KEIN AUSSEN UND KEIN INNEN

KOMMUNISTISCHES MANIFEST FÜR DIE CYBER-LINKE?
von Andreas Fanizadeh
aus telegraph #106

Kein Buch wird derzeit so heiß diskutiert wie „Empire“ von Antonio Negri und Michael Hardt. Die beiden Neomarxisten haben keine Furcht vor der Globalisierung und sondieren das Terrain für eine künftige Linke.
Bereits die englischsprachige Ausgabe von „Empire“ hatte einen Siegeszug durch die europäischen und nordamerikanischen Medien angetreten. Nun erschien die deutsche Erstauflage und war im April binnen vier Wochen verkauft. Der Campus Verlag hatte vorsichtig kalkuliert (5000 Stück, das Exemplar für stolze 35 Euro) und wurde vom Interesse überrascht. Seit Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Felix Guattari hat kein Entwurf aus der Tradition der Neuen Linken mehr für solches Aufsehen gesorgt. Dabei stehen Antonio Negri und Michael Hardt in der besten Tradition des westlichen Marxismus. Sie theoretisieren empirisch feststellbare Veränderungen des globalen Kapitalismus und versuchen daraus – kraft der Negation – utopische Momente zu gewinnen.
Nach Negri und Hardt betreibt der globale Kapitalismus die Deterritorialisierung einer bislang nationalstaatlich regulierten (Welt)Politik. Damit würden auch die historischen Formen des Imperialismus im Übergang zum weltumspannenden Empire obsolet. Zudem schafft der globalisierte Kapitalismus neue Formen von Arbeit und Produktion („immaterielle Arbeit“), die zu einer veränderten Klassenzusammensetzung führen. Entwicklungen, die die beiden Theoretiker nicht nur feststellen, sondern ausdrücklich begrüßen: „Wir können nicht zurück zu irgendeiner früheren Gesellschaftsform und nicht vorwärts in die Isolation.“ Sie kritisieren damit auch ein konservatives linkes Milieu, das gegen „die Globalisierung und Macht der Konzerne“ wettert und dabei den bürgerlichen Nationalstaat verteidigen und stärken möchte. Negri und Hardt halten die Herausbildung des globalen Kapitalismus und seiner Ordnung des Empire auch für eine produktive Realität und sondieren auf diesem Terrain die Möglichkeiten für Emanzipation und Befreiung.
DETERRITORIALISIERUNG UND NATIONALSTAAT
Nach ihren Auffassungen gibt es „in der Konstitution des Empire kein ‚Außen‘ der Macht und von daher auch keine schwachen Glieder mehr“. So hat die politische Geographie „die Grenzziehungen verflüssigt“. Damit sind die taktischen Überlegungen der alten Revolutionstheorie „unwiderruflich überholt; und die einzige den Kämpfen offen stehende Strategie ist die einer konstituierenden Gegenmacht, die aus dem Innern des Empires kommt.“ Dies liegt vor allem an der jüngsten technisch-ökonomischen Entwicklung. In den heutigen Gesellschaften steht die „Fabrik zerstreut an verschiedenen Orten“. Die Informatisierung der Industrie und die zunehmende Dominanz von Dienstleistungen hat die Konzentration industrieller Produktion an einem einzigen Ort unnötig gemacht. Telekommunikations- und Informationstechnologien treiben die „Deterritorialisierung der Produktion“ voran. Auch die national orientierten Gewerkschaftsverbände haben dies in letzter Zeit immer wieder feststellen müssen. Das Kapital kann sich sehr viel einfacher als früher den „Verträgen mit einer bestimmten lokalen Bevölkerung entziehen“. Vor Konflikten weicht es an andere Orte des „globalen Netzwerks“ aus.
Die Bewegungen im Netzwerk des Empires gehen aber nicht von einem Punkt in eine Richtung. So wie die industrielle Produktion in „beherrschte Länder exportiert wurde, von den USA und Japan etwa nach Mexiko und Malaysia“, so befindet sich ein Teil der Metropolen im Zustand der Peripherisierung. Die national geschützten Territorien und die Idee des Wohlfahrtsstaats sind in Auflösung begriffen. In den Worten Negri und Hardts: „Die „Dritte Welt“ verschwindet im Prozess der Vereinheitlichung des Weltmarkts nicht wirklich, sondern tritt in die „Erste Welt“, in deren Herzen als Ghetto, Barackensiedlung oder Favela, ein, wird immer produziert und reproduziert.“ Das hat weitreichende Folgen, speziell auch für die Geographie des urbanen Raums. Mike Davis hat die neuen Sicherheitsdispositive und ihre Festungsarchitektur am Beispiel von Los Angeles in „City of Quartz“ (1994, dt. Schwarze Risse) beschrieben. Die identischen Bunkeranlagen und Shopping Malls der „Global Cities“ finden sich mit den identischen Markenwaren und Preisen heute auch in den Finanz- und Dienstleistungszentren des Südens.
Die derzeitige Deterritorialisierung der Produktion sollte nach Negri und Hardt nicht nur negativ als Momente von Ausschluss, Hierarchisierung und Deregulierung begriffen werden. In Anlehnung an die Postcolonial-Diskussion beziehen sich die beiden durchaus positiv auf die „Hybridität“ einer neuen, weltumspannenden Unternehmenskultur. In den „alten modernen Formen rassistischer und sexistischer Theorie“ – wie sie etwa der rechte Populismus in Europa repräsentiert – sehen sie „die expliziten Feinde“ dieser neuen Unternehmenskultur.
Die neuen Hybridlinge der globalen Unternehmen sind hingegen auch, aber eben anders, rassistisch. Sie vertreten wie dies Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein in „Rasse, Klasse, Nation“ (1990, dt. Argument) darlegten, den derzeit in den kapitalistischen Zentren dominanten und herrschaftlichen Typus des „differentialistischen Rassismus“. Dieser betont statt der biologischen die kulturellen Unterschiede der Menschen nach territorialer Herkunft, dies nicht immer in abwertender Absicht. Die Ideologie dieses Multikulturalismus dient aber als eine Variante des Rassismus, um die Klassenspaltungen im „globalen Empire“ und seinen „Melting Pots“ entlang biologistisch- territorialer Abstammungslinien zu reproduzieren. Der differentialistische Rassismus impliziert allerdings „eine pluralistische Haltung“ und ist, so hoffen Negri und Hardt, schon deswegen auch an der Dekonstruktion völkischer Nationalmythen beteiligt.
Nach den Erfahrungen aus den antikolonialen Befreiungskämpfen und den parteikommunistischen Regimes heben die Autoren die Ambivalenz einer (national-)staatlich orientierten Politik hervor. „Von Indien bis Algerien, von Kuba bis Vietnam, der Staat ist das vergiftete Geschenk nationaler Befreiung.“ Vor den Gespenstern biologistisch vorgestellter Volks- und Nationenkörper suchen sie Zuflucht in der postmodernen Welt, in der „alle Phänomene künstlich oder, wie manche sagen würden, Teil der Geschichte“ sind. Hier ist an die Stelle der alten „modernen Dialektik von Innen und Außen ein Spiel der Gradunterschiede und Intensitäten, von Hybridität und Künstlichkeit getreten“. Sie wünschen sich, dass „die internationale Solidarität den Nationalstaat zerstören und eine neue weltweite Gemeinschaft aufbauen“ möge.

IMMATERIELLE ARBEIT UND KLASSE
Im Duett rufen Michael Hardt, der knapp 40-jährige Literaturwissenschaftler aus North Carolina und Toni Negri, der 69-jährige frühere Staatsrechtsprofessor aus Padua ihre LeserInnen immer wieder zu Subversion und Verweigerung auf. Dass dies zwar mitunter ziemlich pathetisch, aber nur an manchen Stellen peinlich klingt, macht einen Teil der Qualität ihres philosophischempirischen Manifests aus.
In den Siebziger Jahren vertrat Negri die Ideen der „Autonomia“. Er wurde vom italienischen Staat strafrechtlich verfolgt und 1979 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung zu 13 Jahren Haft verurteilt. 1983 wurde er über die „Radikale Partei“ ins Parlament gewählt und konnte sich ins Exil nach Frankreich absetzen. Im Auftrag französischer Ministerien erstellte er zusammen mit anderen exilierten Intellektuellen in Paris empirische Studien zu den Veränderungen der Fabrikarbeit im Veneto und Norditalien, zu Benetton und zu Sentier in Paris. 1997 kehrte er nach Italien zurück und wurde erneut inhaftiert und lebt heute unter Meldeauflagen in Rom. In früheren Schriften wie „Autonomie und Separation“ (1993, dt. in: Negri u.a., „Umherschweifende Produzenten“, ID Verlag 1998) ging er bereits der Frage nach, wie aus kämpferischen Arbeitern, die der Autonomia nahe standen, „politische Unternehmer“ wurden, „kleine Einheiten, die verteilt im Territorium arbeiten, die Produktionskosten auf jede nur erdenkliche Art senken und dabei Verwandte und Kinder bisweilen erbarmungslos ausbeuten.“ Negri versuchte als „ein politischer Militanter aus den siebziger Jahren“, analytisch zu verstehen wie sich Arbeiter der früheren „guerilla diffusa“ in Produzenten einer „industria diffusa“ auflösten und Phänomene wie die „parafaschistische Lega-Bewegung“ in Norditalien aufkamen.
Negri und Hardt verwenden in „Empire“ „einen weiten Begriff von Proletariat und fassen in dieser Kategorie all jene, deren Arbeitskraft direkt oder indirekt ausgebeutet wird und die in Produktion und Reproduktion kapitalistischen Normen unterworfen sind.“ Das wird den ein oder anderen Marxologen fuchsig machen, hat aber nachvollziehbare Gründe. Bislang war der Begriff Proletariat mehr oder weniger exklusiv der industriellen Arbeiterklasse vorbehalten. Dies ist nach Negri und Hardt in der „neuen Informationsökonomie“ empirisch unhaltbar, da der gesellschaftliche Reichtum zunehmend durch „immaterielle“ Produktion akkumuliert werde. Die „Produktion von Dienstleistungen“ zielt auf nicht haltbare Güter. Die Arbeit, die in diesem Prozess der Produktion verrichtet wird, bezeichnen sie mit Maurizio Lazzarato „als immateriell – das heißt als eine Arbeit, die immaterielle Güter wie Dienstleistungen, kulturelle Produkte, Wissen oder Kommunikation produziert“. Die Informatisierung der Produktion und das Auftreten immaterieller Arbeit führten zudem zu einer globalen Homogenisierung der Arbeitsprozesse und zur Angleichung von Lebenslagen. Parallel zu den fast vollständig „delokalisierten Produktivkräften“ kommt es zu den großen Migrationen unserer Zeit, auch „eine wichtige Konsequenz der Tendenz zur Einheit des Weltmarkts“, die nicht mit Grenzbefestigungen und Lagersystemen aufzuhalten sei.
Die Einwanderungsgesellschaften der Neuen Welt, insbesondere die der USA, werden von Negri und Hardt sehr wohlwollend betrachtet. In den, unter den Bedingungen des New Deal und des Zweiten Weltkriegs in den USA zerschlagenen, Industrial Workers of the World (IWW) sehen sie „das große Augustinische Projekt der Moderne“. Die „Wobblys“ des IWW verkörperten für sie „organisatorische Mobilität“ und „ethnischsprachliche Hybridität“. Das klingt allerdings nicht nur sozialromantisch, sondern gleitet zunehmend in ethnisch definierte Zuschreibungen ab. Auch an einigen weiteren Stellen argumentieren Negri und Hardt weiterhin erstaunlich essentialistisch. So fordern sie einen „anthropologischen Exodus“ und affirmieren dabei letztlich die Schwächen und Abgrenzungsrituale alter autonomer Identitätsund Lebensweltpolitiken.
„Ästhetische Mutationen des Körpers“ durch Piercing, Tätowierungen oder Praktiken des Punks interpretieren sie unmittelbar als „erste Anzeichen“ einer „körperlichen Transformation“. Dabei gerieren sie sich noch als „weitaus radikaler“ als die von ihnen zitierten „Cyberpunk-Autoren“: „Der Wille dagegen zu sein, bedarf in Wahrheit eines Körpers, der vollkommen unfähig ist, sich an familiäres Leben anzupassen, an Fabrikdisziplin, an die Regulierung des traditionellen Sexuallebens usw.“ Trotz solcher Rückfälle in alte schematische Deutungsmuster erkennen sie „die wachsende Ununterscheidbarkeit ökonomischer und kultureller Phänomene“ und liefern in anderen Passagen Argumente für eine neue – mehrdeutige – oppositionelle Praxis.

IMPERIALISMUS UND EMPIRE
Zur Logik des Kapitalismus gehört, dass er immer expandieren muss und dadurch auch den Weltmarkt schuf. Soviel ist unumstritten. Das Kapital kann den Surplus nur aus Arbeit, neuen (nicht kapitalistischen) Märkten, Rohstoffen und Maschinen ziehen. In der Ordnung des Empire scheint so der Grundwiderspruch weiter zu bestehen, dass der Kapitalismus auf ein Außen angewiesen ist. Negri und Hardt gehen aber davon aus, dass nach Auflösung der nationalstaatlichen Schranken, das Kapital sich über die Netzwertökonomie benötigte zusätzliche Produktionsmittel aneignet, „ohne notwendigerweise die jeweiligen Umgebungen zu kapitalisieren“. Nationalstaat und Imperialismus seien von daher nicht mehr von konstitutiver Bedeutung. Joachim Hirsch, einer der führenden europäischen Theoretiker des marxistischen Regulationsansatzes, hält die Thesen von Negri und Hardt für puren „Ökonomismus“. Nationalität sei weiterhin „ein zentrales Element in der institutionellen Matrix des kapitalistischen Staates“. (2001, „Die Zukunft des Staates“, VSA)
Negri und Hardt halten die Existenz des Empires jedoch „in Form einer unbegrenzten und einschließenden Architektur“ bereits für eine empirisch begründete Tendenz. Jeder imperiale Krieg sei von daher heute „ein Bürgerkrieg, eine Polizeiaktion – von Los Angeles und Granada bis nach Mogadischu und Sarajevo“. Das Empire sei ähnlich dem Internet als ein virtueller Ort, ein Nicht-Ort zu begreifen, dem es vor allem darum geht, seine Netzwerk-Macht auszuweiten. Schon im Golfkrieg hätten deswegen die „USA als Weltpolizist nicht im Interesses des Imperialismus, sondern im Interesse des Empires“ gehandelt: „So wie die römischen Senatoren im ersten Jahrhundert n. Chr. Augustus baten, im Interesse des Gemeinwohls die kaiserliche Regierungsmacht zu übernehmen, so bitten heute die internationalen Organisationen (Uno, internationale Finanzorganisationen, aber auch humanitäre Organisationen) die USA, die zentrale Rolle in einer neuen Weltordnung zu übernehmen.“ Negri und Hardt spüren die „Umrisse einer neuen globalen Hierarchie der Produktion“ auf. Manche Gebiete sind von Kapitalströmen und Technologie komplett abgeschnitten, andere befinden sich in einer mittleren Position und können nur durch eine Informatisierung der Produktion wettbewerbsfähig werden. Aber auch wenn große Konzerne, wie Negri und Hardt feststellen, faktisch die Rechtsprechung und Autorität nationaler Staaten hinter sich gelassen haben, lässt sich deswegen tatsächlich behaupten, „dass eine geografische Zuordnung großer Zonen zum Zentrum oder zur Peripherie, zum Norden oder Süden nicht mehr möglich“ sei? Auch die großen Konzerne scheinen weiterhin auf ein nationalstaatlich reguliertes Akkumulations- und Reproduktionsregime angewiesen zu sein. So könnte der zuletzt zunehmende militärische Interventionismus von Nato und USA vor allem der geostrategischen Sicherung nationalökonomischer Privilegien des Nordens dienen. Eine doch dann ziemlich alte Methode. Empire hat den Stoff für noch viele Debatten.

Andreas Fanizadeh ist Redakteur der Zeitschriften Subtropen und WOZ und Mitarbeiter des ID Verlages, er lebt in Berlin + Zürich.

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