EURASIER IN RUSSLAND

Ein retrospektiver Blick auf die geschichtlichen Wurzeln der „Eurasier-Bewegung“ im heutigen Russland

von Paulina Gulinska
aus telegraph #108

Sankt-Petersburg, Nevskij Prospekt im Jahr 2002. Beim U-Bahn-Eingang am Gostinnyj Dvor stehen einige dürftig aussehende Stände. Alte Omas und abgemagerte Herren versuchen diverse Zeitungen zu verkaufen. Es sind keine TV-Programme und keine Tageszeitungen. Ärmlich in der Form, aufdringlich im Inhalt.1 Auf der so genannten „geistigen Wüste“, die in Russland nach dem Zusammenbruch des Kommunismus herrschen sollte, versuchen sie eine neue Gedankenwelt aufzubauen. Eine Deutung der heutigen Lage des Landes samt Prophezeiung ihrer Zukunft für sieben Rubel pro Stück, ein Gespräch mit dem Verkäufer gratis, der die Botschaft mit eigenen Kommentaren gerne ergänzt.
Eine andere Szene: Auf dem Platz vor der Eremitage versammeln sich Stadtbewohner anlässlich des 1. Mai. Unter den strömenden Petersburger Massen sind manche vom Gostinnyj Dvor bekannte Gesichter zu erkennen. Nur heute scheinen sie zahlreicher zu sein. Auch die Auswahl der Zeitungen und Bücher ist differenzierter. Zu erwerben gibt es auch ältere Literatur, wie etwa „Mein Kampf“. Um die Stände herum flattern rote Fahnen, die sowjetische Vergangenheit wird angepriesen, das „wahre“ Gesicht der heutigen Macht wird mit Hilfe eines antisemitischen Instrumentariums enthüllt.
Oder am 9. Mai in Moskau: Über die für den Autoverkehr gesperrte Tverskaja-Straße ziehen Menschenmassen. Die Umstände ähnlich wie vor einer Woche in Petersburg, nur die Dramaturgie der Veranstaltung ruft einen stärkeren Eindruck hervor. Die Kommunisten, die Neonationalbolschewisten und einzelne Unorganisierte protestieren gegen die herrschende politische Ordnung. Das die Wirkung des Augenblicks nachhaltiger bleibt, ist einem zeitlichen Zufall zu verdanken: In diesem Jahr überschneidet sich das Datum des Siegestages mit der Auferstehung Christi in der Russischen Orthodoxen Kirche. So ziehen einträchtig die Neonationalbolschewisten mit den Priestern und den Gläubigen mit dem Spruchband „Tod dem Antichrist!“ über die Straße.
Für einen außenstehenden Beobachter, der mit der politischen Szene Russlands nicht besonders vertraut ist, ist es schwierig, die feinen Unterschiede zwischen den Gruppierungen zu bemerken. Die Demonstranten kommen ihm wie Akteure eines riesigen Straßentheaters vor. Dabei übersieht er nicht, dass sie in der Konfrontation mit der Masse der unengagierten Fußgänger, die sich an diesem Feiertag einen schönen Spaziergang durch die russische Hauptstadt gönnen, eindeutig in Minorität sind. Handelt es sich also dann nur um eine Gruppe von Frustrierten? Ist es nur eine harmloser Kreis der Ausgestoßenen, die jede Möglichkeit nutzen, ihre Unzufriedenheit über die aktuelle Lage Russlands zu artikulieren? Geht es hierbei nur um eine soziale Randerscheinung, der die Mehrheit der Bevölkerung, besorgt um eigenes Alltagsleben, keine Aufmerksamkeit schenkt?
Es wäre zwar bequem, gleichzeitig aber zu einfach, sich dieser tröstenden Vision hinzugeben. Die teilweise armselige Erscheinungsform dieser Gruppen korrespondiert nicht mit den von ihnen verbreiteten Inhalten. Unabhängig von der Zugehörigkeit zum jeweiligen politischen Flügel2, handelt es sich hierbei im Prinzip um dasselbe gefährliche Phänomen: Statt dem längst diagnostizierten geistigen Vakuum keimen auf dem russischen Boden neue Ideologien und Denkmuster, die teilweise totalitäre Züge tragen. Ein prominentes Beispiel dafür stellen die „Eurasier“ dar, die mit ihrem geistigen Vater – Aleksander Dugin – sich vor diesem Hintergrund durch ihren Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit auszeichnen. Eine besondere zivilisatorische Mission Russlands, ein „dritter Weg“, den es einschlagen soll, eine neue Deutung der Geschichte samt sorgfältig ausgearbeiteten geopolitischen Konzepten gründen die theoretische Basis dieser Bewegung.3
Die Eurasier von heute bedienen sich gut bekannten Ideologien und Traditionen und schlagen hiermit eine Brücke zur Geschichte. Die Wurzeln dieser Ideenwelt liegen nämlich in den zwanziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts und greifen auf die Geschichte einer russischen Exilantenbewegung zurück.
Eine der Auswirkungen der sowjetischen Machtübernahme war eine massenhafte Emigration.4 In den südost- und mitteleuropäischen Städten, im Westen Europas, oder aber jenseits des europäischen Kulturkreises (USA, China), haben diejenigen ihre Zufluchtsstätte gefunden, denen der Eintritt in das sowjetische Paradies verweigert wurde. Der für die meisten Gruppen charakteristische Antibolschewismus trug nicht nur Züge einer politischen Kritik, sondern schrieb seinem Gegner auch einen zerstörerischen Charakter zu, der sowohl das kulturelle als auch das geistige Erbe Russlands zu vernichten trachtete. Damit fühlten sich die Exilanten innerlich verpflichtet, ihre Tradition (d.h. die russische Sprache, den russisch-orthodoxen Glauben, die russische Geschichte und Kultur) zu pflegen und aufzubewahren. Damit lässt sich ihre enorme Aktivität erklären. Die Verlage, Institute, Akademien schossen wie Pilze aus dem Boden und provozierten eine intensivierte Russland-Wahrnehmung, die für das Europa der Zwischenkriegszeit charakteristisch war.
Vor dem Hintergrund zeichnete sich eine Gruppe aus, deren Ursprünge nach Sofia zurückführen. Dort wurde 1920 eine Schrift veröffentlicht, die eine neue Qualität in das bisherige Denken der russischen Exilanten brachte. Gegenstand des Werkes war ein Deutungsversuch der aktuellen Ereignisse in Russland, nicht aber durch das bisher üblich verwendete Modell einer Verschwörung der „bösen Mächte“ gegen die Heimat. Das Buch näherte sich den historisch-philosophischen Ursachen der Revolution und erkannte sie – im Unterschied zu anderen Emigrationsgruppen – als eine historische Tatsache.
Der Titel der Schrift war „Europa i èeloveèestvo (Europa und die Menschheit), ihr Autor war Fürst Nikolaj Sergeeviè Trubeckoj und ihr Ergebnis – die Entstehung einer neuen Lehre. Um Trubeckoj, einen anerkannten Philologen, Philosophen und Politologen, versammelten sich drei weitere Persönlichkeiten: Georgij Vasil’eviè Florovskij – Theologe und Kulturhistoriker, Petr Nikolaeviè Savickij – Geograph, Wirtschaftswissenschaftler und Publizist sowie Petr Petroviè Suvèinskij– Musik- und Kunsthistoriker. Durch eine intensive publizistische Arbeit (u.a. auf den Seiten des eigenen Jahrbuches „Evrazijskaja Chronika“), unterstützt durch Gründung eines Verlags („Evrazijskoe Knigoizdatel’stvo“), schließlich durch Lehre im eurasischen Geiste an mehreren europäischen Einrichtungen versuchten sie ihre Ideen zu propagieren. Eine intensive Rezeption dieser Konzepte trug zur Vergrößerung der Zahl ihrer Sympathisanten bei. Unter dem eurasischen Dach versammelten sich Persönlichkeiten unterschiedlicher Ansichten, was langfristig zu inneren Konflikten und Spannungen führte.5
Was waren die Aspekte der eurasischen Ideenwelt, die einen solchen Zustrom auslösten? Gewiss ihr innovativer, wenn auch deterministischer Blick auf die geschichtlichen Prozesse im Inneren des Landes. Die russische Revolution war eurasischen Ansichten nach eine Folgeerscheinung der Europäisierung Russlands und des Zerfalls der europäischen Kultur. Die Diskrepanz zwischen dem aufklärerischen Geist des verdorbenen Westens und der Reinheit der traditionellen russischen Kultur war zu mächtig gewesen, damit eine Auseinandersetzung vermeidbar gewesen wäre. So gesehen habe die Revolution früher oder später eintreten müssen. Die Aufgabe war nun, sich mit den Ereignissen in Russland abzufinden und eine Alternative suchen, die ein Hoffnungsträger gegenüber dem angebrochenen Bolschewismus anbieten könnte. Nach diesen Prinzipien stellten die Eurasier ihr Weltanschauungssystem auf.
Eine Säule dieses Konzeptes war die feste Überzeugung, dass Russland seinem Wesen nach weder zu Europa noch zu Asien gehört, sondern eine besondere Welt darstellt. Es gebe keine Grenzen zwischen dem asiatischen und europäischen Teil Russlands. Dementsprechend gebe es nur ein – eurasisches – Russland. Dieses Russland-Eurasien bildete eine in sich geschlossene Kulturlandschaft („mestorazivitie“). In dieser Kulturlandschaft lebe ein besonderer Kulturtypus. Er sei ein komplexes Gebilde, das sich aus den slawischen und turanischen Stämmen zusammensetzte. Eine gegenseitige Koexistenz prägte die beiden Elemente. Die Anpassung an die Kulturlandschaft, sowie die Anpassung der Kulturlandschaft an die Bedürfnisse der dort lebenden Völker seien, gemäß der Deutung von einem der Eurasier – Vernadskij – Phasen der Herausbildung des eurasischen Staates. Mit einem retrospektiven Blick teilte er die russische Geschichte in fünf Perioden auf: 1. Die Sammlung der russischen Erde durch die Nomaden, 2. Derer Fortsetzung durch die Ostslawen bis zum Einfall der Mongolen, 3. Das Tatarenjoch als eine Rahmenbildung für die Entwicklung der Ansätze der russischen Staatlichkeit, 4. Derer Verkörperung im Großfürstentum Moskau. Dieser viel versprechende Prozess wurde durch die fünfte Periode – Peter den Großen und die Europäisierung Russlands gestoppt. In die durch Tradition und Frömmigkeit verklärte Welt sind nun Bürokratie und Staatsräson hereingebrochen. Die organische Verbindung zwischen dem Volk und der herrschenden Schicht ist verloren gegangen. Der verursachter Bruch mit dem alten Russland sollte eine Ursache für die geistige Krise Russlands sein, die ihren Höhepunkt in der Revolution erreichte. Aber auch daraus vermochten sie positive Schlüsse zu ziehen, nämlich: Vorbereitung des Weges für eine gesunde staatliche Elementargewalt.
Eurasier machten, trotz Annerkennung der geschichtlichen Bedeutung der Revolution, keinen Hehl aus ihrer negativen Einstellung zur Gedankenwelt des Bolschewismus. Einer der Vorwürfe betraf seinen betrügerischen Charakter. Schon bei der Gründung der Sowjetunion habe er sich ausgedrückt, da den jeweiligen Völkern eine weitgehende Autonomie versprochen wurde. Die politische Praxis der Bolschewiki tendiere aber vielmehr in die Richtung der Entpersönlichung und der Internationalisierung der betroffenen Republiken hin.
Die Idee eines Völkerbundes schien den Eurasiern akzeptabel, lediglich ihre sowjetische Umsetzung wurde kritisiert. Ein weiterer Vorwurf betraf die geistige Leere des Kommunismus. Da die kommunistische Partei keinen religiösen Rückhalt habe, neige sie sich langsam ihrem Ende zu. Nun sollte für das falsche und verlogene kommunistische Programm eine Alternative ausgearbeitet werden. Diese, obwohl für das eurasische Weltanschauungssystem das Streben nach einer Ganzheit und gleichberechtigten Mitwirkung verschiedener Aspekte charakteristisch war, ließ eine Hintertür für eine gewisse Hierarchie offen. So würde die Entscheidung, nach welchen Prinzipien diese aufgebaut werden solle, an den Theoretikern der Bewegung liegen. Und sie haben sich für die praktische Umsetzung ihrer Ideen durch eine leitende Gruppe entschieden. Es sollte sich um eine Schicht handeln, die eine Ideokratie erzielte und durch ein einheitliches Weltanschauungssystem, sogenanntes „mirosozercanie“, verbunden wurde.
Damit sind die Eurasier zur metaphysischen Begründung ihrer Lehre gelangt. Wie schon viele vor ihnen, haben sie es bei der Russischen Orthodoxen Kirche gefunden. Nur sie könne der Praxis auch die notwendige innere Tiefe verleihen. Nur sie entspreche dem angestrebten Ideal der „symphonischen Persönlichkeit“ („simfonièeskaja liènost’“).
Der gemeinschaftliche Geist („sobornost’“) der Russischen Orthodoxen Kirche war für die Eurasier entscheidend. Die Kirche erschien dementsprechend als ein Raum, wo Platz für die freie Wahrheit und Aktivität eingeräumt wurde. Das Aufwachsen im Glauben sollte den Menschen dazu verhelfen, sich eigener schöpferischer Freiheit zu vergegenwärtigen und dadurch die Welt auf dem Wege einer innerlichen Verwandlung zu verbessern. Der Meinung der Eurasier nach fehlte es der westlichen Welt an diesem Bewusstsein. In ihrem Dasein sei sie an das Irdische gekettet, statt ihren Blick auf das himmlische Reich auszurichten. Der westliche Mensch kämpfe in seinem Alltag um die materiellen, nicht die geistigen Dinge. Das Wesen des Christentums habe er längst vergessen und sich dem Egoismus zugewandt. Zwischen seinem Glauben und seinen Taten liege eine unüberbrückbare Kluft. Es handle sich um eine verstockte Religion, die auf ihrem Irrtum beharre.
Die Eurasier sind doch nicht so konsequent gewesen und verzichteten nicht auf die aus der Erfahrung gewonnenen Kenntnisse. Bei der praktischen Umsetzung der oben skizzierten Gedanken beabsichtigten sie durchaus, auf der bestehenden Staatsordnung aufzubauen.
Trotz der Ablehnung der geistigen Lüge des Kommunismus, akzeptierten sie gleichzeitig die sowjetische Staatsstruktur als eine mögliche Basis für Eurasien. Nach der Beseitigung des kommunistischen Regimes, so meinten sie, könne man beim Aufbau des neuen Imperiums dessen föderativen Charakter beibehalten. Die in der eurasischen Union vereinigten Völker könnten ihr Wesen durch ihre Eigenartigkeit bereichern. Bei der Lektüre des eurasischen Manifests wird deutlich, welch eine passive Rolle den nichtrussischen Völkern zugeschrieben wird. Die russische Kultur blieb an erster Stelle. Ein Primus inter pares wie es Trubeckoj mal beruhigend bemerkte.
Mit ihren Wünschen und Projektionen richtete sich die Bewegung nach einem Eurasien. Ihr irdisches Wesen war aber an Europa gefesselt, das Ausgangs- und Bezugspunkt zugleich für ihre Auseinandersetzungen bildete. Um Europa einer Kritik zu unterziehen, musste auch seine zeitgenössische Gedankenwelt erschlossen werden. Hier lässt sich feststellen, dass es zwischen den beiden, den Eurasiern und Europa, gewisse Gemeinsamkeiten gab. So wird es beispielsweise auf die Ähnlichkeiten zwischen den Eurasiern und dem italienischen Faschismus hingewiesen. Als für die beiden Richtungen gemeinsame Elemente werden Antidemokratismus, Nationalismus, Ablehnung der jüngsten Vergangenheit und schließlich ihre elitäre Ausprägung genannt. Außer dem letzten Aspekt stehen die anderen zur Diskussion. Die Ablehnung der Demokratie war seitens der Eurasier nicht eindeutig. Zwar betonten sie die Verdorbenheit der westlichen Kultur, stellten den eigenen Entwurf aber durchaus als eine Art reformiertes demokratisches System vor. Auch war ihre Auffassung von Nationalismus nicht eindeutig. Letztlich waren die aktuellen Ereignisse in Russland für sie nicht zu unterschätzen, wenn sie nur als eine historische Reinigung interpretiert wurden. Erst nach dem vernichtenden Feuer der Revolution also, konnte man zu den Ursprüngen zurückkehren. Dies war ihr Schlüssel zur Erklärung des Zeitgeschehens.
Viel komplexer erweist sich der Vergleich mit der konservativen Revolution in Deutschland. Beide stellten eine Reaktion auf die angetroffene Realität dar. So wie für die Eurasier die russische Revolution ein Wendepunkt der Geschichte war, so war der Erste Weltkrieg für das Bewusstsein der konservativen Revolutionäre das am stärksten prägende Ereignis. Obwohl die Nation dabei niedergeschlagen wurde, habe der Krieg einen tieferen Sieg gehabt. Er sei unabdingbar wie ein Fegefeuer, nach dem der Eintritt in das Paradies erfolgt. Ob dieser positiven Wahrnehmung des Krieges benötigten sie für die Niederlage keine verschwörerischen Theorien, wie etwa die Dolchstoßlegende. In ähnlicher Weise setzten sich die Eurasier von den anderen Emigrantengruppen ab, die hinter der Revolution Juden oder Freimaurer als Drahtzieher vermuteten.
Auch andere Begriffe weisen gewisse Ähnlichkeiten auf. Die Nation definierte sich für die konservativen Revolutionäre über das deutsche Volk. Die Rede war von der nordischen Rasse und der sprachlichen Familie des Germanentums. Die deutsche Seele entstehe in einem organischen Prozess im Zusammenwirken von Pflanzen- und Tierwelt. Dies entspreche dem eurasischen Kulturtypus. Ein anderer wichtiger Begriff „Reich“ erinnert auch eindeutig an das russische „heilige Russland“.
Es kann also gesagt werden, dass es sich in den beiden Fällen um ein Ideengeflecht handelte, dass für das Europa der Zwischenkriegszeit charakteristisch war. Die scheinbar voneinander getrennten Welten und Konzepte gingen aus vergleichbaren Lebenserfahrungen hervor. Diese prägten auch das Ende der Bewegungen. Trotz dem höchst intellektuellen Niveau beider Konzepte kam es nie zur praktischen Anwendung. Dieser Intellektualismus war möglicherweise Ursache für die letztendliche Ohnmächtigkeit der Bewegungen.
Die Intellektuellen lebten in abgekapselten Welten. Weder die Eurasier noch die konservativen Revolutionäre unterließen es, das Aufgehen des Einzelnen in der Volksgemeinschaft zu verkünden. Ganz im Widerspruch dazu strebten sie jedoch selber nie danach, mit diesem Volk in Berührung zu kommen. Während in den Kabinetten der Gelehrten die Ideen sprudelten, lebten die Völker ihr eigenes Leben nach einer eigenen Dynamik. Die sowjetische und die nationalsozialistische Propaganda gab ihnen eine Identifikationsmöglichkeit, die mit einer praktischen Dimension untermauert wurde. Es gewannen die totalitären Ideologien. Die geistigen Eliten konnten sich lediglich anpassen oder sich in die innere Emigration begeben. Das zeigt das Beispiel der russischen Heimkehrer oder derjenigen deutschen Intellektuellen, die mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Hiermit ist die Frage nach der Verantwortung der elitären Gedankenspiele für die Entstehung der totalitären Systeme legitim.

Paula Gulinska ist polnische Studentin der Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina, sie wohnt in Frankfurt/Oder. 1 Um nur einige Titel zu nennen: „Limonka“, „Zavtra“, „Pravoslavnyj angel“, „Evrazijskoe obozrenie“ u.a.
2 Sei es etwa die Kommunistische Partei Russlands von Genadij Zuganov, die Liberal-Demokratische Partei von Vladimir Zirinovskij oder die Russische Nationale Einheit, auch genannt „Barkašovcy“, nach ihrem Gründer Aleksandr Barkašov.
3 Um sich von der Aktivität der Eurasier zu überzeugen, reicht es, ins Internet zu schauen. Der Name Dugin ist dort omnipräsent, sein Verlag „Arctogaia“ kümmert sich um Gewinnung neuer Anhänger und stellt seine zahlreichen Publikationen dem Seitebesucher zur Verfügung. Die Titel der Bücher sagen auch viel über die ideologische Ausrichtung des Verfassers; s. etwa „Osnovy geopolitiki“ (Grundlagen der Geopolitik), „Absoljutnaja Rodina“ (Absolute Heimat), „Konspirologia“ (Konspirologie), „Naš put’“ (Unser Weg), „Misterii Evrazii“ (Mysterien Eurasiens) u.a.
4 Ihre Zahl wird in der Fachliteratur unterschiedlich eingeschätzt und variiert zwischen 860.000 bis 2 Millionen.
5 In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre kam es zu mehreren Konflikten. 1928 verließ Florovskij die Bewegung, weil er mit ihrer zunehmenden Politisierung nicht einverstanden war. 1929 kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Savickij und Suvèinskij um die Reinheit der Lehre, die zu einer Spaltung führte. Die nächsten Jahre waren durch Auflösungserscheinungen geprägt. Als ein symbolisches Datum, das das Ende der Bewegung markiert, gilt aber erst das Jahr 1938, das Todesjahr Trubeckojs.

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