ANTIKRIEGSBEWEGUNG IN DER KRISE?

von Andrej Holm
aus telegraph #108

Tag X in Berlin. Tausende Menschen sind zur Demonstration auf den Berliner Alexanderplatz gekommen. Das gesamte Spektrum der neuen deutschen Friedensbewegung gibt sich ein Stelldichein. Alle möglichen sozialistischen Kleingruppen agitieren mit dem etwas angestaubten „Kein Blut für Öl“, Linksruck und Attac sind „Gegen den Irakkrieg“, mit dabei auch VertreterInnen der rot-grünen Regierung und der PDS, die das „Alte Europa“ in Anschlag bringen, die FriKo erinnert an die letzten Kriege mit Bundeswehrbeteiligung und die kirchlichen Pazifisten sind sogar gleich gegen jede Gewalt… Doch geprägt wird das Bild von vielen, die einfach nur wütend sind über die Arroganz der Weltmacht und SchülerInnen, die nicht verstehen wollen, warum trotz weltweiter Proteste und anders lautender UNO-Beschlüsse ein Krieg begonnen wird. Die Friedensbewegung anno 2003 ist ungefähr so, wie wir sie uns schon immer vorgestellt haben.
Nur die radikale Linke der Stadt, die zu früheren Kriegen das Protestgeschehen prägte, ist so gut wie nicht zu sehen. Ein kleiner ‘antikapitalistischer Block’ von etwa 300 Leuten hat zwar den größten Lautsprecherwagen und die schönsten Transparente, doch die Stimmung ist eher kleinlaut und verzagt. So richtig wohl fühlen sich die Antikapitalisten nicht inmitten der Friedensdemonstration – für eigene Akzente sind sie jedoch viel zu wenige. Also gehen sie – eingeschlossen vom unvermeidlichen Polizeispalier – irgendwo am Anfang der Demonstration mit. Eigentlich wollen alle zur US-Botschaft, doch die polizeilich genehmigte Route lässt dies nicht zu. So trottet dann der Block der Linksradikalen mit der Polizei im Schlepptau auch treu der vorgegebenen Wegstrecke hinterher.
Nicht, ohne noch einmal ihre grundlegende Opposition zum Krieg und zum System überhaupt zu betonen. Erst hunderte Meter später wird deutlich, dass sich der Block der Linksradikalen und die Polizei allein auf der genehmigten Strecke bewegen. Alle anderen, die Friedensbewegten und die Regierungsanhänger, die SchülerInnen und die PazifistInnen haben einfach die Polizeisperren beiseite geräumt und sind zur US-Botschaft gegangen.
Was klingt wie ein lustiger Tratsch über die linksradikale Szene in der Stadt ist leider symptomatisch für den derzeitigen Stand der Antikriegsmobilisierungen in der BRD. Der folgende Text setzt sich mit den Bedingungen, Stärken und Schwächen der Antikriegsproteste auseinander. Antikriegsbewegung meint dabei eine von der Friedensbewegung sowohl inhaltlich als auch von den Aktionsformen her unterscheidbare Strömung der radikalen Linken. Als Antikriegsbewegung wird im Kontext des Beitrages eine antistaatliche und antiimperialistische Opposition gegen die kriegerischen Verhältnisse im Hier und Heute verstanden, die auch militant (im Sinne von Ernsthaftigkeit und Grundsätzlichkeit) attackiert werden.

Antimilitarismus: vom linken Identitätskern zur marginalen Position
Antimilitaristische Positionen waren in den linksradikalen Strömungen der BRD und auch der DDR historisch immer im Set der politischen Identität verankert. Von den Protesten „Gegen die Wiederbewaffnung der Bundeswehr“ in den 50er Jahren über das „Zerschlagt die NATO“ der StudentInnenbewegung bis hin zu Protesten gegen Gelöbnisse und militärische Zeremonien in den 80er Jahren. Von den Demonstrationen und Aktionen gegen das Atomare Wettrüsten, über Wehrdienstverweigerungen und gestoppte Rekrutenzüge bis hin zur Behinderung von Waffenhandel und direkter Sabotage an den militärischen Infrastrukturen: das Aktionsrepertoire der antimilitaristischen Praxis war weit gestreut.
Trotzdem ist es in den 90er Jahren und bis heute kaum gelungen, angemessen auf die aktive Kriegspolitik der BRD zu reagieren. Verlor sich bereits im Irakkrieg 1991 der Widerstand in zunehmende Bedeutungslosigkeit, so waren es gegen den Jugoslawienkrieg von Anfang an nur wenige, die sich an den Protesten beteiligten und auch die Aktionsformen waren überwiegend harmlos und symbolisch. Nach dem 11. September war die Antikriegsbewegung scheinbar vollends paralysiert und eingeschüchtert. Das kurze Strohfeuer von Protesten zum ‘Tag X’ (zu Beginn des Afghanistankrieges 2001) war schnell erloschen.
Am 16. November 2001 beschließt der Deutsche Bundestag in Berlin die Entsendung von Soldaten und Spezialkräften in den vorgeblichen ‘Krieg gegen den Terror’, der von der Bush-Administration ausgerufen wurde. Die Reaktion der Linken in der Stadt: fast Null. Nur einige Dutzende DemonstrantInnen säumen den Bannkreis und halten Vorübergehenden und BundestagsmitarbeiterInnen ihre Plakate und Transparente gegen den Krieg entgegen. Eine versuchte Straßenblockade scheitert am Unwillen zur Konfrontation bei den AntikriegsaktivistInnen. Während eine kleine Gruppe versucht auf die Fahrbahn zu gelangen, bleibt der Rest am Rande stehen und beobachtet von dort den Polizeieinsatz. Um den Zustand der Antikriegsbewegung perfekt zu symbolisieren fehlte eigentlich nur noch der Regen.
Stattdessen ist es inzwischen sogar en vogue auf Veranstaltungen zu fragen „Ob eine ‘Nein’ zum Krieg überhaupt eine linke Position sein kann?“ (Die Jungle World, das Flaggschiff der postautonomen Westlinken diskutierte diese Frage ganz ernsthaft auf mehreren Veranstaltungen mit sich ebenfalls links fühlenden Kriegsbefürwortern). Paradoxerweise haben sich gerade linksradikale Antikriegsüberzeugungen genau in dem Moment aufgelöst, an dem die BRD wieder aktive Kriegspartei geworden ist und eine aktive Antikriegspolitik nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig gewesen wäre. Einige glauben sogar, in der Friedensbewegung ein „ethisches Unterstützungskommando der deutschen Außenpolitik“ (Phase 2, Nr.6) wenn nicht gar Schlimmeres zu entdecken. Die gegen den Irakkrieg aufbegehrende Friedensbewegung in der BRD scheint das Paradox zunächst einmal zu bestätigen: Eine starke Antikriegsstimmung gibt es in Deutschland tatsächlich nur, wenn andere Krieg führen. Ich werde im Folgenden aber nicht bei solchen historischen Kurzschlussanalysen stehen bleiben, sondern versuchen, der Sache auf den Grund zugehen.

Die Schwäche der Antikriegsbewegung
Das es im Moment keine wirkungsvolle Antikriegsbewegung gibt ist deutlich – worin ihre tatsächliche Schwäche besteht, wird selten gesagt. Aus meiner Perspektive sind es vor allem folgende Punkte:

Inhaltliche Stagnation
Von der veränderten internationalen Situation (Wegfall der Blockkonfrontation; erstarkte Interessenkonkurrenz innerhalb des westlichen Lagers; Übergang vom Wettrüsten zur Weltordnungspolitik etc…) war die Linke offensichtlich überfordert: Einige wechselten nicht nur die Seite und legitimieren seitdem die Kriege, sondern haben sich z. T. sogar als alternative StabsplanerInnen in den Unterständen der Alliierten Krieger verschanzt. Etwa, wenn Matthias Küntzel die Konkret in einen alternativen Stabsbunker verwandelt und über die Bombardements auf Afghanistan nachdenkt: „Selbstverständlich müssen die amerikanische und die britische Politik weiterhin kritisiert werden. Jedoch nicht deshalb, weil sie die Djihadisten verfolgt, sondern weil sie diese nicht zielgenau und konsequent verfolgt.“(Konkret, 11/01) Oder auch wenn die unsägliche Redaktion der Bahamas (Zeitschrift der so genannten Anti-Deutschen, einer Splittergruppe ehemaliger KB-Funktionäre) sich bei George W. Bush für die erfolgreiche Befreiung Iraks in einem offenem Brief bedankt – und das nicht einmal ironisch meinten. Wohin solche Stilblüten der linksradikalen Verwirrung führen, zeigt ein Blick in die Geschichte. Die Argumentationsfiguren der linken KriegsbefürworterInnen vom Golfkrieg 1991 wurden zur Begründung des Jugoslawienkrieges de facto von der Bundesregierung übernommen.
Andere – zum Glück möchte man fast sagen, die meisten – stehen eher hilflos neben den Entwicklungen und versuchen mit überwiegend komplexen Analyseversuchen des Krieges als ‘neue Weltinnenpolitik’ (Materialen für einen neuen Antiimperialismus) oder als ‘Plateau oder Passage zum Empire’ (Katja Dieffenbach) die eigene Verunsicherung zu überspielen. Mit einer konkreten Praxis lassen sich die schlauen Gedanken leider selten verbinden.
Diese Spaltung der linken Diskussionen hat – wie alle Krisen- und Auflösungsprozesse – zu einer allgemeinen Verunsicherung beigetragen, zumal Antikriegspositionen oftmals bei Argumentationsmustern der 80er Jahre stehen geblieben sind („Kein Blut für Öl!“, „Stoppt Bushs Nato-Krieg!“ etc). Neuere Ansätze und Analysen versuchen den Dauer[Kriegs]Zustand mit den veränderten Verhältnissen der Weltwirtschaft, dem Sozialabbau und einer Verschärfung der Repressionsinstrumente nach innen zu verknüpfen. Leider werden sie oft nicht wahrgenommen und bleiben – ohne eine entsprechende Praxis – weitgehend wirkungslos.

Praktische Paralyse
Zugleich haben sich aber auch viele Strukturen und Gruppen aufgelöst, so dass eine potentielle Antikriegsbewegung sich weitgehend im organisatorischen Niemandsland befindet, unabhängig von der Friedensbewegung und doch ohne die strukturelle Stärke einer antiimp/autonomen Linken der Vergangenheit. Eigene Akzente durch Aktionen gegen die letzten Kriege sind rar geworden. Die wenigen blieben entweder auf die eigene Szene beschränkt (Tatortbesichtigung, Versuch eines bundesweiten Aktionstages), verpufften in ihrer politischen Wirkung (Blockadeversuch gegen den Grünen Kriegsparteitag in Bielefeld) oder fanden weitgehend ohne eine linksradikale Beteiligung statt (Proteste gegen NATO-Sicherheitstagung, Aktionstage zum Bush-Besuch, Friedensdemonstration vom 15. Februar). Insbesondere eine tatsächliche Konfrontation mit den Strukturen der Kriegsmaschine blieb faktisch aus. Abgesehen von einigen Sabotageakten gegen die Bundeswehr und das Transportnetz der Deutschen Bahn gab es vereinzelte Versuche, Militäreinrichtungen zu blockieren (Frankfurt/ a. M. und Heidelberg) oder bei einzelnen Politikern (wie Außenminister Fischer) vor der Wohnung zu protestieren.

Linke Diskurse: Zweifel, Komplexität und Verunsicherung
Antikriegsaktivitäten waren in den letzten Jahren zunehmend mit destruktiven Diskussionen im linksradikalen Spektrum konfrontiert: ‘Vorschnelle Fraternisierung mit den Völkern der Welt’, ‘verkappter Antiamerikanismus’ und eine vermutete ‘Anschlussfähigkeit für Antisemitismus’ waren dabei die üblichen Verdächtigungen, denen sich eine Antikriegshaltung ausgesetzt sah. Doch schnell wurde deutlich, dass diese ‘Auseinandersetzungen’ weniger einer politischen Klarheit im Handeln als vielmehr der Begründung für das Nichtstun dienten. Nur wenige organisierte Gruppen beteiligten sich überhaupt an den Aktionen – viele jedoch schrieben Kritikpapiere, formulierten Fragen an die, die sich bewegten oder machten sich in WG-Küchen oder den indymedia-Kommentarspalten über die paar Trottel lustig, die da immer noch gegen den Krieg und den Imperialismus waren, wo doch die postmoderne Welt um so vieles komplexer geworden ist. Bei dieser Verwirrung war eine Verunsicherung durch die offiziellen Begründungen für den „Krieg gegen den Terror“ die Folge: Wer sind eigentlich die Taliban? Vielleicht geht es den Frauen nach dem Krieg ja wirklich besser? Vielleicht war es ja doch ein Anschlag auf unsere Zivilisation und wir sind genauso gemeint?
Doch hinter dem kultivierten linksradikalen Selbstzweifel auf der erfolglosen Suche nach ‘der richtigen Position’ wurde schon bald die verinnerlichte Feindbildlogik des Krieges deutlich, die sich dann konsequenterweise gegen den Antikriegsprotest richtete: die Distanzierung von den Anschlägen ging oft einher mit der Übernahme der Legitimationsmythen für den laufenden Krieg. Zweifel an der offiziellen Version von CNN und US-Regierung werden bis heute als gefährliches Spiel mit Verschwörungstheorien bewertet.

Isolation: Mangelnde Korrespondenz mit der Friedensbewegung
Neben den beschriebenen internen Schwierigkeiten einer Antikriegsmobilisierung leidet eine linksradikale Mobilisierung gegen den Krieg vor allem an der gesellschaftlichen Isolation. Nicht einmal die Friedensbewegung dient zurzeit als Resonanzraum für die eigenen politischen Positionen. Eine fehlende Korrespondenz mit der Friedensbewegung gibt es im kommunikativen Sinne einer nicht stattfindenden Diskussion und im Sinne eines nicht vorhandenen Handlungsbezuges von verschiedenen Bewegungssektoren. So stellte Udo Schneider (Autor der antifaschistischen Zeitschrift Phase 2) nach einem Kongress der Friedensbewegung erstaunt fest: „Entgegen dem Vorurteil, die Friedensbewegung sei ausschließlich ein ethisches Unterstützungskommando der deutschen Außenpolitik, stellte die „Informationsstelle Militarisierung“ (IMI) auf ihrem diesjährigen Kongress in Tübingen trotz des bevorstehenden Irakkrieges die deutsche Kriegs- und Militärpolitik in den Mittelpunkt ihrer Kritik.“ Wer tatsächlich erstaunt ist, dass die Friedensbewegung der BRD tatsächlich auch gegen die deutsche Kriegs- und Militärpolitik argumentiert, braucht sich über die eigene Isolation eigentlich nicht zu wundern. Ohne Realitätssinn ist eine gesellschaftliche Verankerung nicht zu haben.
Aber auch die Ungleichzeitigkeit von Diskussionen zeigt, wie schwer der Weg in die Öffentlichkeit ist: bereits im November 2001 wandte sich das linksradikale ‘Überregionale Forum Genua libera’ mit einem Antikriegstext an diese. „An die Muezine der Zivilisation“. Darin wurde auf die Ähnlichkeit von fundamentalistischen Argumentationen verwiesen und die Zivilisation der Barbarei bezichtigt. Die gut gemeinte Provokation blieb aber weitgehend ungehört im Kreise einiger AntikriegsaktivistInnen. Ein knappes Jahr später – rechtzeitig zum verkaufsfördernden 11. September-Jahrestag – erschien ein neues Buch von Klaus Theweleit („Der Knall“). Darin werden die Fundamentalisten auf allen Seiten zu den Hauptakteuren eines Kriegsmodells, die Feindbildmobilisierungen und „erpresste Loyalität“ des Kriegszustandes zu Rettungsankern für interne Krisen der jeweils Herrschenden. Der Gedanke hat es also bis in linksintellektuelle Diskurse geschafft. Einen Bezug zu den linksradikalen Diskussionen des Vorjahres gibt es nicht. Die Kapilaren der linksradikalen und intellektuellen Diskussionen scheinen sich nicht zu kreuzen.
Den vorläufigen Höhepunkt des kritischen Gedankens setzte im Frühjahr 2003 Manfred Kock, der Ratsvorsitzender Evangelische Kirche Deutschlands (EKD). Er bezeichnete Bush wegen seines religiösen Sendungsbewusstseins als „religiösen Fundamentalisten“.
Wenn auch nur ein kleines Beispiel, so verdeutlicht diese Karriere einer Idee, wie isoliert die Antikriegsmobilisierung tatsächlich ist.
Keine brauchbare Analyse, keine praktische Handlungsfähigkeit und eine weitgehende gesellschaftliche Isolation: die Folgen für die gegenwärtige Wirkungslosigkeit der Antikriegsbewegung sind relativ deutlich. Ohne praktische Aktionsfähigkeit keine Bündnismöglichkeiten, ohne Auseinandersetzung mit anderen Teilbereichen keine inhaltliche Weiterentwicklung und ohne inhaltlichen Eigensinn keine selbständige Praxis.
Diese Situation führt zu einer weitgehenden Beschränkung eigener Handlungsansätze: Aktionen, die sich auf dem Niveau der eigenen Analysen bewegen, haben eher einen selbstbestätigenden als politischen Charakter. Praktische Bündnisse mit dem Friedensspektrum hatten in den meisten Fällen einen Dienstleistungscharakter, bei dem linksradikale Gruppen und AktivistInnen ihr praktisches Know-how und ihre organisatorischen Erfahrungen eingebracht haben ohne politische, inhaltliche oder praktische Akzente setzen zu können.
Dieses ‘Auf-sich-zurückgeworfen-sein’ hat aber auch Folgen für den eigenen Politikstil: Die Selbstverortung der bisherigen Antikriegsaktivitäten war eher ein linksradikaler Background, denn ein Selbstverständnis als Strömung in einer breiteren Antikriegs/Friedensbewegung. Die Kommunikation (der Texte und Aktionen) richtete sich konsequenterweise in den meisten Fällen an die Restlinke und weniger an die Friedensbewegung – die gesellschaftliche Wirkung von Antikriegspositionen wurde in vielen Fällen gar nicht angestrebt.
Ohne die Selbstvergewisserung in einem ‘übergreifenden linken Diskurs’ scheint der Mut zur politischen Initiative zu fehlen. Deshalb sollen hier ein paar Vorschläge für mögliche Eckpfeiler einer erfolgreichen Antikriegsmobilisierung zusammengetragen werden:

Inhaltliche Eckpfeiler einer Antikriegsbewegung
Antiimperialistische und antietatistische Herangehensweise

Zentral dafür ist, im BRD-Imperialismus keine bessere oder harmlosere Variante des Großmachtstrebens zu sehen. Neben dem transatlantischen Bündnis gerieten somit Europäische Militärstrategien und der Ausbau von militärischen Kapazitäten der BRD verstärkt ins Zentrum einer möglichen Antikriegspolitik: Seit der Übernahme der DDR war die BRD wieder ein souveräner Staat geworden, ein Staat, der nicht mehr unter der Kontrolle der Alliierten stand, ein souveräner Staat, der all die Attribute eines Staates wieder zu reproduzieren begann, auch die militärische Souveränität. Die Fähigkeiten des Militärs wurden ausgebaut und in zahlreichen Auslandseinsätzen erprobt und innergesellschaftlich durchgesetzt. Die BRD-Beteiligung am Krieg im ehemaligen Jugoslawien wirkt dabei als Katalysator für die Überwindung der deutschen Niederlage im II. Weltkrieg und für die Aufrüstung der Bundeswehr zu einer weltweit agierenden Interventionsarmee. Die rot-grüne Kriegspolitik der letzten Jahre zeigt, dass in Europa liberale Regierungen Motor und Garant für die Durchsetzung der neuen Verhältnisse geworden sind. Sicherheitspolitische Fragen werden – wie zu Zeiten der Blockkonfrontation – immer noch im nationalen Konsens entschieden. Trotz der parlamentarischen Scheingefechte entspricht die Entwicklung eigener Militärstrategien und Kommandostrukturen den hegemonialen Interessen von EU und BRD. Die Einsätze in Mazedonien, im Kosovo und in Afghanistan wurden unabhängig von Parteiprogrammen durchgesetzt. Eine Antikriegsposition kann deshalb nur außerparlamentarisch und antistaatlich agieren und muss die verantwortlichen Personen und Institutionen angreifen.

Eine Breitbandanalyse des Kriegszustandes,
also der Analyse des Krieges als einer gesamtgesellschaftlichen Militarisierung, die nicht auf die militärischen Facetten verkürzt bleibt. In diesem mehrdimensionalen Verständnis sind alle relevanten gesellschaftlichen Institutionen der kriegerischen Logik unterworfen.
Eine wirkungsvolle Antikriegsbewegung darf sich deshalb nicht nur auf Militärobjekte konzentrieren, sondern auch auf:
– Flüchtlingsverwaltungsbehörden, Konzerne und NGO die von der Neuen Weltordnung profitieren,
– Überwachungszentralen, GEN-Tech-Firmen und Uni-Forschungsinstitute, die eine militärische und polizeiliche Aufrüstung vorantreiben,
– Waffenschmieden und Medien-Zentralen, die verordnete Trauer, Wut und Kriegsbegeisterung transportieren.

Die Analyse eines Dauer-[Kriegs]-Zustandes,
der die Unterscheidung von Krieg und Frieden, von Innen und Außen aufhebt und eine Antikriegsbewegung nicht auf den sporadischen Protest gegen militärischen Eskalationen zurückwirft, sondern sich zur Daueraufgabe von linksradikaler Politik entwickeln muss. Der angebliche „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan ist scheinbar beendet – ein Krieg, den die einzige Supermacht der Welt, die über die militärischen Potentiale verfügt, jederzeit und überall auf der Welt militärisch zu eskalieren, gegen eines der ärmsten Länder der Welt begonnen hat. Ein Krieg, der vorgibt mit internationalen Warlords Frieden zu stiften und damit die Grenzen von Krieg und Frieden verwischt. Deutlich wird dabei Eines: Es gibt für die sich durchsetzende „Neue Weltordnung“ keinen Friedenszustand mehr, der ohne Krieg auskommt. Krieg ist Frieden! Der Versuch, den „lang andauernden Krieg gegen den Terror“ mit der „Verteidigung der zivilisatorischen Errungenschaften“ zu legitimieren, entlarvt den Charakter der westlichen Zivilisation als Völkermord, als Unterdrückungstechnologie, als Interessenpolitik: Um für die ,Neue Weltordnung’ funktional zu sein, kommt auch das neue Afghanistan ohne „zivilisatorische Errungenschaften“ aus. Als neue Form der Macht ist dort auch ein umzäuntes, von außen durch die NATO bewachtes, aus der Luft durch die UNO versorgtes und von verschiedenen Kriegsherren verwaltetes Flüchtlingslager mit durchlaufender Pipeline denkbar. Öffentlich und diplomatisch wird diese neokoloniale Besetzung des Landes als ‘Friedensordnung’ verkauft. Frieden ist Krieg!

Proteste & Co. – Antikriegsaktionen nach dem 11. September
Ob sich Ansätze zu einer linksradikalen Antikriegsbewegung auf dieser Grundlage entwickeln, kann sich jedoch nur in der Praxis zeigen. Ein Blick auf die Aktivitäten seit dem Herbst 2001 bringt dazu durchaus Widersprüchliches zu Tage. So können wir auf etliche Großdemonstrationen zurückblicken, die mit ihrer Größe von jeweils mehreren zehntausend TeilnehmerInnen ein beachtliches Mobilisierungspotential verdeutlichen. Vor allem der große Anteil von jungen Leuten, SchülerInnen und Bezugsgruppen, die nicht aus dem traditionell autonomen Spektrum kamen, gaben Hoffnung auf einen Hauch neuer Bewegung. Demgegenüber standen die strukturellen Defizite, diese Ereignisse (mit Ausnahme der Proteste gegen die Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2002) zu einer wirkungsvollen Konfrontation zu bringen und die mediale Nichtbeachtung zu durchbrechen. Insbesondere die Größe der Berliner Demonstrationen zum „Tag X“, der bundesweiten Demonstration am 13.10.01 (50.000 TeilnehmerInnen) und der Proteste anlässlich des Bush-Besuches am 22./ 23. Mai 2002 (30.000 TeilnehmerInnen) überraschte die vorbereitenden Gruppen; es gelang nur bedingt, Einfluss auf Charakter und Verlauf der Demonstrationen zu nehmen. Die Vermittlung von politischen Diskussionen, Protesterfahrungen und Aktionszielen in das Spektrum der neuen StraßenaktivistInnen fiel schwer. Die wenigen Ansätze, über Demostrukturen oder auch das Aktionsradio zu den Bush-Protesten, eigene Ak- zente zu setzen, blieben begrenzt, da sie sich zu sehr an den Vermittlungsformen der (abstinenten) Szene orientierten. Neue Strukturen wie indymedia und andere Mobilisierungswebseiten waren weitgehend selbstbezogen und konnten mit ihrem berichterstattungszentrierten Anspruch keine direkten Bewegungsimpulse setzen.
Die Antikriegsgruppen verfolgten von Beginn an neben Demonstrationen, die Entwicklung konfrontativerer Aktionsformen, denn gerade im Verhältnis zur offenen Kriegsmobilisierung erschienen Demonstrationen und Unterschriftenlisten als zu wenig. Krieg ist kein gesellschaftliches Schicksal, sondern das Ergebnis von politischem Handeln. Die Logik des Dauer-[Kriegs]-Zustandes bringt Verantwortliche, ProfiteurInnen, VerwalterInnen und ZuträgerInnen hervor. Sie bekleiden politische Ämter; sie forschen an Universitäten; sie sitzen in den Amts- und in den Pressestuben. Aktionen gegen den Krieg sollten also genau hier ansetzen. Einige Aktionsformen haben sich als besonders wirkungsvoll erwiesen:

Tatortbesichtigung
Beispiele für einen direkten Ansatz waren die als Autokonvoi organisierte „Tatortbesichtigung“ in Berlin und Potsdam am 26. Januar 01 und der Innenstadtspaziergang in Düsseldorf zum dezentralen Aktionstag am 31. Mai/1. Juni. In beiden Fällen wurden verschiedene Institutionen aufgesucht, die mehr oder weniger direkt mit bundesdeutschen Kriegsaktivitäten verstrickt sind. Kurze, gut recherchierte Beiträge informierten über die spezifische Rolle des jeweiligen „Tatorts“. So konnten nicht nur abstrakt, sondern praktisch – mit Name und Adresse – die Verantwortung von Medien und politischen EntscheidungsträgerInnen, von Industrie und Forschung bekannt gemacht werden. Zum Teil wurden diese Tatortbesichtigungen auch zu weiterführenden Aktionen wie kurzzeitigen Blockaden, Farbattacken, Graffiti oder Straßenumbenennungen genutzt. Bei Hannover führte eine dreistündige Kundgebung, mit Kultur- und Redebeiträgen, vor dem Haupttor des Fliegerhorstes Wunstorf zur Schließung dieses Tores sowie der angrenzenden JU-52-Halle. In dieser Halle ist das Transport- und Bomberflugzeug der deutschen Wehrmacht ein regionales Ausflugsziel.

Kommunikationsguerilla
Mit diesem Wort lassen sich Aktionen zusammenfassen, die mit der überspitzten Adaption tatsächlicher Entwicklungen offene oder verdeckten Provokationen auslösen, um Auseinandersetzungen zu fördern oder verantwortlichen Institutionen einen Imageschaden zuzufügen. Beispiele für solche Aktionen waren eine öffentliche „Freiwilligenerfassung für den Zivilisations-Volkssturm“ in der Münchener Innenstadt, bei dem sich über 20 Personen für den Sondereinsatz im In- und Ausland verpflichteten. Die entsprechenden Unterlagen dieser Verteidigungsbereitschaft wurden an den damaligen Verteidigungsminister R. Scharping gesandt. Im Vorfeld der Sicherheitstagung rief ebenfalls in München ein Stand zu Spenden für neuerliche Kriegsanleihen auf. Über den finanziellen Erfolg dieser Kampagne ist leider nichts bekannt. In Kiel wurden PassantInnen im Rahmen der Sicherheitsvorsorge gegen Terrorismus in der Einkaufspassage zum Schläfertest geladen. Besonders unauffällige BürgerInnen wurden von einem ‘privaten Sicherheitsdienst’ gebeten, sich dem Test zu unterziehen und durch die Abgabe von Fingerabdrücken, Haarproben und einem Foto die Sicherheit zu erhöhen. Die erschreckend hohe Bereitschaft zu diesen freiwilligen An- und Abgaben hinterließ selbst bei der organisierenden Gruppe Ratlosigkeit. Zum Stilmittel des Straßentheaters griffen AntikriegsaktivistInnen in Bremen und inszenierten mehrere Hinrichtungen in der Innenstadt, um der Öffentlichkeit vorzuführen, wie Soldaten Geld verdienen. Einen eher böswilligen Charakter hatte die nachgestellte Rücktrittserklärung der Direktorin des „Potsdam Center for Transatlantic Security and Military Affairs“, die an einige Agenturen und Tageszeitungen geschickt wurde. Begründet wurde der Rücktritt mit der mangelnden Unterstützung des Institutsaufbaus und einer generell antiamerikanischen Stimmung in der BRD. Das (reale) Dementi selbiger Direktorin bekräftigte ihre Sicht der Notwendigkeit für ein transatlantisches Bündnis und stellte das bis dahin weitgehend unbekannte Institut in der Grauzone von Privatwirtschaft, Militärdiplomatie und Universität ins Licht der Öffentlichkeit.

Spektakel
Ein weiteres Mittel für die Vermittlung von Antikriegspositionen besteht in der Erregung öffentlicher Ärgernisse. So störte eine Gruppe von 20 KriegsgegnerInnen in der Vorweihnachtszeit das abendliche Kulturprogramm im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt. Zwischen Ballettmusik und Strawinsky hörten 1.600 KonzertbesucherInnen – einschließlich des ehemaligen BDI- Vorsitzenden Henkel – eine Rede gegen den Krieg.
Mit optischen statt akustischen Reizen operierten die AktivistInnen, die ein riesiges Transparent mit der Aufschrift „Freiheit stirbt mit Sicherheit – Krieg ist Frieden“ mit Ballons an den Säulen des Reichtages steigen ließen. Parallel wurden an mehrere hundert BesucherInnen des Reichstages mehrsprachige Flugblätter zum Zusammenhang von Krieg und Verschärfung der Inneren Sicherheit verteilt.
Weitaus größeren Effekt hatte die Aktion eines Bergsteigers, der am Vorabend des Bush-Besuchs in der ansonsten festungsartig gesicherten Stadt ein Transparent mit den Worten „globalize solidarity – not war“ an der Berliner Siegessäule befestigte. Fast alle Agenturen und Abendnachrichten berichteten über diese Aktion.

Andrej Holm ist Sozialwissenschaftler und freier Mitarbeiter der Zeitschrift telegraph. Er lebt in Berlin.

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