller immer auf der Seite der Habenichtse zu sein hat.“ Jörg Fauser (1944 – 1987)

Am Anfang war das Wort – so steht es an exponierter Stelle – und wir wissen, dass auf den Worten die Taten folgen müssen. Und auf verschiedene Taten folgen unterschiedliche Konsequenzen.
In drastischer Abfolge erlebte dies Alexander Berkman (1870-1936), Mitstreiter von John Most und Emma Goldman, der als 18jähriger von Litauen nach Amerika auswanderte, und sich der revolutionären Arbeiterschaft, den AnarchistInnen anschloss. Als er hörte, dass der Fabrikant H.C. Frick an streikenden Arbeitern, Frauen und Kindern ein Blutbad anrichten ließ, entschloss er sich diese zu rächen (damals gab es noch so’ne Ideen). Am 6. 7. 1906 schoss er auf den Fabrikanten, der jedoch nur verletzt wurde. In einem politischen Prozess wurde Berkman zu 22 Jahren Haft verurteilt, von denen er 14 Jahre absaß. Seine Erfahrungen mit dem amerikanischen Justizsystem – welches sich bis heute nicht wesentlich in seiner Inhumanität geändert zu haben scheint – verarbeitete er in einem Buch welches 1912 in Amerika und 1927 in Deutschland erschien. Nun liegt in einer Neuauflage dieser Klassiker libertärer Literatur wieder vor:
Berkman; Die Tat. Gefängniserinnerungen eines Anarchisten. (Unrast Münster 2001 / 396 S. / 16 Euro).

Eine neuere Betrachtungsweise der anarchistischen Idee – fast pünktlich zum Millenium – erschien jetzt: Rolf Raasch / Hans Jürgen Degen; Die richtige Idee für eine falsche Welt? Perspektiven der Anarchie (Oppo Verlag Berlin 2002 / 129 S. ca. 10,30 Euro). Siebzehn Autoren, und leider keine Frau dabei, versuchen über die Perspektiven libertärer Ideen zu spekulieren. Mit unterschiedlichen Intensionen und Herangehensweisen, aber überwiegend optimistisch gestimmt, lassen sich Szenegrößen wie Ulrich Klemm, Werner Portmann, Bernd A. Laska, Ralf G. Landmesser, Uwe Porath u.a. zum Thema aus. Zwar ist die Grundstruktur der anarchistischen Idee seit Jahrhunderten unverändert, aber hier finden sich auch Ansätze, die von einer moderneren Position aus argumentieren und sicher eine gute Diskussionsgrundlage bietet, um über ein herrschaftsfreies Leben immer wieder aufs Neue zu reden.

AnarchistInnen sind ja doch oft eher IdealistInnen und die Ökonomie – wenngleich das nicht für das eben genannte Buch zutrifft – wird da gerne hinten angestellt, deshalb ist hier folgendes Buch aufs schärfste zu empfehlen: Waldemar Schindowski / Elisabeth Voß (Hrsg.); Jahrbuch nachhaltiges Wirtschaften. Ausgabe 1 (AG Spak Bücher Neu-Ulm 2001 / 341 S. / 17,50 Euro). Zu unterschiedlichen Themen wie „Nachhaltigkeit“, „Alternative Ökonomie“, „Wirtschaften mit und ohne Geld“, „Widerstand und Globalisierung“ und „Feministische Sicht“ u.a., steht hier die ökonomische Umwandlung im Vordergrund. Zu jedem Thema gibt es eine kleine Einführung und auf 44 Seiten gibt es noch Rezensionen und Literatur zum Thema.

Jetzt zur Muse und ihrer unerträglichen Leichtigkeit, oder so: Worüber ich schon immer mitreden wollte, aber nicht das Wissen hatte. Hier wird es geliefert: Thomas Ernst; Popliteratur. (EVA/Rotbuchverlag Ham-burg 2001 / 95 S. / 8,60 Euro). Eine wunderbare Einführung in das Thema: knapp, gezielt appetitmachend auf mehr. Wenn heute Medienstars á la Benjamin von Stuckrad- Barre oder Floria Illies aufgrund von Machwerken wie „Generation Golf“ einen Millionenvorschuss für Ungeschriebenes erhalten, dann bekommen diese Pickelgesichter wohl das Gefühl, dass sie das Rad erfunden hätten, aber mitnichten, mitnichten! Thomas Ernst zeigt sehr schön auf, dass „Neue Deutsche Literatur“, „Social Beat“ usw. nicht aus dem leeren Raum kommt, sondern in Kontinuität mit so wunderbaren Genies des Dadaismus, Beat-Generation, den Situ-ationisten u.a. stehen. Nicht zu vergessen den göttlichen Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975), den ersten Popliteraten. Für alle die sich mit Literatur beschäftigen wärmstens empfohlen.

Die Richtung ist nicht ganz klar bei ihm, aber er zählt sicherlich zu den besten Autoren unter den Verlegern: Klaus Bittermann; Noch alle Schweine im Rennen? (Ventil Verlag Mainz 2001, 174 S. / 11,90 Euro). Angesteckt von seiner frankophilen Liebe zu den Surrealisten und von den eigenen Autoren, greift er selbst immer wieder gerne zur Feder (wie mensch früher mal zu sagen pflegte). Ob unter Pseudonym Krimis oder wie in diesem Buch eher die Satire, Klaus Bittermann reibt sich an den kleinen und großen Widersprüchen des Lebens, die meistens in Form ausgemachter Dämlichkeit einem entgegentreten, denen man als halbwegs intelligenter Mensch so ausgesetzt ist. Klaus Bitterman schafft es dem ausgemachtesten Blödsinn unserer Zeitgenossen noch lustige Zeilen abzutrotzen, und somit eine literarische Subversion entgegenzusetzen. Sehr schön.

Mit der Literatur befinde ich mich etwas auf Kriegsfuß. Ich behaupte einfach mal, dass sie größtenteils langweilig, ja seitenweise nichts sagend ist. In den letzten Jahren sind aber einige Bücher des jungen Spokane- Indianers Sherman Alexie erschienen, die sehr belebend waren. Sein letztes: Sherman Alexie; Lachsjäger. Storys. (Goldmann Tb München 2002 / 287 S. / 8 Euro) ist wieder eine Sammlung von Storys, die es immer wieder schaffen, einen zu verblüffen. Das Buch verfügt über alles, was ich von einem guten Buch erwarte: Witz, Unterhaltendes, Lehrreiches und Trauriges, das einem die Tränen kommen könnten. Das ist Literatur – das ist Leben. Sherman Alexie, 1966 geboren, ist ein selbstbewusster Indianer, der in der weißen Welt nicht so richtig ankommen will, und das bisschen verbliebener Tradition nicht loslassen kann. ‚The Boston Globe‘ hält Sherman Alexie für „eine der wichtigsten Stimmen in der neuen amerikanischen Literatur“, und sie tun gut daran dies nicht nur auf die indigene Literatur zu beschränken, denn die USA sind schon arm genug dran. Sehr empfehlenswert!

„For ever young!“ empfinde ich eher als Drohung, denn etwas Erstrebenswertes, und so bin ich vom Rotzlöffel direkt in den Zuschauerbalkon von Waldorf & Statler der Muppet-show gewechselt. Die Tatsache aber, dass die Jugend eine Stimme braucht, bzw. sich mit ihr beschäftigt jenseits von Marktstrategie und Politkalkül, ist wichtig. Seit geraumer Zeit tut dies Klaus Farin und das von ihm gegründete ‚Archiv der Jugendkulturen‘. Im zweiten Jahr erscheint jetzt die eigene Zeitschrift Journal der Jugendkulturen Heft 6 (Verlag Thomas Tilsner Bad Tölz 2002 / 96 S. / Format: 21 x 21 cm / zahlr. Abb. / 10 Euro). Hier finden sich interessante Artikel wie z.B., über einen vermeintlichen Fall von Satanismus in West Memphis, Arkansas USA, wo drei Jugendliche drei achtjährige Kinder ermordet haben sollen, über die Goa-Szene, und über Rechtsradikalismus und Tekkno u.a.

In Zeiten, wo rechte Dumpfbacken sich in jede Musikszene einklinken, ist es wunderbar, dass endlich das politisch korrekte Standard-Buch über die amerikanische Punkbewegung vorliegt: Craig O’Hara; The Philosophy of Punk – Die Geschichte einer Kulturrevolte. (Ventil Verlag Mainz 2001 / 163 S. / zahlr. Abb. / 11,90 Euro). Nein, ganz im Ernst, wir wissen ja, dass der Begriff Punk aus den USA kommt, und nicht aus England, und Craig O’Hara erzählt über die Vorläufer des Punk, über Fanzines, Skinheads, Anarchismus, Sexualität und Ökologie.

Tja, wir waren die Guten. Wenn sich allerdings Jugendbewegungen für unpolitisch erklären – und das vehement, dann sind die Rechten nicht mehr weit. Groß in der Diskussion sind die „Schwarzen“, so nennt sich selbst eine Szene, zu der es auch ein Lexikon gibt: Peter Matzke/ Tobias Seeliger (Hrsg.); Das Gothic- und Dark Wave-Lexikon (Lexikon Imprint Verlag Berlin 2002 / 479 S. / Format: 16,7 x 23,5 cm / zahlr. Abb. / 24,90 Euro). Bei den wirklich rechten Gruppen, wie Death in June, Von Thronstahl oder Der Blutharsch, wird dann auch schon mal vorsichtig eine Nähe zu rechtem Gedankengut zugestanden. Warum die Gruppen Allerseelen und Waldteufel dann z.B. fehlen ist nicht ganz nachzuvollziehen. Ansonsten natürlich ein umfangreiches und lohnendes Kompendium für alle Fans.

Kritischer geht es dabei in dem Buch Andreas Speit (Hrsg.); Ästhetische Mobilmachung – Dark Wave, Neofolk und Industrial im Spannungsfeld rechter Ideologien (Unrast Verlag Münster 2002 / 282 S. / Abb. / 16 Euro) zu, allerdings kommen die Autoren – auch hier nur Männer – eher aus der Antifa-, als aus der „Schwarzen“- Szene selbst. Diese Tatsache regt dann oft wieder die betroffenen Jugendlichen auf, was jedoch nichts daran ändert, auf die teilweise versteckte Unterwanderung von Rechtsradikalen hinzuweisen. Eine weiterführende Diskussion, die bereits von den „Gruftis gegen Rechts“ vor Jahren angeleiert worden ist.

So, damit wäre dann mal wieder ein Teil des Bücherberges abgetragen. Der Sommer kann kommen, und somit ist die Freiluft-Lese-Saison eröffnet.

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