ZWEI MAL „GO WEST“ – JUNGE OSTDEUTSCHE GEHEN IN DEN WESTEN

Ein Vergleich der Motive in den 50er und 90er Jahren

von Jörg Roesler
aus telegraph #108

Die Fünfziger Jahre — „Flucht“
Zwischen 1951 und 1961 belief sich die Zahl derjenigen, die die DDR verließen, auf 150.000 bis 350.000 jährlich. Weit mehr als 90 % dieser Migranten siedelten in die Bundesrepublik über.
Der Anteil der Jugendlichen aus der DDR an den „Westwanderern“ war relativ groß. Er lag deutlich über dem Anteil von 15,2 % , den die westdeutsche Statistik gemäß Bundesnotaufnahmegesetz (NAG) für die Jahre 1950 bis 1961 unter der Rubrik der wegen „Jugendlichkeit bzw. Fürsorge“ Aufgenommenen DDR-Bürger auswies. Denn diese Rubrik erfasste nur die „alleinstehenden Jugendlichen“, also all jene minderjährigen, d.h. unter 21 Jahre alten „Zonenflüchtlinge“, die nicht zusammen mit ihren Eltern in die Bundesrepublik kamen bzw. dort keine Verwandten ersten Grades besaßen.
Nach bundesdeutschen Angaben betrug der tatsächliche Anteil der Kinder, Schüler und Studenten an den Zuwanderern aus der DDR in den 50er Jahren 34 %. In dieser Zahl sind allerdings die Lehrlinge und Jungfacharbeiter noch nicht enthalten. Der Anteil der bis zu 25-jährigen wurde für den Zeitraum Januar 1952 bis August 1960 vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen mit 50,2 % angegeben. Legt man diesen Prozentsatz der Zahl der Antragsteller für das NAG zugrunde, dann haben insgesamt 1,35 Mill. Ostdeutsche, die jünger als 25 Jahre waren, zwischen 1950 und 1961 die DDR verlassen. Die DDR-Volkszählung von 1950 wies einen Anteil der bis 25-Jährigen an der Bevölkerung von 31%. aus. Die Jugendlichen und jungen Leute waren also unter den Migranten deutlich überrepräsentiert.
Bemerkenswert ist, dass der Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den politisch ruhigen Jahren (1955-1957) deutlich höher lag, als in den durch den Aufstand vom 17. Juni bzw. die Vollkollektivierung in der Landwirtschaft geprägten Jahren 1953 bzw. 1960. Das weist schon darauf hin, dass die bis heute aufrecht erhaltene Erklärung des Westens, die Ausreisen seien auf „Repressalien des kommunistischen Regimes, auf Enteignungen und Verstaatlichungen“ zurückzuführen, „die viele Ostdeutsche ihr Heil im Westen suchen, ließe,“ zumindest einseitig ist.
Aber auch die der in der Presse der Bundesrepublik gern propagierten These von der „Abstimmung mit den Füßen“ entgegengesetzte Behauptung der DDR-Regierung ,die „Republikflucht“ sei die „Abwerbung“ ostdeutscher Arbeitskräfte durch westdeutsche Konzernzentralen zurückzuführen, war recht einseitig. Insbesondere traf sie kaum auf die Jugendlichen zu. Zwar gab es ab Mitte der 50er Jahre in der Bundesrepublik erste deutliche Anzeichen einer Arbeitskräfteverknappung. Die aber betraf qualifiziertes Personal, vom Facharbeiter bis zum Ingenieur und Techniker. Noch in der Ausbildung befindliche Jugendliche oder Jungfacharbeiter waren auf keinen Fall das Ziel von „Head Hunters“.

So sehr die SED-Spitze auch die „Abwerbethese“ in der Propaganda vertrat, so sehr war man sich in der Parteiführung doch bewusst, dass dies nicht die ganze Wahrheit war.
Darüber hinaus war man sich „oben“ durchaus über die vorwiegend wirtschaftlich geprägte Motivation der von ihr als „Republikflucht“ ebenfalls zu einem Politikum erhobenen Westwanderung klar. Auf einer Sitzung der „Kommission zu den Fragen der Republikflucht“ im November 1956 wurde intern unumwunden zugegeben: „Die Mehrheit derjenigen, die die Deutsche Demokratische Republik verlassen, tun das nicht deshalb, weil sie mit unserer Ordnung nicht einverstanden sind, sondern vor allem aus ökonomischen und anderen Ursachen heraus. Sie flüchten also nicht, sondern reisen aus. „Der Wunsch, sich die größeren Möglichkeiten, die der Westen hinsichtlich Verdienst, Konsum und Freizeitgestaltung im Vergleich zur DDR bot zu Nutze zu machen, waren als Argument bei Erwachsenen wie jugendlichen Republikflüchtigen zweifellos dominierend. Die Zahl der in der Bundesrepublik anerkannten politischen Flüchtlinge, lag gemäß NAG-Statistik während der 50er Jahre im Durchschnitt nicht höher als 14 %. Der im Vergleich zu den erwachsenen „Republikflüchtigen“ relativ hohe Anteil der Jugendlichen lässt sich wohl vor allem daraus erklären, dass sie familiär noch vergleichsweise ungebunden waren, was dem Einzelnen das „Abhauen“ zweifellos erleichtert hat.
Mitte der 50erJahre, als der Anteil der Jugendlichen, die in den Westen gingen, besonders hoch war, entsprach die Bundesrepublik allerdings noch nicht den heutigen Klischeevorstellungen vom Wirtschaftswunderland. Erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre sank die Arbeitslosenquote unter die fünf Prozent. Noch 1959 waren über eine halbe Millionen Bundesbürger arbeitslos. „Noch wurde in der Bundesrepublik viel gespart, noch war das Kaufen auf Kredit mit einem schlechten Gewissen behaftet“. Erst zum Ende der 50er Jahre „musste nicht mehr mit dem Pfennig gerechnet werden, war das sparsame Wirtschaften, das Auskommen mit dem Wenigen nicht mehr unabdingbar, entfielen die strukturellen Zwänge des materiellen Eingeschränktseins und die Begrenzung von Entfaltungsmöglichkeiten,“ schreibt der Sozialhistoriker Wildt über das Leben der westdeutschen Arbeiter im ersten Jahrzehnt des Wirtschaftwunders. Hinzu kam: Wer wenig qualifiziert war, hatte in der Bundesrepublik geringere Chancen, der Arbeitslosigkeit auszuweichen und war schon immer in der Bundesrepublik vergleichsweise „arm dran“.
Enttäuschung war bei einem Teil der von den Osten in den Westen gegangenen Jugendlichen so vorprogrammiert und mancher junge „Republikflüchtige“ brach seine kaum aufgeschlagenen Zelte im Westen unwillig wieder ab. Das zuzugeben, war für den Westen peinlich, denn er war ganz auf die Westwanderung als Ergebnis einer „Abstimmung mit den Füßen“ eingerichtet. „Sie finden keinen Anschluss. Plötzlich allein in der Großstadt.“ Versuchte die „Welt“ Mitte Mai 1955 die Rückwanderung Jugendlicher in den Osten möglichst harmlos mit Hilfe der Vorstellung von den „unerfahrenen Mädchen und Jungen vom platten Land“ zu erklären, die die „Zonenflüchtlinge“ angeblich seien. Der „Rheinische Merkur“ hatte schon im Monat zuvor auf dieser Klaviatur gespielt, als er unter der Überschrift: „Enttäuschte Glückssucher. Warum wandern viele Jugendliche in die Sowjetzone zurück?“ so argumentierte: „Die mangelnde ‚Gebrauchsanweisung für die westliche Welt’ sowie das Unverständnis der an Illusionen und Vorurteilen befangenen Jugendlichen aus der SBZ verschieben das Urteil der labilen Menschen über die Zustände, denen sie vor längerer oder kürzerer Zeit entflohen sind, oft so vollständig, dass rückblickend ein ganz anders Bild der SBZ entsteht; stark von persönlichen Gefühlsmomenten getönt, erscheint dem Verzweifelten der sowjetisierte Osten als das weit geringere Übel.“ Lediglich eine interne Studie des „Deutschen Industrieinstituts“ vom März 1956 wurde deutlich: „Sehen wir die Zonenflucht als einen Ausdruck des politischen Protestes an, so können wir es uns nicht leisten, dass aus einem ähnlichen Protest gegen die Ordnung oder Unordnung der westlichen Welt jeder 4. jugendliche Flüchtling als reumütig bekehrter, ehemalig politisch Zweifelnder in die Sowjetzone zurückgeht.“
Das Bonner Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen, dessen Bürokraten derartige Studien von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen hatten, beauftragte daraufhin 1957 das Meinungsforschungsinstitut „infratest“ mit einer Untersuchung über die Integrationschancen und -probleme junger Flüchtlinge aus der DDR. Es handelt sich – nach Aussagen der Fachleute – um eine, die „zum Besten gehört, was über diese Zeit existiert“. Ingesamt 558 Personen (35 % davon waren Mädchen), die im Alter von 15 bis 24 Jahren die DDR in den Jahren 1954 –1956 verlassen hatten, wurden mindestens neun Monate nach ihrer Zuwanderung befragt. Mit ihrer beruflichen Eingliederung zufrieden war gut ein Drittel. Ein weiteres Drittel gab an, kleinere Schwierigkeiten im Beruf zu haben. Die restlichen ca. 30 % waren beruflich stark unzufrieden oder arbeitslos bzw. konnten sich beruflich überhaupt nicht zurecht finden. Die „infratest“-Studie wies nach, dass ein Viertel der Jugendlichen keinen Kontakt in der neuen Umgebung fand oder doch große Kontaktschwierigkeiten hatte. Das sozialistische Gedankengut der jungen Zuwanderer war durch negative Erfahrungen mit dem kapitalistischen Alltag am Arbeitsplatz eher gestärkt als vergessen worden. Allerdings konnte „infratest“ dem auftraggebenden Ministerium zur Beruhigung mitteilen, dass nur bei 50 % der Befragten „Restbestände kommunistischer Propaganda“ vorhanden waren. Merkmale der sozialistischen Gesellschaft, die sie selbst erfahren hatten, wie soziale Leistungen und Bildungsförderung der DDR lobten die befragten Jugendlichen dagegen fast alle. Die soziale Isolation war ein wesentliches Motiv, warum manche von denen, die einst den Weg in den „goldenen Westen“ gesucht hatte, wieder zurückkehrten. Wer sich in der DDR wohler geführt hatte, das ergab der Text, hob insbesondere die persönlichen Beziehungen unter den Menschen dort hervor.
Ob diese Untersuchung für das Ministerium Anlass für intensivere Integrationsbemühungen für ostdeutsche Jugendliche war, ist nicht bekannt. Die Sozialhistorikerin Andrea Schmelz hat ausgerechnet, dass Jugendliche im Alter von 15 bis 25 Jahren unter den aus der Bundesrepublik in die DDR Zurückkehrenden 1957 einen Anteil von 52,1 % hatten und 1960 einen Anteil von 52,7 %.
Sicher dämpfte den Eifer die Tatsache, das – netto sozusagen – immer noch erheblich mehr aus dem Osten in den Westen ausreisten als umgekehrt. Ein Jahr später allerdings war die Zeit vorbei, in der, wie Egon Bahr es einmal salopp ausdrückte, aus der DDR „für 20 Pfennig mit der S-Bahn jeder weglaufen konnte“.

Die Neunziger Jahre — „Binnenwanderung“
Zwischen 1962 und 1988 war die Zahl der Migranten zwischen beiden Teilen Deutschlands gering. Setzten sich die innerdeutschen Wanderungen zwischen 1950 und 1961 aus knapp 3, 9 Millionen Fortzüge aus der DDR in die Bundesrepublik und 400.000 Zuzüge aus der BRD zusammen, so belief sich die Zahl der Fortzüge in die Bundesrepublik zwischen 1962 und 1988 auf insgesamt 626.000 und die Zahl der Zuzüge in die DDR auf 70.000. Da es sich auf Seiten der aus der DDR – im Unterschied zu den 50er Jahren –zum überwiegenden Teil um legale Ausreisen handelte, war auch die Alters- und Berufsstruktur eine andere als die der „Republikflüchtlinge“ der 50er Jahre. Der Anteil der Jugendlichen unter 25 Jahren lag nur noch zwischen einem Zehntel und einem Drittel, während der Anteil der über 65-Jährigen, der Rentner, im Vergleich zum Bevölkerungsanteil in der DDR überproportional hoch war.
Die „West-Ostwanderung“ im Jahre 1989 lag mit 5.135 über dem Durchschnitt. Diese Zahl hielt allerdings keinen Vergleich mit dem Ansteigen der Ost-Westwanderung im gleichen Jahr aus. Ab August 1989 nahm die in Zusammenhang mit der faktischen Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze und der Aktionen der „Botschaftsflüchtlinge“ die Zahl der Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik stark zu und erreichte im Monat der Maueröffnung, November 1989, mit 133.000 ihren Höhepunkt. Nach einem deutlichen Abfall im Dezember stieg die Zahl der Übersiedler im Januar 1990 noch einmal auf 74.000 an. Knapp die Hälfte (46 % ) der Ausreiser waren Kinder und Jugendliche unter 25 Jahren.

Die Zahl der Übersiedler, die auch 1990 noch bei fast 400.000 gelegen hatte, ging bis 1992 auf fast die Hälfte zurück und bewegte sich in den Jahren 1992 bis 1997 zwischen 72.000 und 166.000 jährlich. Da gleichzeitig die Zahl der West-Ost-Migranten anstieg, sank der Bevölkerungsverlust in Ostdeutschland deutlich ab. Die Anzahl der Personen, die in den Jahren 1993-1997 mehr in die alten Länder abwanderten als von dort in die neuen Länder kamen (Nettoabwanderung) hatte sich 1991 auf 51.000 und 1992 auf 36.000 belaufen. Zusammen mit dem generellen Rückgang der (netto) Abwanderung in den Westen verringerte sich 1993-1997 auch die Zahl der Jugendlichen, die in die alten Länder (netto) abwanderten deutlich und belief sich in den Jahren 1993 bis 1997 jährlich auf 7-10.000. Die „Wanderungsbewegung“ hatte sich offensichtlich wieder normalisiert.
Die Motivationsstruktur der Ost-West-Wanderer hatte sich gegenüber 1990/92 verändert, genauer: auf zwei ökonomische bzw. soziale Gründe verengt: Arbeitslosigkeit und die Verdienstdifferenz. Die noch Anfang der 90er Jahre relativ häufig genannten Gründe für die Westwanderung – schlechte Wohnverhältnisse und Umweltverschmutzung – tauchten später kaum noch auf. Auch das Ende 1992 noch angegebene politische Motiv, die Furcht vor Benachteiligung durch „alte Seilschaften“ im Osten, hatte sich weitgehend verflüchtigt.
So ist es nicht verwunderlich, dass für das erneute Ansteigen der West-Ost-Wanderung ab 1998 bis zur Gegenwart vor allem wirtschaftliche und soziale Motive benannt werden. Als wichtigste Motive für den Ortwechsel Richtung Westen wurden in einer repräsentativen Umfrage unter Berufstätigen „keine Arbeit und fehlende Ausbildungsplätze“ (56%) sowie „bessere Lebensbedingungen“, eingeschlossen ein höheres Einkommen und bessere Zukunftschancen genannt (24 %).
Familienzusammenführung gaben als Motiv 27 % der Befragten an. Deren Notwendigkeit ergab sich Ende der 90er Jahre in der Regel bereits als Sekundärfolge aus der Abwanderung einzelner Familienmitglieder in den Westen 1989 und Anfang der 90er Jahre. Bei gelungener beruflicher Integration zogen sie den früher ausgewanderten Familienangehörigen nach.
Wirtschaftliche Motive überwogen , wie wir gesehen haben, auch in den 50er Jahren. Allerdings war Arbeitslosigkeit bestenfalls zu deren Beginn, als 50.000 Jugendliche in der DDR eine Arbeit suchten, Anlass zur Westwanderung. Eine direkte Parallele zu den 50er Jahren besteht nur in der Lohndifferenz als Abwanderungsmotiv. Die Zahl der Fortzüge aus dem Osten ist unter dem sozialen Motivationsdruck seit 1997 von Jahr zu Jahr angestiegen und überschritt im Jahre 2000 deutlich die zweihunderttausend (214.000). Noch schneller als die Bruttozahlen stiegen die Netto-Wanderungsverluste der neuen Länder erneut an. Zwischen 1997 und 2000 erhöhten sie sich um das 6-fache. Unter den Übersiedlern wuchs der Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen überdurchschnittlich. Stellten 1996 die 18-29-Jährigen 42 % der „Auswanderer“, so waren es im Jahre 2000 bereits 54%.
Dass es sich nicht um eine zu pessimistische Beurteilung der Lage in den neuen Bundesländern durch deren Bewohner handelte, wird daran deutlich, dass erstens die erneute Zunahme der Westwanderung zeitlich nahezu identisch war mit einem erneuten Auseinanderklaffen der Schere wirtschaftlichen Wachstums zwischen Ost und West, das 1997 eingesetzt hatte und sich seit dem Jahr für Jahr fortsetzt. Zweitens lag das Bruttoeinkommen der Ostdeutschen 2000 bei nur 77% des westdeutschen Niveaus und war gegenüber 1997 (76 %) nur sehr langsam angestiegen. Drittens war die Arbeitslosenquote, die 1997 im Osten 17,3 % betragen und im Westen bei 9, 4 % gelegen hatte, bis zum Jahre 2000 im Westen gesunken (7,8%). Im Osten blieb sie dagegen (trotz Abwanderer und Pendler!) auf ihrem hohen Niveau (17,2 %). Am Ausgang des ersten Jahrzehnts der Einheit hatten mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen in den neuen Länder Arbeitslosigkeit an bereits am eigenen Leibe erfahren. Die 90er Jahre hatten genau das nicht gebracht, was Kanzler Kohl als Wahlkämpfer im März 1990 den Ostdeutschen versprochen hatte – einen gleichen Wohlstand wie im Westen auch im Osten infolge der Währungsunion, der die Abwanderung aus dem Osten überflüssig machen würde.
Auch für den Anstieg der Zahl der den Osten verlassenden Jugendlichen von 64.400 auf 82.000 innerhalb von vier Jahren (1996-1999) existierten vor allem soziale Gründe. Selbst in einem minder betroffenen ostdeutschen Land wie Thüringen lag laut offiziellen Angaben die Jugendarbeitslosigkeit 2001 bei 13 % (in Sachsen-Anhalt und Brandenburg bei über 15%). Obwohl 15.800 Jugendlichen in Trainings-, Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen teilnahmen und damit die Statistik entlasteten, ohne wirklich einen Arbeitsplatz zu haben, der ihnen einen sicheren Lebensunterhalt und eine Perspektive sicherte, belief sich die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen auf 26.000. Für noch nicht einmal die Hälfte der Schulabgänger des Jahrgangs stand ein betrieblicher Ausbildungsplatz bereit. Unter den mehr als 10.000 jugendlichen Sozialhilfeempfängern zwischen 15 und 25 Jahren verfügte die Hälfte über keinen Berufsabschluss.
„Es ist immer das Gleiche“, hieß es in einer Reportage des „Tagesspiegel“ über die Jugendlichen in Wittenberg, einer Stadt mittlerer Größe in Sachsen-Anhalt. „Erst schreiben sie Dutzend Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz und ahnen dabei schon, dass höchstens auf jede zehnte eine Antwort kommt. Dann nimmt man ihnen schon beim Vorstellungsgespräch jede Hoffnung auf einen festen Job nach der Ausbildungszeit. Ob die Aufträge bis dahin reichen, ob der Stammbetrieb im Westen in ein paar Jahren überhaupt noch Interesse an seinem Wittenberger Standort hat? Allzu oft genügen den 18- bis 20-Jährigen solche Zukunftsaussichten einfach nicht. Dann stehen sie am Bahnhof und nehmen den Zug in Richtung Westen. Sie gehen zum Kellnern nach Bayern, zum Schweißen nach Stuttgart. Sie schrauben Autos in Wolfsburg und bauen Straßen in Köln.“
Wie in den 50er Jahren liegt der Anteil der Jugendlichen unter den „Westwanderern“ auch deshalb anteilig über dem Durchschnitt, weil sie ungebundener sind. So erklärte ein 33-Jähriger Maschineneinrichter, befragt, ob er nach der bekannt gegebenen Entscheidung des Tabakkonzerns Reemtsma, seinen nach 1990 erworbenen Filialbetrieb aus Nordhausen am Harz nach Hannover, also von den neuen in die alten Bundesländer zu verlegen, im Osten bleiben werde? „Hier ist doch nichts mehr zu holen. Ich gehen nach Hannover. Mich hält hier nichts. Keine Frau, kein Haus. Natürlich sind meine Eltern traurig. Aber ich bin doch nicht aus der Welt.“
So „cool“ wie der Entschluss, ein neues Leben im Westen zu beginnen, oft gefasst wird, lässt er sich in der Regel nicht verwirklichen. „Nur mal kurz rüber, bisschen Geld verdienen und dann wieder heim“, haben viele ostdeutsche Jugendliche gedacht, als sie ihre Heimatstadt verließen. Im Westen gab und gibt es für sie – das ist nicht anders als in den 50er Jahren – Anpassungsprobleme und es lauert das Heimweh. In der Fremde wird vielen von ihnen ihre Heimatverbundenheit erst bewusst. Doch zu Hause erwartet sie nur die Arbeitslosigkeit.

Die Reaktionen der Medien und der Politik
Zur Kenntnis genommen wurde das Ende der „Normalisierung“ in der innerdeutschen Wanderungsbewegung von den bundesdeutschen Medien zunächst kaum. Der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ gelang noch im Januar 2003 das Kunststück, in einem der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland gewidmeten Artikel über die Ost-West-Wanderung zu behaupten. „Diese Wanderungsbewegung ist zum Stillstand gekommen“. Für die ostdeutschen überregionalen Zeitungen, vom „Neuen Deutschland“ bis zur „Super-Illu“ war die erneute Zunahme des „Rübermachens“ dagegen schon seit Ende der 90er Jahre ein wichtiges Thema. Der Westen wurde erst durch die vom Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse veröffentlichten „Fünf Thesen zur Vorbereitung eines Aktionsprogramms für Ostdeutschland“ Anfang 2001 aufgeschreckt. In seiner „ehrlichen Bestandsaufnahme“ hatte Thierse erklärt, dass „die wirtschaftliche und soziale Lage in Ostdeutschland auf der Kippe steht“ und die Jugendarbeitslosigkeit als „eines der gravierendsten Probleme in Ostdeutschland“ bezeichnet. Die Reaktion der Bundespolitiker schwankte zwischen ungläubig und verärgert. Bundeskanzler Schröder warf Thierse vor, er habe mit seinen Äußerungen „Empfindungen wiedergegeben, aber keine Daten“.
Seit etwa 2001 sind von Seiten der Politiker und von Wissenschaftlern der Bundesrepublik wiederholt Vorschläge gemacht worden, wie der Exodus insbesondere der jungen Leute aus dem Osten unter Ausschluss administrativer Mittel zu stoppen ist. Einige dieser Vorschläge sind sehr allgemein gehalten, andere gehen bis ins Detail. Teilweise widersprechen sie einander. Hat man sich einen Überblick verschafft, dann lassen sich diese Vorschläge in drei Gruppen einteilen:
Erstens werden Maßnahmen empfohlen, um den wirtschaftlichen Aufholprozess in den neuen Ländern, der sich seit 1997 ins Gegenteil verkehrt hat, wieder in Gang zu setzen. Denn es gilt: Je geringer der Abstand im Wirtschaftsniveau, desto mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und desto weniger Abwanderungsbereitschaft ist im Osten zu verzeichnen. Über die Frage, wie die Umkehr des fatalen Trends erreicht werden soll, haben insbesondere die Wirtschaftswissenschaftler unter den Politikern nachgedacht. „Mehr Investitionen in ein modernes Bildungssystem, in die Stärkung der Hochschullandschaft und der Forschung“, hat Christa Luft vorgeschlagen. Produzenten in Ostdeutschland „mit typisch überregional handelbaren Waren und Dienstleistungen erhalten ab sofort, befristet auf drei Jahre, degressiv erheblich höhere Investitionsanreize“, schlug 2001 der ehemalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Claus Noè vor. Ein Niedrigsteuergebiet zu schaffen lautete unlängst eine Forderung der FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper in der Debatte über die Regierungsbilanz 2002 zum Aufbau Ost. Das grundlegende Problem für die Verwirklichung dieser Vorschläge ist: Ihre Realisierung setzt Bundesmittel bzw. den Verzicht des Bundes auf Steuereinnahmen voraus. Unter neoliberalen Vorzeichen ist eine gezielte Zusatzfinanzierung Ost über die üblichen Transfers hinaus, ab 2005 im Solidarpakt II verankert, aber überhaupt nicht denkbar.
Eine zweite Gruppe von Vorschlägen will durch Angleichung der Lebensbedingungen in Ost und West den Abwanderungsdrang stoppen. Löhne und Gehälter generell oder doch wenigstes für Fachkräfte im Osten schneller dem Westniveau anzugleichen, ist der Kern dieser Forderungen. Gegen diese Vorschläge spricht die ohnehin schon prekäre wirtschaftliche Lage der kleinen und mittleren Unternehmen in Ostdeutschland, deren Kostenniveau weiter ansteigen würde.
Drittens soll die Abwanderung insbesondere von Jugendlichen durch die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze erreicht werden. „Künftig werden viele ostdeutsche Firmen in eine ‚demographische Falle’ laufen“, warnt der Hallenser Sozialwissenschaftler Burkhart Lutz. „Zum gleichen Zeitpunkt, da ein großer Teil der jetzigen Leistungsträger das Rentenalter erreicht, verlassen die sehr schwachen Nachwendejahrgänge die Schule. … Denkbar wäre, den Bedarf an Nachwuchskräften zeitlich vorzuziehen und junge Fachkräfte einstweilen als Urlaubsvertretung oder Springer zu nutzen. … Andere könnten zur weiteren Qualifizierung zu einer Partnerfirma im Westen oder ins Ausland geschickt werden. Denkbar wäre auch, den älteren Fach- und Führungskräften rechtzeitig – nach dem Tandemprinzip – eine Nachwuchskraft als zukünftigen Nachfolger an die Seite zu stellen.“
Viertens wurden Maßnahmen zur Senkung der Mobilität potentieller Abwanderer „mit ökonomischen Mitteln“ vorgeschlagen. Durch Investitionshilfen und Förderung der Selbständigkeit will der mecklenburg-vorpommersche Arbeitsminister Holter Jugendliche zum bleiben bewegen. Der Hallenser Wirtschaftsforscher Rosenfeld ist ebenfalls der Meinung, dass man „dafür sorgen muss, dass Menschen sich selbständig machen“. Die Problematik dieser Vorschläge liegt darin, dass selbst Kleinstunternehmen, wie „Getränkestände in Parks“ (Rosenberg) bei stagnierenden und schrumpfenden Märkten auf Dauer wenig Überlebenschancen haben.
Eine fünfte Gruppe von Vorschlägen bezieht sich auf das Verbot der Abwerbung von (potentiellen) Arbeitskräften aus Ostdeutschland mittels finanzieller Anreize seitens des Westens sowie die Zahlung von „Bleibeprämien“ im Osten und finanziellen Vergünstigungen, vor allem für diejenigen Studenten, die ein Studium in den neuen Bundesländern aufnehmen wollen. Harte Kritik rief in diesem Zusammenhang im Osten z.B. die von der Bundesanstalt für Arbeit organisierte Aktion „Jobs für Junge – Junge für Jobs“ hervor. Durch die Zahlung von Prämien bzw. die Übernahme der Umzugskosten sollten „Jungarbeiter aus strukturschwachen Regionen“ angeregt werden, sich in Bayern bzw. Baden-Württemberg Arbeit zu suchen. Für diejenigen, die im Rahmen dieser Kampagne das Mobilitätsangebot des örtlichen Arbeitsamtes ablehnten, wurden mit Kürzungen des Arbeitsgeldes bedroht.
Umgekehrt sind einige ostdeutsche Universitäten zur Zahlung von „Begrüßungsgeld“ an auswärtigen Studenten übergegangen (Magdeburg). Leipziger, Zittauer und Jenenser Hochschulen und Universitäten bieten Studenten billiges Wohnen in Universitätswohnheimen an, Weimar einen Mietzuschuss und die Universität Halle zahlt eine Umzugsaufwandsvergütung. Das Kalkül ist, dass ein Teil der Studenten nach Abschluss ihrer Studien im Osten bleibt.
Eine sechste Gruppe von Vorschlägen ist auf die Erleichterung der Rückwanderung von jungen Leuten gerichtet, die zwecks Ausbildung oder Arbeit in den Westen gegangen sind. „Rückkehrprämien“ in Höhe von 2.500 Euro wurden zu diesem Zweck in Sachsen vorgeschlagen, ein „Rückholagentur“ für Jugendliche ist in Mecklenburg-Vorpommern im Gespräch. „Die Koppelung von Mobilität mit verstärkter Heimatbindung“ sieht ein Vorschlag von Burkhart Lutz vor, hinter den sich auch Bundestagspräsident Thierse gestellt hat. „Wenn man schon die Abwanderung von jungen Menschen hinnehmen muss, um ihnen nicht die Chance zu nehmen, einen zukunftsträchtigen Beruf zu lernen und sich erfolgreich ins Erwerbsleben zu integrieren,“ heißt es bei Thierse, „dann sollte man die Bindung an die Heimat gleichzeitig fördern, um eine Rückkehr in einigen Jahren offen zu halten. Kommunen, Kreise aber auch Länder könnten mit Hilfe von Vereinen Kontakt halten, die Lausitzer, Prignitzer, Altmärker – wo auch immer im Westen – auf dem laufenden halten, was sich in der Heimat tut. … Gemeinden könnten jedem, der wieder zu Hause sesshaft werden will, kommunale Grundstücke anbieten. … Abgewanderte könnten für ihre Heimatregion werben, womöglich sogar bei mancher Ansiedlungsentscheidungen den Ausschlag geben.“
Wenn man von dem auch für die SED-Führung letzten Mittel, der Grenzschließung in Berlin absieht, dann sind in den 50er Jahren von der Zielrichtung her ähnliche Vorschläge auch von Seiten der DDR- Behörden gemacht worden, um ein personelles Ausbluten des Ostens zu verhindern. Um zusätzliche Anreize für westdeutsche Jugendliche zu schaffen, in die DDR zu kommen, wurden Mitte der 50er Jahre die Planzahlen für die Berufsausbildung erhöht, zusätzliche Studienplätze geschaffen und Wohnraum bereitgestellt. Im Jahre 1956 organisierte man in der DDR eine Rückkehrerkonferenz , auf der vorgeschlagen wurde „mit Hilfe von Verwandten und Freunden systematisch die Rückkehr zur organisieren, dafür ein Komitee zu bilden und dabei vor allem Rückkehrer selbst einzusetzen.“ Die wegen der großen „Wohlstandsdifferenz“ zwischen Ost und West besonders „republikfluchtgefährdeten“ Berufsgruppen der Intelligenz, vor allem Ärzte und Wissenschaftler, erhielten mit den Einzelverträgen spezifische materielle Vergünstigungen, um für sie die Einkommensunterschiede Ost-West teilweise einzuebnen, in der Hoffnung, dass sie dann weniger geneigt sein würden, die DDR zu verlassen.
All diese auf die Eindämmung bzw. Beseitigung des Nettoabflusses von Arbeitskräften aus der DDR gerichteten Maßnahmen war in den 50er Jahren bereits kurzfristig oder doch mittelfristig kein Erfolg beschieden, weshalb die SED-Diktatur schließlich zur Grenzsperrung in Berlin griff. Die immer wieder postulierte Überlegenheit des nunmehr in ganz Deutschland herrschenden demokratisch-marktwirtschaftlichen Systems wird sich in Zukunft auch daran zu messen haben, ob ihr für Ostdeutschland das gelingt, was die DDR-Regierung in den 50er Jahren vergeblich versuchte: Die Entvölkerung eines Drittels Deutschlands zu verhindern.

Prof. Dr. Jörg Roesler forscht über die Industrie der DDR und der osteuropäischen Staaten und ihrer Transformation seit 1990. Gastprofessuren in Liverpool, Montreal und Toronto.

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