BRASILIEN VERURTEILT DEN KRIE GEGEN DEN IRAK

von Klaus Hart
aus telegraph #108

Größte lateinamerikanische Demokratie verurteilt Angriffskrieg einhellig. Von links bis rechts scharfe Kritik an USA und Großbritannien.
Private Sensations-und Qualitätsmedien stellen das „Imperio“ im Norden schonungslos an den Pranger.
In Brasilien, Hauptempfänger deutschen Kapitals in der Dritten Welt, wird der Angriffskrieg gegen den Irak überraschend einmütig verurteilt. Selbst die Opposition im Nationalkongress, darunter mehrere Zentrums-und Rechtsparteien, unterstützen die offizielle Position von Staatschef Luis Inacio „Lula“ da Silva, der den USA und ihren Verbündeten mehrfach vorgeworfen hatte, eindeutig gegen das Völkerrecht zu verstoßen, sich über die UNO und ihren Sicherheitsrat hinwegzusetzen. Den Linken in Lulas sozialdemokratischer Arbeiterpartei PT, aber auch den Qualitätsmedien, geht die Präsidentenposition offensichtlich nicht weit genug – gemäß Schlagzeilen vom Freitag nach Kriegsbeginn mäßige Lula bereits seinen kritischen Ton gegenüber den USA. Außenminister Celso Amorim äußerte, jetzige Divergenzen dürften die diplomatischen Beziehungen nicht negativ beeinflussen. Herausgestellt wurde zudem, dass der brasilianische UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Sergio Vieira de Mello, in seiner offiziellen Genfer Erklärung den Krieg in keiner Weise verurteilt habe. Bei Experten, aber auch den mehr als einhundert anwesenden Journalisten habe dies Erschrecken ausgelöst. Vieira habe sich lediglich darauf beschränkt, beteiligte Streitkräfte zu bitten, das Leben der Zivilisten zu schonen.
Ebenso wie in Europa, kommt es überall in Brasilien derzeit zu spontanen Protesten, werden auf den Straßen der Millionenstädte US-Flaggen und Bush-Puppen verbrannt.

„Imperium, skrupelloser Welt-gendarm“
Den US-Präsidenten dabei mit Hitler zu vergleichen, ist selbst in den Qualitätszeitungen üblich. Die brasilianische FAZ, „O Estado de Sao Paulo“, nennt Bush in einem Kommentar sogar einen „gewalttätigen Cowboy und Alkoholiker, weder intelligent noch in seinem Land direkt gewählt, eine Art Nero von heute“. In seitenlangen Analysen charakterisieren auch andere Qualitätsblätter die Vereinigten Staaten als „Imperium, chauvinistische Hegemonialmacht, skrupellosen Weltgendarm“ seit jeher – mit einem Faible für blutrünstige Diktatoren.
Erinnert wird unter anderem an die Ersetzung von Salvador Allende durch den „Tyrannen“ Pinochet, oder zuvor, bereits 1954, von Jacobo Arbenz in Guatemala durch „blutgierige Generäle“. Der Durchschnittsamerikaner, so das von Brasiliens Pressezar Roberto Marinho persönlich redigierte Blatt „O Globo“ in Rio de Janeiro, sei heute weltfremder, vom Rest des Erdballs mehr abgekoppelt als je zuvor – zudem Tag und Nacht von der Regierung überwacht. Ein Antiamerikanismus in zuvor unbekannten Dimensionen sei jetzt losgetreten worden – die US-Medien – nur noch amorph, regierungshörig. In der selben Zeitung haben der weltweit meistverlegte brasilianische Autor Paulo Coelho („Der Alchimist“) und der in Brasilien selbst derzeit am meisten gelesene Schriftsteller Verissimo zudem ausführlich Gelegenheit, ihren Landsleuten zu erklären, wie in den USA der „Complexo Industrial-Militar“ funktioniert und jetzt am Krieg verdient. „Bush ist primitiv, beschränkt, halsstarrig“ – überschreibt „O Globo“ fett ein Interview mit Frankreichs früherem Kulturminister Jaques Lang, der die Position der Brasilianer lobt. Während bei den Kommerzmedien Deutschlands Zensur und Provinzialität in den letzten Jahren erschreckend zunahmen, geben jene Brasiliens auch derzeit ein beachtliches Beispiel für Pressefreiheit.

„Schröder nach Bagdad“
In den Leserbriefspalten großer Qualitätsblätter werden Standpunkte veröffentlicht, die in Deutschland bestenfalls bei Zeitungen des links-alternativen Spektrums eine Chance hätten. Schröder, Chirac, Kofi Annan, Putin und Lula wurde darin bereits vor Kriegsausbruch empfohlen, sich in Bagdad einzuquartieren, um damit US-Bombardements zu verhindern.
In Brasiliens größter Hafenstadt Santos bei Sao Paulo wollen die Gewerkschaften McDonalds und Coca Cola boykottieren, US-Waren nicht mehr ausladen. Im Nordost-Teilstaat Bahia wird seit Donnerstag ein hochmodernes neues Fordwerk bestreikt, zuallererst wegen der niedrigen Löhne: Gemäß Gewerkschaftsangaben liegen sie im Durchschnitt bei sage und schreibe umgerechnet nur etwa 170 Euro monatlich – fast die gesamte Produktion wird in die Erste Welt exportiert. Neoliberalismus pur.

Brasiliens „unerklärter Krieg“
Indessen – von gedrückter Stimmung ist im Lande wenig zu spüren – nicht nur in den beiden größten Städten Sao Paulo und Rio de Janeiro sind die Bewohner an kriegsähnliche Zustände, den sogenannten nichterklärten Bürgerkrieg, seit Jahrzehnten gewöhnt, „leben“ mit sogar offiziell weit über vierzigtausend Gewaltopfern jährlich – das sind viel mehr Tote als in den aktuellen Konflikten der Erde – den jetzigen Irak-Krieg ausgeklammert. Eine politisch seit jeher stark engagierte Brasilianerin zum Trend: “Trotz all dieser gravierenden Probleme, Zustände verlieren die Brasilianer nicht ihre Alegria.“
Zum Vergleich wird hier stets der jahrelange Vietnamkrieg herangezogen, bei dem „nur“ 58.000 nordamerikanische Soldaten umgekommen seien.
Die täglichen Feuergefechte, Schusswechsel in den Cities, Leichen auf dem Asphalt, nicht selten erst am nächsten Tag weggebracht – für Durchschnittsbrasilianer nicht mehr überraschend. Auch während des letzten Karnevals wurde in Rio de Janeiro meist nahe der Slums soviel geschossen wie noch nie.
Was in Deutschland nach wie vor verboten ist – die Medien zeigen von Kugeln durchsiebte Personen, barbarisch verstümmelte Vergewaltigungsopfer, geköpfte nackte Frauen und Männer, selbst lebendig Verbrannte in Großaufnahme. Auch dies hatte erhebliche Gewöhnungseffekte.
Was man in Deutschland jetzt wohl mehr als unpassend empfunden hätte: Lula und Regierungsmitglieder werden kurz vorm TV-Statement an die Nation bei Heiterkeitsausbrüchen beobachtet. Und während die ganze Welt am 19. März gespannt auf den Kriegsausbruch wartete, so „O Globo“, feierte Lula mit seinen Ministern just in den Stunden der ersten Attacken ein feucht-fröhliches Fest – der Kulturminister und Musiker Gilberto Gil, aber auch die Minister für Landwirtschaft und Kommunikation sangen den Berichten zufolge Sambas, Boleros, Tangos…

Klaus Hart ist Journalist und Autor, er lebt in Brasilien.

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