KINDERARBEIT MIT NATO-MPI
von Klaus Hart
aus telegraph #106
Erstaunlich spät hat jetzt die Internationale Arbeitsorganisation erstmals untersucht, wie Slumkinder im Arbeitsmarkt der Verbrechersyndikate integriert sind
Lufthansa-Maschinen mit deutschen Politikern, Konzernmanagern und Touristen steuern niedrig über Rio de Janeiros Slumhütten den nahen Airport an – unten, im Gassenlabyrinth der Favelas, gehört die „Mikrowelle“(Microonda) für den knapp dreizehnjährige Joao mit zum Banditenjob: Das Opfer wird angebunden, Autoreifen werden bis in Kopfhöhe drübergestülpt. Aus einem Kanister reichlich Benzin über den modernen Scheiterhaufen – und dann Streichholz dran. Joao fühlt sich bereits stolz als Herr über Leben und Tod. Barfuss, nur mit Shorts bekleidet, doch am Gürtel zwei Armee-Handgranaten und eine zweite Pistole, die andere demonstrativ in der Hand, dazu ein Sprechfunkgerät. Joao von Brasiliens mächtigster Verbrecherorganisation „Comando Vermelho“/ CV (Rotes Kommando) bewacht ein Drogendepot, hat ein Auge auf die Slumausgänge, vorübergehende Bewohner, erwartet Respekt. Nahten Soldados des rivalisierenden Terceiro Comando / TC (Drittes Kommando) oder gar Militärpolizisten zu einer Razzia, hätte Joao per Walky-Talky rasch einige hundert CV-Leute mobilisiert, fast alles Minderjährige, die mit deutschen oder nordamerikanischen NATO-MPI ihre Posten beziehen würden. Brasiliens Mindestlohn liegt bei umgerechnet neunzig Euro, doch Joao hat monatlich weit mehr als der Durchschnitt, über fünfhundert, kann damit locker die ganze Großfamilie unterhalten, von der die meisten arbeitslos sind. „Klar bin ich Bandit, na und? Was soll unsereiner denn sonst machen, um ordentlich Kohle zu verdienen?“ Lesen und schreiben kann Joao nicht, aber Schießen hat er bereits gut gelernt. „Wenn sich ein Polizist mit mir anlegt, feuere ich zuerst!“ Leute durch Kugeln oder Granatenexplosionen sterben sehen, Exekutionen von Gegnern zuschauen, oder der „Microonda“, ist für ihn längst nichts Neues mehr. Zehntausende Rio-Kids wie er müssten frühmorgens aus den H?????A?ºangslums zu den öffentlichen Schulen hinuntersteigen – aber bleiben lieber oben. Schule ist langweilig, bringt nichts, finden auch die Eltern. Anstatt in total überfüllten Klassenzimmern zu hocken, erleben die Kids lieber richtige Abenteuer, Spannung, wie in den importierten Brutalo-Filmen aus der Ersten Welt – und haben auch noch weit mehr Real in der Tasche als die Eltern. Merkwürdig spät wollte die Internationale Arbeitsorganisation/IAO in Genf genauer wissen, wie diese Art von Kinderarbeit in der immerhin achtgrößten Wirtschaftsnation, dem laut Kanzler Schröder wichtigsten deutschen Industriestandort Lateinamerikas funktioniert, welche Motive die Minderjährigen antreibt. Auffälligstes Resultat: obwohl es in Millionenstädten wie Rio de Janeiro inzwischen mehr Schulen für Slumkinder gibt, hat das die Attraktivität des organisierten Verbrechens nicht vermindert, ihm keine jugendlichen „Arbeitskräfte“ entzogen. Ganz im Gegenteil – jeden Tag werden mehr angeworben. In zweiundfünfzig Rio-Slums befragten die IAO-Experten junge Gangster und hörten immer dasselbe: „Warum soll ich jahrelang zur Schule gehen, wenn mir das später weder beruflichen noch finanziellen Nutzen bringt?“ Denn der Unterricht hat ein extrem niedriges Niveau – kein Vergleich mit den unerschwinglichen Privatschulen für die Kinder der Mittel- und Oberschicht, die folgerichtig später alle besserbezahlten Jobs besetzen. Brasilien hat rund 170 Millionen Einwohner – die Hälfte der brasilianischen Beschäftigten verdient monatlich nur umgerechnet bis zu 170 Euro, fünfunddreißig Millionen kommen sogar nur auf höchstens vierzig Euro. Kanzler Schröder schritt in Sao Paulo am arbeitsfreien Aschermittwoch mit Unternehmertross forsch durch leere Fabrikhallen von VW do Brasil, Lateinamerikas größtem Privatunternehmen, gezeichnet von Konflikten mit den Automobilarbeitern, die nur rund ein Fünftel des Lohns ihrer deutschen Kollegen haben. Da ist die Gehaltstabelle der global verzahnten Verbrechersyndikate in den rasch wachsenden Slums aber verlockender: Wer etwa als Acht- bis Neunjähriger dazu eingeteilt ist, als „Olheiro“ oder „Soldado“ Rauschgiftdepots zu bewachen, Ausschau nach Polizisten, „verdächtigen“ Personen zu halten, kann bereits in der Woche umgerechnet bis zu fünfhundert Euro verdienen – wer als „Endolador“ harte Drogen abpackt, kommt sogar auf siebenhundert. Und wer sie als „Vapor“ mitverkauft, etwa zur Hauptkundschaft in den Mittelund Oberschichtsvierteln bringt, hat auf jeden Fall monatlich noch weit mehr in der Tasche, für brasilianische Verhältnisse ein Topgehalt. Weit mehr als Mutter und Vater zusammen zu verdienen, sofern diese irgendwo fest angestellt sind, ist schon einem Zehn- bis Vierzehnjährigen absolut garantiert.
JOB-MOTIV : VIEL GELD UND „ADRENALINA“
Immer ausreichend Geld zu haben, ob für teure Markenklamotten oder neue Tennisschuhe, gilt daher als Hauptmotiv, die Schule sausen zu lassen – gefolgt vom Faktor „Adrenalina“. Normale kindliche Abenteuerlust, sagen selbst katholische Padres, wird von den Banditen schamlos ausgenutzt, „in den Köpfen der Jungen werden diese zu Helden und Vorbildern.“ Bereits als Minderjähriger Prestige und Macht zu haben, ist ein weiteres Motiv. Denn außerhalb, in den Cities, in den schicken Strandvierteln Ipanema, Leblon und Barra da Tijuca spüren die Heranwachsenden die „soziale Apartheid“ Brasiliens, unnütz, ein Nichts, überflüssig zu sein und entsprechend behandelt zu werden. Doch mit der NATO-MPI umgehängt, lässig durch die Favela zu schlendern, Respekt und Unterwerfung zu fühlen – das wertet auf, stärkt das Selbstbewusstsein. Außerdem sind die meisten Slummädchen richtig scharf auf die Jungbanditen, suchen mit ihnen bevorzugt eine Partnerbeziehung. „Für die Mädchen verkörpert der Gangster Attraktivität, Schönheit, Erstrebenswertes, gar ein Lebensideal.“ Zwei Vierzehn-Fünfzehnjährige, Bikini-Oberteil, superkurze Shorts, wachsende Bäuche, erklärten stolz, von zwei Top-Gangstern schwanger zu sein. „Hier oben ist es spannend, geil, richtiges, echtes Abenteuer!“ Selbst laut offiziellen Statistiken der Mitte- Rechts-Regierung des FU-Berlin Ehrendoktors Fernando Henrique Cardoso besucht über die Hälfte der Fünfzehn- bis Vierundzwanzigjährigen in den rund achthundert Slums von Rio keinerlei Bildungseinrichtung, gab zumeist jegliche Arbeitssuche auf, hängt nur rum. „Eine fabelhafte Arbeitskraft- Reserve fürs organisierte Verbrechen“, wie die Experten konstatierten. Etwa neunzig Prozent der befragten Kindersoldaten rauchen zwar Haschisch, aber nur fünfzehn Prozent nehmen Kokain: „Die Kinder sagen, diese Droge mache unruhig, verhindere klares Denken – könnte also bei der Arbeit stören.“ Dass CV und TC Kinder einstellten, sei ein neues Phänomen, habe es vor 1995 noch nicht gegeben. Komplett falsch, mindestens seit Mitte der achtziger Jahre werden selbst Straßenkinder rekrutiert.
„KRIEGERIN DES LICHTS“ IN DEUTSCHEN KINOS
Auch Yvonne Bezerra de Mello, Künstlerin, verheiratet mit dem schwerreichen Besitzer der Othon-Hotelkette, weiß es besser, widmet sich schließlich seit Jahrzehnten den Straßen- und Slumkindern Rio de Janeiros, wurde zur Sozialexpertin, schreibt systemkritische Bücher, spricht auf internationalen Konferenzen. Und weiß, was mit Minderjährigen passiert, die bei kriminellen Aktionen nicht mitziehen, schwer drogensüchtig werden, statt Profit Verluste einbringen. „Die werden eliminiert, die Leichen lässt man verschwinden“, sagt sie zum telegraph. „In den Slums gibt es Ställe mit Schweinen, die Überreste von Kindern auffressen. Oder auch das: Ein Junge, oft nur dreizehn Jahre oder jünger, muss dem an einen Baum gefesselten Opfer mit einer Rasierklinge solange ins Fleisch schneiden, bis es stirbt, sogar das Herz wird herausgetrennt – alles zur Einschüchterung der Slumbewohner.“ So nahe dran an dieser gerne verdrängten Brasilienrealität, kennt sich Yvonne Bezerra de Mello natürlich auch mit den Heereswaffen der „Soldados do Morro“ aus, sagte schon vor Jahren: „Wenn mir hier in Rio ein Schweizer was über Neutralität erzählt, lache ich laut auf. Die hochmodernen schweizerischen Sing-Sauer-Sturmgewehre werden jetzt von den Gangstern am meisten importiert.“
KLISCHEE UND REALITÄT
Yvonne Bezerra de Mello kennt auch die anderen Normendiktate von Rios Taliban, die denen der echten nicht nachstehen: Diebstähle werden mit Handabhacken bestraft, Vergewaltigungen durch Kastrieren oder Erschießen. Jedermann muss Drogen, Waffen, Raubgut, bei Razzien selbst Banditen in seiner Kate verstecken, zeitweilige Ausgangssperren ab zweiundzwanzig Uhr einhalten. Und vor allem – zu niemandem ein Wort über interne Slumvorgänge, über die Banditen – nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Derzeit ist die mutige, eigenwillige Sozialarbeiterin in den deutschen Kinos zu sehen – die avantgardistische Regisseurin Monik?????A?ºa Treut hat im Streifen „Kriegerin des Lichts“ wenigstens einen Teil ihres Rio-Alltags nachgezeichnet. Teile der Oberschicht feinden Dona Yvonne an – Monika Treut ist das natürlich aufgefallen. Über die Verbindungen von Politik, globalisierter Wirtschaft und organisiertem Verbrechen weiß die Filmheldin mehr als genug, reagiert nur zu oft zwangsläufig tiefironisch. „Die wirklich großen Gangster, die eigentlichen Bosse, wohnen nicht in Slums, sondern in den Nobelvierteln Rios, bleiben ungestört, unangetastet.“ Und die sind die eigentlichen Arbeitgeber der Kindersoldaten.
LINKSPOPULISTEN POLITISCH MITVERANTWORTLICH
Direkter Nachbar des größten Othon-Hotels der Copacabana ist Leonel Brizola, schwerreicher Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, mehrfacher Gouverneur des Teilstaates Rio de Janeiro, Parteichef der linkspopulistischen Arbeitspartei PDT. Menschenrechtler werfen ihm vor, das organisierte Verbrechen hochgepäppelt zu haben – im Tausch gegen politische Unterstützung. Schließlich stellen die leicht manipulierbaren Slumbewohner ein wichtiges Wählerpotential dar, kreuzen auf dem Wahlzettel an, was der Slumboss befiehlt. Derzeit ist in Rio die linkssozialdemokratische Arbeiterpartei PT mit am Ruder – die auch in der deutschen drittweltbewegten Szene hochgelobte schwarze PT-Politikerin Benedita da Silva wurde sogar Gouverneurin. Was in ihrer mehrjährigen Amtszeit unternommen wurde, um die Herrschaft der neofeudalen Banditenmilizen über die Slums zu brechen, aus Kindersoldaten wieder Schulkinder zu machen, zeigt die neue IAO-Studie – nichts. Unter Benedita da Silva floriert, was die IAO zu den „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“ zählt. Sogar Vierzehnjährige erreichen inzwischen Chefposten, mit Traumgehältern. Und selbst große Unternehmen unterwerfen sich den Terror-Regeln, Mitarbeiter nutzen sie makabrerweise manchmal für ihre Zwecke: Letztes Jahr stehlen Frauen in einem Supermarkt der französischen Carrefour-Kette einige Flaschen Sonnenschutzmilch, werden erwischt und Banditen des angrenzenden Slums zur „Bestrafung“ übergeben. Die richten die Frauen per „Microonda“ hin. Die Zahlen sprechen für sich: Seit die Militäraktionen in Afghanistan begannen, kamen dort weniger Menschen gewaltsam ums Leben als zur selben Zeit in Brasilien. Im Jahr 2000 wurden in Deutschland laut BKA 1015 Personen ermordet, in Brasilien, mit etwa doppelter Bevölkerungszahl, jedoch über vierzigtausend – zumeist in den rasch wachsenden Slums. „Die Slumbewohner sind Geiseln der Banditenmilizen, werden unterdrückt, weil der Staat abwesend ist“, konstatiert erst unlängst Marcelo Itagiba, Chef der Bundespolizei in der Zehn-Millionen- Stadt Rio de Janeiro, deren Bruttosozialprodukt immerhin das von ganz Chile übertrifft. Selbst Staatschef und Berliner Ehrendoktor Fernando Henrique Cardoso kuscht vor den global verflochtenen Gangstersyndikaten, erkennt de facto deren Herrschaftsgebiete im rechtsfreien Raum der Favelas an, toleriert die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen. 1995, nach seinem Amtsantritt, verzichtet Cardoso angesichts starker Banditenpräsenz lieber auf den groß angekündigten Besuch im Rio-Slum Vigario Geral, wo Militärpolizisten zuvor einundzwanzig Menschen massakriert hatten.
BRASILIEN ZWEITGRÖSSTER KOKAINMARKT
Dass schon Kinder zu Topverdienern werden, erklären allein schon die immensen Profite aus dem Drogenhandel: Selbst laut Polizeiangaben setzen CV und TC allein in Rio de Janeiro monatlich sechs Tonnen Kokain um; in Sao Paulo, mit über eintausend deutschen Firmen, etwa ebensoviel. Gleich nach den USA ist Brasilien zweitgrößter Kokainverbraucher. Selbst Brasiliens Bischofskonferenz prangert an, dass in den Slums ganze Generationen von Minderjährigen mi?????A?ºt völlig verzerrten ethisch-moralischen Werten aufwachsen, „nämlich Gangsterwerten, der Gewalt, des Unrechts und der Rache“. Kindersoldaten, andere gravierende Menschenrechtsprobleme – alles kein Thema, wenn Schröder oder Fischer in Rio, Sao Paulo, Brasilia einfliegen. Prinz Charles hielts beim Besuch in zwei Favelas von Rio genauso, ließ sich von Karnevalsmulattinnen umtanzen, der übliche Zirkus wie immer, wenn europäische Politiker kommen. Prinz Charles, wie Schröder von Unternehmern begleitet, hatte schließlich Wichtigeres in Brasilien vor – britische Militärjets verkaufen.
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